Auktionsmarkt für Handzeichnungen

Triumph der Zeichenkunst

Auf dem Auktionsmarkt für Handzeichnungen alter Meister gehen einzelne Blätter in die Millionen – doch für charakteristische Arbeiten klangvoller Namen genügen meist vier- bis fünfstellige Summen

Von Stefan Weixler
31.07.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 12

„Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseyns zu lösen“, schrieb Arthur Schopenhauer 1844 in Die Welt als Wille und Vorstellung. „Denn in jedem Geiste, der sich ein Mal der rein objektiven Betrachtung der Welt hingiebt, ist ein Streben rege geworden, das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseyns, zu erfassen.“

Worte, wie gemünzt auf ein Allround-Genie, das mit Stift und Papier unaufhörlich den Mikro- wie den Makrokosmos analysierte: Leonardo da Vinci (1452–1519). Fast schon geplagt vom immerwährenden Erkenntnisdurst, schuf Leonardo über die Jahre hinweg eine universale Wort-Bild-Dokumentation seiner Forschungen. Bestehend aus Zigtausenden von Blättern, die Gegenstände aller Couleur assoziativ zusammenführten: Flora und Fauna, Geografie und Physik, Architektur und Kunst etc. pp. So entstand eine, wie Leonardo sagte, „Sammlung ohne Ordnung“, aus der vielleicht einmal eine Enzyklopädie des Wissens hervorgehen sollte – irgendwann. Die dann aber doch für alle Zeiten fuzzy blieb, weil sich der Künstler bei seiner Arbeit nämlich buchstäblich verzettelte. Aber gerade als kreuz und quer miteinander verlinkte Zettelwirtschaft, mit deren Hilfe Leonardo existenzielle Muster gefühlslogisch zu erkennen suchte, ist das Papierwerk ganz besonders aufschlussreich. Denn es lässt uns seine Gedanken lesen, Assoziationen nachvollziehen. Insofern hat sich Bill Gates, als er 1994 bei Christie’s New York für 31,8 Millionen Dollar den 72-seitigen „Codex Leicester“ mit Texten und Zeichnungen zum Thema Wasser, Gestein, Luft, Licht etc. ersteigerte, einen Blick in „Leonardos Lab“ gekauft. Was wollte man mehr …

Leonardo Bär Zeichnung Christie's
Leonardos (1452–1519) „Bär“ besaß sämtliche Voraussetzungen, um einen Sensationspreis zu erzielen – und tatsächlich landete die winzige Silberstiftzeichnung am 8. Juli 2021 bei Christie’s in London auch bei hervorragenden 7,5 Millionen Pfund: Künstlerrekord im Bereich der Einzelblätter © Christie’s Images Ltd.

Am 8. Juli dieses Jahres offerierte Christie’s in London ein winziges Tierporträt aus Leonardos Studio, eines der letzten Blätter des Künstlers in privater Hand. Der charmante Bärenkopf, der sich zuletzt in der Leiden Collection des Ehepaars Kaplan befand und früher der schillernden Sammlung des englischen Hofmalers Sir Thomas Lawrence (1769–1830) angehörte, ist mit Silberstift auf rosa-beige präpariertes Papier gebracht worden – und damit zweifellos ein Frühwerk. Denn nach 1490 hatte Leonardo – wie das Gros seiner Kollegen – bald keine Lust mehr auf die vorbereitungsintensiven, korrekturresistenten, ergo überaus langatmigen „lineas ex argento“ aus spätgotischer Tradition. Gefragt war schließlich keine Andacht mehr im Angesicht der Ewigkeit, sondern ein schneller Strich auf der Jagd nach dem Diesseits.

Vermutlich stammt die sichtbar aus einem größeren Zusammenhang geschnittene Studie, der ähnliche Blätter Leonardos mit Hunden, Katzen und Bären zugeordnet werden können, aus einem gefledderten Skizzenbuch der 1480er-Jahre, das – anders als etwa mittelalterliche Bestiarien – der realen Fauna nachspürte. Und gerade der damals in ganz Norditalien beheimatete Bär interessierte Leonardo auch von einem anatomischen Gesichtspunkt aus – wie die kurz vor 1490 entstandene Zeichnung einer sezierten Tatze in der Royal Collection demonstriert. Denn das Tier war Sohlengänger wie der Mensch.

