Interview mit Martin Guesnet

„Es gibt gerade keinen besseren Ort als Paris“

Martin Guesnet ist der Europa-Direktor des französischen Auktionshauses Artcurial. Wir sprachen mit ihm über den umkämpften deutschen Markt, die neue Rolle von Paris und die Wirkung der Russland-Sanktionen

Von Alexander Hosch
27.12.2022

Guesnet ist in Köln aufgewachsen. Er hat in den 1990er-Jahren unter anderem die Pariser Filiale der Galerie Karsten Greve geleitet. Heute ist der Deutschfranzose Senior Associate von Artcurial. Zum Preis, den das Pariser Unternehmen für die Corona-Lockdowns zahlen musste, gehört – parterre im Stadtpalais – die Schließung eines Restaurants, das bis dahin mittags regelmäßig überquoll, sowie die Verwandlung eines ehedem grandiosen Bookshops in ein einziges Bücherzimmer. Die Geschäftsumsätze aber gingen in dieser Zeit durch die Decke. Kurz vor dem Jubiläum zum zwanzigjährigen Bestehen verkündete Artcurial im Sommer 2022 das beste Halbjahresergebnis seiner Geschichte: 155 Millionen Euro (und damit 40 Prozent Steigerung gegenüber dem Vorjahr).

Unser Gespräch findet im Hôtel Marcel Dassault im 8. Arrondissement statt. Die Gegend ist nobel, in der Nachbarschaft mischen sich Kunst und Couture. Artcurial residiert am Rond-Point der Champs-Élysées. Der schmucke Palast gehört der Industriellenfamilie Dassault, die an Artcurial beteiligt ist. Gegenüber stapeln sich vor einer neuen Maxi-Boutique von Jacquemus täglich die Fashion-Begeisterten. Direkt nebenan in der Avenue Montaigne liegen die Dependancen von Chanel, Balenciaga, Fendi, Dolce & Gabbana. Einen Steinwurf weit entfernt prunkt der Grand Palais. Die Seine ist in der Nähe. An Plätzen wie diesem bereitet sich Paris – zwei Jahre nach dem Brexit – aufs Durchstarten vor.

Artcurial hat 2020 seine Repräsentanz in Wien verkleinert. Setzen Sie im deutschsprachigen Raum künftig mehr auf Deutschland?

Ja, es gibt da spezielle Entwicklungen! Was uns überrascht hat, ist, dass Sotheby’s, wo vor drei Jahren der Eigentümer gewechselt hat, sich trotz der Pandemie nicht aus dem Physischen ins Digitale zurückzog, sondern im Gegenteil in Köln ein Riesenschiff neu aufgebaut hat. Das ist ein Zeichen an alle. Wir als Profis wissen, wie zentral wichtig Deutschland in Europa ist – ein Land von Sammlern, mit großem Patrimoine. Es gibt hier tolle Ware zur Akquise und viele Einlieferer. Für Artcurial sind die deutschen Kunden sogar die wichtigste Käufergruppe überhaupt in Europa, die Schweiz mal ausgenommen. Und wenn Sotheby’s jetzt in der Kölner Filiale neuerdings Auktionen abhält, wirbelt das natürlich alles auf und ändert für andere Player wie Lempertz oder Van Ham die Situation dort. Konkurrenz dynamisiert, sie zwingt dagegenzuhalten.

Martin Guesnet Artcurial
Der Deutsch-Franzose Martin Guesnet ist seit 2002 bei Artcurial tätig. Seit 2014 ist er der Europa-Direktor des französischen Kunst-Versteigerungshauses. © Maximilien Photography

Das hört sich ja an, als wollten Sie auch nach Köln. Artcurial könnte da doch versteigern.

Das werden wir nicht tun. Aber uns verstärken, das auf jeden Fall! Während in Frankreich alles in Paris passiert, gibt es hierzulande viele Zentren – Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder München, wo wir ja unsere Repräsentanz haben. Und alle rüsten gerade auf: Ketterer hat sich neu aufgestellt. Dorotheum ist in Düsseldorf und München stark, jetzt auch in Hamburg. Der deutsche Markt ist hart umkämpft. Und ja, wir brauchen konkret ein zweites deutsches Standbein in Köln oder Düsseldorf. Im Kulturbereich geht es zurzeit wieder mehr zusammen, man muss Köln und Düsseldorf deshalb trotz der Rivalität dieser wichtigen Großstädte als kraftvolle Einheit sehen. Denn eine Entwicklung, die wir seit Jahren sehen, ist: Berlin schwächelt.

