Eine neu entdeckte Federzeichnung Michelangelos, die bis dato unter „Schule“ einsortiert war, kommt am 18. Mai bei Christie’s in Paris zur Auktion. Der Fund wirft die Frage auf: Ist es möglich, dass noch so einige Blätter des Künstlers inkognito in verschiedenen Kollektionen herumgeistern?
Von
16.05.2022
/
Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 8/22
„Die Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher“, schrieb Robert Musil vor knapp hundert Jahren in Mann ohne Eigenschaften. Die Gegenwart mit ihren Themen Krieg, Pandemie, Klimawandel, Energieversorgung, Migrationsbewegung, Gendergerechtigkeit gibt dem in allen Punkten Recht. Wohin die globale Reise geht, ist völlig unklar. Fest scheint nur zu stehen: Die liberalen Demokratien müssen sich angesichts der sozialen und strukturellen Verwerfungen grundlegend neu positionieren. Präpotente Hau-Ruck-Aktionen, verblasene Ideologien, schlappe Weiter-so-Parolen werden der Komplexität der Lage nicht gerecht. Gefragt ist vielmehr ein Diskurs, der den methodischen Zweifel an tradierten Gewissheiten als Fundament vernünftiger Urteile über das weitere Vorgehen begreift.
Übertragen auf den Bereich der schönen Künste wäre das Medium der Stunde demnach die Handzeichnung, die in ihrer klassischen Funktion als Analysetool Gegenstände aus verschiedenen Perspektiven einkreist, Alternativen ausbreitet, Möglichkeiten gegeneinander abwägt. Die über eine Reihe reflektierter Arbeitsschritte wie Skizze, Studie, Entwurf erst nach und nach eine belastbare Bildaussage kreiert. Die die Fragen das Lebens nicht breitbeinig klärt, sondern Antworten im Bewusstsein des ewigen Wandels herbeireflektiert.
„Auch prüft die Hand auf derbem Blatt allein / Eh sie beredt ergreift den Pinsel schnell“, schrieb denn auch einer der größten Könner in dieser Disziplin – Michelangelo (1475–1568). Die Arbeit mit Stift und Papier zog sich wie ein roter Faden durch sein Werk als Maler, Bildhauer und Baumeister. Und wie kein zweiter Künstler des 16. Jahrhunderts schaffte er es auf höchstem Niveau, die beiden Pole des Zeitverständnisses von Zeichenkunst gleichwertig ineinanderfließen zu lassen: den „Disegno intellitivo“ und den „Disegno pratico“. Also die „göttliche Idee“ und ihre technische Umsetzung, die sich vermittels der „denkenden Hand“ als untrennbare Einheit – gewissermaßen als kreative DNA des Künstlers – auf Papier niederschlug.
Um die 27.000 Blätter hätte der Allrounder in seiner rund 75-jährigen Schaffenszeit allein dann produziert, wenn man ihm eine Zeichnung pro Tag zugesteht. Aber das ist sicher viel zu wenig. Immerhin arbeitete er im Alter von 86 Jahren noch bis zu drei Stunden am Stück mit dem Stift, wie sein Neffe berichtet. Wie relevant das Medium für Michelangelos Produktion war, zeigt überdies ein Brief des Künstlers an seinen Vater mit der Bitte um Zusendung älterer Zeichnungen: „Sorgt dafür“, heißt es da, „dass nicht das kleinste Blättchen davon fortkomme, denn es befinden sich gewisse hochwichtige Dinge darunter.“
Umso bedauerlicher ist es, dass der Sektor heute nur mehr plus/minus 600 Werke umfasst – je nach Sichtweise. Mindestens zwei Mal hat Michelangelo selbst Zeichnungen im großen Stil entsorgt – wohl um die Spreu vom Weizen zu trennen und/oder Spuren seiner Arbeit zu verwischen. Cosimo I. de’ Medici bedauerte die Vernichtungsaktion von 1564 mit den Worten: „Es scheint Uns keine würdige Tat von ihm, sie dem Feuer übergeben zu haben.“ Dennoch: Ganz plausibel wird der exorbitante Verlust dadurch nicht – zumal der mit 37 Jahren gestorbene Kollege Raffael in etwa die gleiche Zahl an Papierarbeiten hinterlassen hat. Ist es also möglich, dass noch so einige Michelangelo-Zeichnungen inkognito in verschiedenen privaten und öffentlichen Kollektionen herumgeistern? Das Thema rührt an generelle Glaubensfragen bezüglich Stilkohärenz, Qualitätskontinuität und Entwurfshöhe. Aber wie wichtig sind solche Worthülsen auf einer Skala zwischen eins und zehn, wenn man an den Werkstattalltag denkt? Unsicherheiten wie diese – das ist das Schöne – halten den Fachbereich in ständiger Bewegung. Und damit, könnte man sagen, jung.
Dass es im Blätterwald mitunter sogar heftig rauschen kann, demonstriert auf spektakuläre Weise die jüngst publik gewordene Entdeckung einer Michelangelo-Zeichnung, die bis dato unter „Schule“ einsortiert war. Christie’s offeriert die vom maßgeblichen Spezialisten Paul Joannides als Werk des Meisters anerkannte Arbeit Mitte Mai bei 30 Millionen Euro in Paris. Das Los aus einer französischen Privatsammlung, das mittig den vor Kälte bibbernden Täufling aus Masaccios Neophyten-Fresko in der Florentiner Brancacci-Kapelle zeigt, fügt sich perfekt in eine kleine Reihe vergleichbarer Teilkopien nach Giotto und Masaccio, die im Dunstkreis seines Lehrers Ghirlandaio entstanden. Gemeinsam ist all diesen Federzeichnungen aus den frühen bis mittleren 1490er-Jahren die Verwendung von zweierlei Brauntönen, das noch an Ghirlandaio orientierte, jedoch konstruktiver genutzte Lineament aus Parallel- und Kreuzschraffuren – beides Mittel zur Erzeugung von Plastizität – sowie das Format von rund 30 mal 20 Zentimetern. Aber keines der anderen Blätter zeigt einen Akt. Möglicherweise klingt hier also erstmals Michelangelos Lebensthema an – und zwar „a fare le figure“, wie er es selbst in bewusster Nähe zum Schöpfungsakt Gottes ausdrückte. Aber eine Creatio ex nihilo jenseits von Traditionen gelang selbst einem Genie wie ihm freilich nicht. Und so taucht der Typus des Schlotternden auch mehrmals in Michelangelos eigenem Werk auf. Unter anderem in Gestalt des Johannes, der unter dem gekreuzigten Christus erschaudert. Eine solche Umdeutung bereitete keinerlei Probleme. Denn die Figur – das fragliche Blatt zeigt das unmittelbar – lebt kraft ihres Ausdrucks aus sich selbst heraus.
Semantische Flexibilität charakterisiert zahllose Handzeichnungen. Aufgrund ihrer funktional bedingten Konzentration auf besondere Details können die Werke nämlich meist ohne ikonografische Fesseln aus der Vergangenheit rezipiert werden. Das ist überaus charmant – denn so sind sie doppelt aktuell. Als lebendiges Zeugnis der Geschichte. Und als breite Projektionsfläche für den Augenblick.