Kurz und gut: Der kleine Ursus besaß sämtliche Voraussetzungen, um einen Sensationspreis zu erzielen: Authentizität, Rarität, Charisma, einen festen Platz im Leonardo-Universum und schillernde Provenienz. Und tatsächlich landete er auch nach kurzem Bietgeplänkel bei hervorragenden 7,5 Millionen Pfund: Künstlerrekord im Bereich der Einzelblätter – zumindest in absoluten Zahlen. Denn hinter den 7,4 Millionen Pfund, die im Juli 2001 – als die Währung deutlich stärker war – für Leonardos atemberaubende Silberstiftzeichnung „Pferd und Reiter“ bei Christie’s bewilligt wurden, steckte die Kaufkraft von heutigen 12 Millionen.

Am Ende verließ der frischgebackene Star, wie es aussah, auch leicht verschämt die Auktionsbühne. Trotz seiner Top-Performance war er nämlich hinter den Erwartungen des Hauses zurückgeblieben, die zwischen 8 und 12 Millionen Pfund gelegen hatten. Weil er in einem fachfremden „Exceptional Sale“ inmitten von Möbeln, Uhren und Silber zum Aufruf gekommen war, fehlte ihm zudem seine Community. Und natürlich bewirkten nicht zuletzt die Covid-19-Hygieneauflagen – der halbvolle (halbleere?) Saal, die stummen digitalen Viewer, die einsame Auktionatorin –, „that the bear really looked lost“! Womit das große Handicap des Jahres angesprochen ist: die Pandemie …

Hubert Robert Zeichnung alte Meister Artcurial
Hubert Roberts (1733–1808) delikate Rötel-Zeichnung „Pärchen im Park“ war am 9. Juni 2021 bei Artcurial in Paris für taxgerechte 30.000 Euro zu haben – eine seiner typischen Idyllen, die in ihrer raffinierten Formvollendung die chronische Fatigue des späten 18. Jahrhunderts atmen. © Artcurial, Paris

Das Virus hat den globalen Kunstmarkt in fast allen Sparten einbrechen lassen. Bei den Altmeisterzeichnungen gingen die Umsätze, Artprice zufolge, im ersten Pandemiejahr um rund 25 Prozent zurück. Aber die gute Nachricht lautet: Der Kurs der Papierarbeiten steigt nach Einbrüchen im 2. und 3. Quartal 2020 offenbar bereits wieder an. Und so markiert das top bewertete Leonardo-Blatt – das paradoxerweise gerade den im Börsenjargon mit einer Baisse assoziierten Bären zeigt – womöglich den Beginn eines Bullen-Markts, in dem dominante Optimisten eine Hausse herbeiführen. Schön wäre das natürlich …

Doch SARS-CoV-2 bleibt unberechenbar. Und der Markt der Altmeisterzeichnungen bleibt es auch. Aber nicht nur wegen SARS-CoV-2. Sondern vor allem darum, weil sich aufgrund der prinzipiellen Hilfsfunktion der Blätter innerhalb anonymer Kreativprozesse auf die preisrelevanten W-Fragen leider wenig verbriefte Antworten überliefert haben. Wer? Wann? Wo? Warum? Wozu? Das Urteil fällt meist erst in einem aufwendigen Indizienprozess über mehrere Instanzen – und ist natürlich immer wieder anfechtbar. Tricky, aber unverschämt reizvoll. Denn so ist die Szene reich an Überraschungen.

Jüngst konnte beispielsweise eine dem Bildhauer Pierre Puget (1620–1694) addizierte Rötelzeichnung aus nordfranzösischem Privatbesitz seinem Kollegen Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) zugeordnet werden, von dem sich eine gute Handvoll gestalterisch und technisch vergleichbarer Arbeiten über die Museen der Welt verteilt. Der „Akt eines sitzenden Mannes“, ein entfernter Verwandter der Flussgottheiten Berninis am Vierströmebrunnen auf der römischen Piazza Navona, kletterte am 20. März bei Actéon in Compiègne von 30.000 auf 1,55 Millionen Euro.

