Das Berliner Auktionshaus Irene Lehr sorgt vor allem mit Kunst der 1920er-Jahre immer wieder für sehr gute Ergebnisse. Nun wird ein Bildnis zweier Frauen von Georg Scholz mit Spannung erwartet
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24.04.2023
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Kunst und Auktionen 7/23
Vor einem Jahr erregte bei Lehr Kunstauktionen ein Bild von Georg Scholz aus dem Jahr 1926 Aufsehen, das zwei tote, gerade ausgenommene Hühner zeigte, auf einem Tisch in einem Raum mit Schachbrettbodenmuster. Mit einer Taxe von 100.000 Euro versehen, erfolgte der Zuschlag schließlich bei 400.000. Das Hühnerbild war in einer Phase der politischen Konsolidierung der Weimarer Republik entstanden, nach den sarkastisch-zynischen, ätzenden Schilderungen vor allem des Lebens in der deutschen Provinz, wie Scholz sie unter dem Einfluss des Dadaismus fabriziert hatte. Vom Sujet und von der Malweise her handelte es sich um eines der späteren Hauptwerke im Œuvre des Malers.
Ein weiteres – noch späteres – kommt in der anstehenden Auktion bei Lehr zum Aufruf. „Die Schwestern“ ist 1928 entstanden, zwei Jahre nach den „Hühnern“. Man sieht ein Interieur mit einem Bett oder Diwan, versehen mit einem Überwurf, im oberen Teil mit Kissen bedeckt, alle unterschiedlich gemustert mit orientalischem Touch. Auf diesem Diwan liegen Bauch an Rücken, eng aneinandergeschmiegt, mit geschlossenen Augen, also wahrscheinlich schlafend, zwei junge, schwarzhaarige Frauen in Unterwäsche, aber mit Strümpfen und Schuhen. Die vordere barbusig, eine Brust ist sichtbar, die hintere im Unterrock oder Negligé. Letztere hat ihren rechten Arm unter denjenigen der vorderen geschoben, ihre Hand liegt auf deren linkem Oberarm. Die vordere Frau liegt am äußersten Rand des Bettes zur Betrachterseite hin, ihr rechtes Bein, das sie über ihr linkes gelegt hat, hängt neben dem Bett schräg nach unten, der Fuß im absatzbewehrten Schuh mit Riemchen über dem Rist (beide Frauen tragen ein ähnliches Modell) ruht auf dem Boden, der Absatz noch auf der Überwurfdecke, die Schuhspitze bereits auf dem Zimmerboden. Beide Frauen haben einen „Bubikopf“ – die in den Zwanzigerjahren für Emanzipation und Selbstbewusstsein stehende, beliebte Frisur. Beide tragen am rechten Handgelenk auch einen goldfarbigen, dünnen Armreif, die vordere noch passende Creolen (man sieht nur ein Ohr) und eine Armbanduhr am linken Handgelenk. Ihre Schultern und Köpfe ruhen auf den ausladenden Kissen am Kopfende des Bettes. Die Schlafhaltung der beiden dürfte vertraut sein – bis auf das exponierte rechte Bein der vorderen.
Sämtliche Gegenstände im Bild sind in gedämpften, wie durch einen Filter gesehenen Farben gezeigt, während die beiden Frauen inmitten dieser etwas stumpfen, abgebremsten Farbigkeit hell hervorleuchten. Ihre Wäsche einschließlich der Strümpfe ist fast weiß, teilweise ins Rosa spielend, das aber vielleicht bloß dem Widerschein der rötlichen Decke, auf der sie liegen, geschuldet ist. Aufgesetzte Glanzlichter betonen die Stofflichkeit der Seidenstrümpfe und der Unterwäsche. Wie die Wäsche ist auch das Inkarnat behandelt, als herrschte helles Tageslicht – während das Zimmer eher in einer Art Dämmerlicht zu liegen scheint, mit einem leichten Verlauf vom Helleren ins Dunklere von links nach rechts. Die Lichtführung ist artifiziell. Scholz hat die ganze Szene überdies schräg von vorne ins Bild gesetzt, es gibt keine einzige Horizontale in diesem Bild, und auch die scheinbar vertikalen Zimmerecken sind ganz leicht aus dem Lot. Das diagonal ins Bild gesetzte Bett ist rechts oben und links unten abgeschnitten. Es fällt auf, dass sich im Zentrum des Bildes, im Schnittpunkt der Bilddiagonalen, die pralle Rundung der rechten Gesäßhälfte der vorderen Schlafenden exponiert. So harmonisch, natürlich und „realistisch“ die ganze Darstellung auf den ersten Blick wirkt, so wenig ist sie es bei genauerer Betrachtung tatsächlich.