Für das Auktionshaus Grisebach scheint Berlin gut zu funktionieren, es hat mit einem Selbstporträt von Max Beckmann gerade einen großen Erfolg erzielt.

Aber die holen auch nichts in Berlin, sondern besorgen ihre Ware in München, Köln, Hamburg – wie wir alle. In Berlin gibt es keine Stammkunden mehr oder besser gesagt: Es hat sie nie gegeben. Die vielen Galerien, der Hype in den 2000er-Jahren, das war grandios und fantastisch. Andererseits hat sich keinerlei Kundschaft aufgebaut. Das wahre Vermögen findet sich in Westdeutschland. Natürlich gibt es auch im Osten wohlhabende Menschen, aber eben nicht genug, um einen Markt zu haben. Deshalb müssen die großen Berliner Galerien wieder Standbeine anderswo suchen, in Köln oder München oder Wien. Wieder andere gehen nach Brüssel. Und der große Trend ist Paris – Esther Schipper hat dort jetzt aufgemacht, auch Peter Kilchmann aus Zürich. Es geht nach Westen!

2019 sagte Nicolas Orlowski, der Gründer von Artcurial, in unserem Hintergrundgespräch: „Wenn Großbritannien die EU verlässt, geht’s in Paris richtig los!“ Er hatte recht, oder?

Seit dem Brexit ist in enormer Geschwindigkeit eine radikale Veränderung passiert. Unglaublich. Dass für London die Zukunft wohl ein, zwei Generationen lang dramatisch und ein großer Misthaufen wird, das war den Intelligenten und Rationalen unter den Engländern an dem Tag klar, als die Brexit-Entscheidung fiel. Das ist nicht in fünf Jahren vorbei. Wir in Frankreich dagegen haben jetzt eine Zeit vor uns, wo wir gut aufbauen können. Das hat man auch Mitte Oktober bei der neuen Messe Paris+ par Art Basel gesehen. Paris hat jetzt neue Trümpfe.

Erdbeerkorb Chardin Artcurial
Der „Erdbeerkorb“ von Jean-Siméon Chardin wurde im März für 24,3 Millionen Euro versteigert – ein Weltrekord für ein französisches Gemälde in der Kategorie Alte Meister. © Artcurial

Wie nutzt Artcurial die neue Messe konkret?

Wir werden jetzt nicht unsere Auktionen extra auf Messetage verlegen. Aber wir profitieren von der Präsenz von Kunden, die eigens dafür nach Paris kommen. Es gibt natürlich immer noch eine Konkurrenz zwischen Kunsthandel und Auktionshaus. Die Zeit einer Messe gehört jedoch den Galerien. Wir versuchen, präsent zu sein – indes jagen wir da nicht nach Kunden.

Dafür bieten Sie Cocktailempfänge an den Champs-Élysées an.

Schon, wir haben parallel zur Paris+ gerade unser 20-jähriges Jubiläum gefeiert. Die Zahl der Besucher war weit über der Erwartung – statt 800 kamen 1300. Es war ein tolles, attraktives Fest im Stadtpalais am Rond-Point der Champs-Élysées – also genau da, wo’s passiert – in unserem Flaggschiff im Herzen der Stadt.

Welche Auktionsfelder boomen bei Ihnen eigentlich gerade besonders?

Es sind alle Bereiche. Wir werden im Jubiläumsjahr den besten Umsatz unserer Geschichte haben. Aber nicht nur wir, auch Sotheby’s und Christie’s. Wir waren etwas in Sorge – Krieg in Europa, Brexit, Krisen überall, die Wirtschaft wird durcheinandergewirbelt. Unser Markt ist da aber gar nicht betroffen. Die Vermögen wachsen sogar noch. Und die Lust auf Börse ist gerade nicht sehr gesund, auch deshalb boomen Uhren und Autos.

Seit Putins Krieg?

Nein, schon etwas länger.

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