Fra Bartolommeo Zeichnung alte Meister Frauenkopf
Sotheby’s realisierte am 27. Januar 2021 in New York für eine wunderbar hingehauchte Kopfstudie Fra Bartolommeos (1472–1517) 130.000 Dollar – das Blatt ist ein früher Triumph der Zeichenkunst mit verschiedenfarbigen Kreiden, die zu Beginn der Hochrenaissance den harten Silberstift aus spätgotischer Tradition zunehmend in Vergessenheit geraten ließen. © Sotheby’s, New York

Auch ein mit roter, schwarzer und weißer Kreide entstandenes Frauenbildnis, das Sotheby’s am 27. Januar in New York offerierte, hatte lange unerkannt in einer privaten Sammlung geschlummert – ehe es als Werk Fra Bartolommeos (1472–1517) erkannt wurde. Die mutmaßlich um 1515 in Vorbereitung auf ein Madonnengemälde entstandene, wunderbar hingehauchte Kopfstudie ist ein früher Triumph der Zeichenkunst mit weichen Stengeln, die den harten Silberstift zunehmend in Vergessenheit geraten ließen. Und so stieg das Los, das deutliche Bezüge zu Bartolommeo-Blättern im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam aufweist, von 45.000 auf 130.000 Dollar.

Solch unvermutete Turnarounds sind im Markt der Altmeisterzeichnungen das Salz in der Suppe einer Gesamtofferte, die überproportional viele Angebote mit einem erstaunlich guten Preis-Leistungs-Verhältnis aufweist. So ist für charakteristische Arbeiten klangvoller Namen meist nur eine Investition in vier- bis fünfstelliger Höhe erforderlich.

68.000 Euro benötigte man beispielsweise, um am 27. November bei Bassenge in Berlin den mit 6000 Euro veranschlagten „Dessinateur“ von Jean Siméon Chardin (1699–1779) zu ersteigern – ein laviertes Blatt mit Feder in braun, das die akademische Zeichenübung im doppelten Wortsinn als „Kreuz des Künstlers“ inszeniert. Lempertz gab Federico Baroccis (1526/1535–1612) „Haupt Christi mit Dornenkrone“ am 14. November in Köln bei 36.000 Euro ab, das der Wegbereiter des Barock in seiner typischen Manier unter Zuhilfenahme der Finger mit farbigen Pastellkreiden auf getöntes Papier gewischt hat. Und auch Hubert Roberts (1733–1808) delikate Rötel-Zeichnung „Pärchen im Park“ war am 9. Juni bei Artcurial in Paris bereits für taxgerechte 30.000 Euro zu haben – eine seiner typischen Idyllen, die in ihrer raffinierten Formvollendung die chronische Fatigue des späten 18. Jahrhunderts atmen.

Jean Siméon Chardin Federzeichnung Bassenge alte Meister
68.000 Euro benötigte man am 27. November 2020 bei Bassenge in Berlin, um den mit 6000 Euro veranschlagten „Dessinateur“ von Jean Siméon Chardin (1699–1779) zu ersteigern – ein laviertes Blatt mit Feder in braun, das die akademische Zeichenübung im doppelten Wortsinn als „Kreuz des Künstlers“ inszeniert. © Bassenge, Berlin

Keine Einzelfälle. Karl & Faber schlug am 16. Juni in München bei 10.000 Euro ein aquarelliertes Stillleben Jan van Huysums (1682–1749) zu. Für einen Entwurf zum „Raub der Proserpina“ von Georg Raphael Donner (1693–1741) brauchte man am 24. September bei Neumeister in München nur 9500 Euro. Und diese Summe reichte auch, um sich am 22. April im Wiener Dorotheum Rosalba Carrieras (1675–1757) „Porträt einer jungen Frau als Muse“ zu sichern, das mit brauner Feder wohl eines ihrer in ganz Europa gefragten Pastellbildnisse vorbereiten sollte.

Bei Blättern namenloser oder unbekannter Künstler reichen in der Regel sogar schon ein paar Tausender zum Erwerb von Niveau, das sich in der Durchschnittsware versteckt. Bassenge etwa offerierte am 11. Juni ein außerordentlich souverän mit dem Rötel ins Bild gesetztes, vielleicht in Bologna entstandenes „Ecce-Homo“ des 18. Jahrhunderts, das für knapp 2500 Euro wegging. Koller veräußerte am 25. September in Zürich für etwas mehr als 2000 Franken eine „Heilige Familie“ aus dem Umkreis des „Frühkubisten“ Luca Cambiaso (1527–1585). Karl & Faber setzte am 14. November ein atmosphärisches Blatt Jan van Akens (1614–1661) mit einem „Reiter in bergiger Landschaft“ für 1500 Euro ab.

Stars gab es viele, in einem Angebot vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Auch viele heimliche, die nicht durch Zahlen, Daten, Fakten glänzten. Investition, Spekulation oder einfach nur Kauf nach interesselosem Wohlgefallen: Zwischen vier und sieben Stellen war hier alles möglich.

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