„Schlafende Mädchen“ nannte Scholz selbst das Bild zur Zeit seiner Entstehung. Die Dargestellten sind die Frau und die Schwägerin des Malers. In einem Brief bemerkte Scholz: „Nun sieht das Bild wegen der beiden Mädchen in tiefem Négligée aneinandergeschmiegt tatsächlich ein wenig schwul aus.“ Das kommt nicht von ungefähr, denn höchstwahrscheinlich stammt eine Inspiration für Scholz’ Bild von Gustave Courbet – von einer der berühmtesten und am meisten skandalumwitterten Darstellungen eines explizit lesbischen Liebespaares, nämlich dem Bild „Der Schlaf“ von 1866, heute im Petit Palais in Paris. Courbet hatte es (wie auch sein zweites Skandal-Bild, das heute den Titel „Der Ursprung der Welt“ trägt) für den Pariser Bonvivant und Sammler Khalil Bey gemalt, den ehemaligen türkischen Botschafter in St. Petersburg.
Das besagte, auffällige rechte Bein der vorne liegenden Frau auf Scholz’ Bild weist als Anspielung deutlich auf Courbets „Der Schlaf“ hin. Letzteres ist in Lebensgröße ausgeführt, das von Scholz misst 70,5 mal 95 Zentimeter. Ein direkter Vergleich offenbart, wenn man ihn denn sehen will, durchaus einen raffinierten Witz. Scholz transponierte das Thema in die späten Zwanzigerjahre und in die badische Provinz. Und er fügte noch eine inzestuöse Andeutung hinzu. In Paris zur Zeit Courbets war lesbische Liebe sehr wohl ein Thema, aber nur in trivialen populären Druckerzeugnissen (aus denen sich bekanntermaßen die Impressionisten gerne bedienten). In der „hohen“ Kunst hat es das – zumindest ohne mythologische Verbrämung, wie sie etwa Boucher meisterhaft beherrschte – vorher nicht gegeben.
Genauso war lesbische Liebe in der Weimarer Republik nichts Außergewöhnliches, schon gar nicht in einem Sündenpfuhl wie Berlin. Dort gab es ab 1926 sogar ein einschlägiges Magazin namens Frauenliebe, das allerdings – wegen der Aufnahme in die „Liste der Schund- und Schmutzliteratur“ aufgrund eines Gesetzes – im Jahr 1931 sein Erscheinen einstellen musste, nachdem es schon ab 1930 nur noch als Beiblatt der Zeitschrift Garçonne seine Existenz fristete. Von ungefähr 1927 bis 1930 erschien in Berlin auch das Magazin Liebende Frauen. 1928, im Entstehungsjahr von Scholz’ Bild, publizierte Ruth Roellig den Führer Berlins lesbische Frauen mit einem Vorwort von Magnus Hirschfeld. Allerdings hatten es sexuell nicht-heteronormative Minderheiten auch in Berlin nicht leicht, und darüber hinaus war Karlsruhe nicht Berlin.
Wie Scholz sich selbst zu dieser Zeit sah, zeigt ein Selbstbildnis in Öl auf Leinwand aus dem Jahr 1929, das ebenfalls bei Lehr offeriert wird. Ernst, forschend und emotionslos blickt er dort durch seine runde, randlose Brille auf den Betrachter. Er ist korrekt gekleidet: weißes Hemd, Krawatte, vermutlich Jackett, darüber ein weißer Arbeitsmantel. Wenn man nicht wüsste, dass es sich hier um einen Maler handelt, könnte dieser Mann auch beispielsweise Arzt sein – oder Psychiater.
Franz Roh lieferte 1925 – im selben Jahr, als Gustav Hartlaub in der Kunsthalle Mannheim die berühmte Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ abhielt – mit seinem Buch Nach-Expressionismus: magischer Realismus; Probleme der neuesten europäischen Malerei eine Bestandsaufnahme und Analyse genau dieser Malerei: „Angezielt wird das Grundgefühl der Existenz, das wichtiger zu nehmen ist als alle Objektivität, denn sie würde nicht jene Magie ausstrahlen, jenes Geistige, Unheimliche, das den besten Bildern der neuen Richtung – inmitten ihrer Gelassenheit und scheinbaren Nüchternheit – innewohnt.“ In diesem Zitat, das auch im Auktionskatalog wiedergegeben ist, findet sich (neben der Erwähnung der „Magie“) genau der Begriff, der auf die besten Bilder von Georg Scholz – die toten Hühner genauso wie die „Schlafenden Mädchen“ – zutrifft: das „Unheimliche“. Roh hat diesen Begriff sicherlich mit Absicht gewählt, ist doch 1919 der gleichnamige Aufsatz von Sigmund Freud erschienen, der einige bedenkenswerte Bezüge zu Scholz’ Bild eröffnet.
„Die Schwestern“ waren, folgt man dem Auktionskatalog, vor 1975 nicht ausgestellt. Sie sind vorsichtig auf 200.000 Euro taxiert. Interessant ist auch eine Vorstudie mit Bleistift zu diesem Ölbild, die ebenfalls in der Auktion angeboten wird und mindestens 1500 Euro bringen soll. Daran lässt sich beobachten, was der Maler im Bild noch verändert hat. Für das genannte Selbstbildnis, 34 mal 30 Zentimeter groß, werden mindestens 10.000 Euro erwartet. Und 15.000 Euro soll der 32,5 mal 24,5 Zentimeter große „Glockenturm“ bringen, den Scholz im Jahr 1919 mit Feder in Tusche geschaffen hat. Alle vier Arbeiten von Scholz kommen aus Familienbesitz zum ersten Mal in den Handel.