Auktion bei Irene Lehr

Skandalöse Welten

Bei Irene Lehr kommen Werke von Bellmer, Schlichter und Gröszer zum Aufruf. Alle drei Künstler eint ein gewisser Hang zur altdeutschen Malerei und ihr Status als Außenseiter

Von Ivo Kranzfelder
25.10.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 17

Seine bekanntesten Arbeiten sind die zwei Fotoserien der „Puppe“. Die Anfänge von Hans Bellmer (1902 – 1975) lagen jedoch im Berliner Dada. 1923 bis 1925 studierte er in der Stadt halbherzig Mathematik und Elektrotechnik, bewegte sich im Kreis um John Heartfield, Rudolf Schlichter und George Grosz, der nicht nur sein Zeichentalent erkannte und förderte, sondern ihm auch einen Job als Typograf und Illustrator beim Malik Verlag von Wieland Herzfelde verschaffte.

Von Bellmers frühen Arbeiten aus den Zwanzigerjahren, die sich sowohl an den Berliner Veristen orientierten als auch an Toulouse-Lautrec oder Jules Pascin – nicht zu vergessen sein Interesse für Beardsley und Félicien Rops – ist leider nichts mehr erhalten, außer einigen Eindrücken auf Fotografien. Prägend für ihn war auch die Zeichenkunst altdeutscher Tradition, die er in einem Brief an Patrick Waldberg folgendermaßen beschrieb: „Zwischen dem Lyrismus von Altdorfers Leichthändigkeit und Hans Baldungs schmerzlichem und starrköpfigem Willen eines Hölleningenieurs schien mir meine schicksalhafte Verwandtschaft mit dem letzteren von vornherein ausgemacht, ohne deshalb meine – sagen wir hoffnungslose – Liebe zu Altdorfers Zauberhand zu schmälern.“

Hans Bellmer, Aquatintaradierung, Irene Lehr Auktion
Hans Bellmers farbige Aquatintaradierung „Le bon sens“ aus dem Jahr 1964 ist auf 800 Euro geschätzt. © Irene Lehr, Berlin

Die Entdeckung des Sujets der Puppe – des in Mythologie und Kunst von der Antike bis in die Gegenwart dargestellten Menschenersatzes, zerlegbar und wieder neu zusammensetzbar – führte in Verbindung mit dem in der Romantik wurzelnden, auf Freud beruhenden und für die Surrealisten zentralen Thema des Triebs zu einem einzigartigen Werk. Einem Werk, das in immer neuen Variationen sämtliche Möglichkeiten der Anatomie des körperlichen Unbewussten auslotete, wie ein komplexer Text Bellmers betitelt ist. Letztlich steckt dahinter die Sehnsucht nach einem androgynen, hermaphroditischen Urzustand. Nach der Überwindung der Trennung, wie sie Zeus im von Aristophanes in Platons Symposion erzählten Urmythos am Kugelmenschen vorgenommen hat. Die Hybris war auch da der Sündenfall.

Weitere Bezüge zu de Sade oder George Bataille – literarisch – oder zu kultischen Kunstwerken wie der sogenannten Diana von Ephesus und die explizite Ausgestaltung dieser Phantasmagorien führten insgesamt zu einer – trotz zweimaliger Documenta-Teilnahme – eher verschämten Behandlung des Bellmer’schen Œuvres (von punktuellen Ausnahmen abgesehenen). Peter Gorsen hat betont, es sei hier „nicht von Kunst oder von künstlerischer Rechtfertigung eines dem erotischen Fetischismus hingegebenen Werkes die Rede; statt dessen wird das riskante androgyne Denken dieser Persönlichkeit ins hellste Licht gerückt. Es ist ein Denken, das an der Grenze zur Auflösung der Ichidentität operiert und das, mit einer besonderen Sensibilität für das Schizophrene ausgerüstet, dem Formgesetz des Lebenswerks von Anfang an eingeschrieben war.“

Rudolf Schlichter, Speedy mit Katze, Irene Lehr Auktion
In der Gouache mit Aquarell „Speedy mit Katze (Melancholie)“ porträtierte Rudolf Schlichter 1954 seine Frau Speedy. 10.000 Euro werden dafür mindestens erwartet. © Irene Lehr, Berlin

Irene Lehr präsentiert in ihrer Auktion am 30. Oktober in Berlin eine eindrucksvolle farbige Aquatintaradierung von Bellmer aus dem Jahr 1964, „Le bon sens“, in der man all diese Bezüge und noch viel mehr entdecken kann (Taxe 800 Euro). Vorlage war eine Zeichnung von 1961, heute im Besitz des Centre Pompidou.

Eine andere Art von Obsession spricht aus den mesmerisierenden Bildnissen, die Rudolf Schlichter von seiner Frau Speedy anfertigte, sehr häufig mit einer Katze, wie sie auch schon Manet als erotisches Symbol benutzte. In der Gouache mit Aquarell „Speedy mit Katze (Melancholie)“, immerhin 79,2 mal 56 Zentimeter groß, variiert Schlichter 1954, kurz vor seinem Tod, ein zwei Jahre früher entstandenes Ölbild. 10.000 Euro werden dafür mindestens erwartet. Schlichters masochistische Hörigkeit Speedy gegenüber und seinen Knöpfstiefelfetischismus nahm sein Freund George Grosz bekanntlich in mehreren Zeichnungen auf die Schippe, obwohl Grosz selbst – wie unter anderem in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck kommt – gewisse Eigenheiten sexueller beziehungsweise erotischer Natur pflegte.

Clemens Gröszer „Selbst“, Irene Lehr, Berlin
Clemens Gröszers Mischtechnik „Selbst“ zeigt den elitären Dandy im Jahr 1995. Das Selbstporträt soll mindestens 6000 Euro einspielen. © Irene Lehr, Berlin

Es ist eine eigenartige Koinzidenz im Hinblick auf Groß, der sich Grosz nannte, dass es später einen Maler geben sollte, der sich Gröszer nannte – die Steigerungsform, auch mit „sz“. Dieser Clemens Gröszer, geboren 1951, malte jedoch eher wie Otto Dix, gelegentlich zitierte er ihn sogar. Er fand auch ähnliche Typen wie Dix, nur gelinde aktualisiert, die Unterschiede sind nicht so groß. Bei Lehr im Angebot sind ein Selbstbildnis von 1995 ( Taxe 6000 Euro), ein Mädchenbildnis (Taxe 4000 Euro), ein Akt mit Korsett (Taxe 6000 Euro) und eine Aktskizze auf Papier (Taxe 300 Euro).

Alle drei, Bellmer, Schlichter und Gröszer, eint ein gewisser Hang zur altdeutschen Malerei, teils auch deren Technik, und alle drei waren Außenseiter. Als elitärer Dandy war „Gröszers Position im Osten … nicht unumstritten“, wie Matthias Flügge vorsichtig schrieb, Schlichter war schon früh wegen „unnationalsozialistischer Lebensführung“ drei Monate in Untersuchungshaft und Bellmer konstatierte: „Der Ursprung meines skandalösen Werkes liegt darin, dass für mich die ganze Welt ein Skandal ist.“ Wie immer gibt es viel Interessantes zu entdecken bei Irene Lehr.

Service

AUKTION

Irene Lehr Berlin,

Auktion: 30. Oktober 2021

Besichtigung: 18. – 28. Oktober 2021

lehr-kunstauktionen.de

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