Karl & Faber versteigert Highlights des Expressionismus – darunter Max Beckmanns im Jahr 1945 entstandenes „Familienbildnis Lütjens“
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28.06.2023
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 10/23
Die Jahre des Amsterdamer Exils gehörten zu den kreativsten im Schaffen Max Beckmanns. Zwischen 1937 und 1947 entstand dort mit rund 280 Gemälden ein Drittel seines gesamten Œuvres, darunter zahlreiche Hauptwerke wie auch einige seiner bedeutendsten Triptychen. Der Maler selbst nahm diesen künstlerisch äußerst fruchtbaren Lebensabschnitt nachvollziehbar als existenzielle Krise wahr: Mit der Besatzung der Niederlande durch die Deutschen hatte sich die erhoffte Sicherheit als trügerisch erwiesen; Freunde waren bereits interniert worden, und auch Beckmann musste um sein Leben fürchten, während er auf sein Visum für die USA wartete. Alte Tagebücher hatte er aus Vorsicht vernichtet und nur noch Unverfängliches festgehalten. Aber auch die erhaltenen Einträge zeugen in knappen Einlassungen über Zukunftsängste oder banale Versorgungsnöte von starken Stimmungsschwankungen. „Ich spaziere an der Peripherie des Lebens“, kommentierte er einmal resigniert seine erzwungene Isolation in der Fremde, ähnlich verzagt notierte er zum Jahresausklang 1943: „Viel Sorge und nerveux für 1944. Dunkel ist das Leben – ist der Tod.“
Als verlässlicher Freund erwies sich in diesen Jahren kontinuierlicher Gefährdung Helmuth Lütjens, der Leiter der Amsterdamer Filiale der Galerie Paul Cassirer. Er verwahrte Beckmanns Bilder vor dem Zugriff der Besatzer und half ihm über finanzielle Engpässe hinweg, indem er gelegentliche Verkäufe vermittelte, nachdem der reguläre Kunstmarkt längst zusammengebrochen war. Zugleich war Lütjens für den Künstler in der fremden Stadt ein wichtiger sozialer Bezugspunkt, und der Freitags-Besuch bei dessen Familie war für ihn zum Jour fixe geworden. Bezeichnend, welche Bedeutung dieser Kontakt für Beckmann hatte, ist ein Eintrag vom 19. Januar 1945: „(…) will nachher zu Lütjens gehen, mein Morphium in dieser Zeit.“
In diesen Zeitraum fällt auch die Entstehung des „Bildnis Rietje und Nelly Lütjens“, das als Höhepunkt des Evening Sales zur Moderne am 29. Juni bei Karl & Faber in München zum Aufruf kommt. Es zeigt die Ehefrau seines Förderers sitzend im Halbprofil mit ihrer bald zweijährigen Tochter Rietje auf dem Schoß, die mit den Händchen einen Hampelmann umklammert, den Beckmanns Frau für sie gebastelt hatte. Beckmann hat die Familie seines Freundes mehrfach festgehalten. Weihnachten 1944 hatte er ihm bereits das „Familienbildnis Lütjens“ gewidmet, nachdem dieser ihm und seiner Frau vorübergehend Schutz vor möglichen Anfeindungen durch die erwarteten Alliierten-Truppen gewährt hatte.
Das vorliegende Gemälde knüpft an diese Arbeit an, wobei Beckmann hier die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt rückte, die er zuvor nur selten thematisiert hatte. Die vor ihm liegende Aufgabe nahm er durchaus ernst: „Zum ersten Male gründlich an Nelly mit Kind. Wird mir noch viel Arbeit machen,“ mutmaßte er in einem Tagebuch-Eintrag vom 15. Februar. Erst am 7. März war das Doppelbildnis fertiggestellt. „Äußerst heftig nochmal zum 40.t Mal an Rikchen. Jetzt ist sie gut“, notierte er befriedigt. Beckmann überließ es der Familie zunächst als Leihgabe, nach seinem Tod ging es in den Besitz seiner Ehefrau über. Die aus diversen Ausstellungen bekannte Arbeit wurde von dem New Yorker Kunsthändler Serge Sabarsky erworben und nach dessen Tod in den Bestand der Stiftung Vally Sabarsky übernommen. Die Taxe liegt bei 900.000 Euro (Lot 661).
Vom selben Sammler stammt Beckmanns „Studie zu Liebespaar“ von 1911. Im gleichen Jahr hatte sich der Maler aus dem Vorstand der „Berliner Secession“ zurückgezogen – aus Solidarität mit den für eine geplante Ausstellung zurückgewiesenen Expressionisten, obwohl er selbst mit deren Ansatz zu diesem Zeitpunkt noch nicht sympathisierte. Das reflektiert auch dieses Sitzporträt eines anonymen weiblichen Modells. Es zeigt bei aller Großzügigkeit im Gestischen eine noch weitgehend naturalistische Farbgebung, die allenfalls spätimpressionistische Einflüsse nahelegt. Im Gegensatz zu dem abgebildeten Paar der Endfassung in der Mannheimer Kunsthalle ist die voluminöse Dame in einem sparsam eingerichteten Interieur inszeniert, Naheliegend ist, dass sie daher nicht nur als vorbereitende Figurenstudie, sondern als eigenständige Komposition intendiert war. Welchen Stellenwert sie darüber hinaus für den Maler hatte, ist bereits daraus ersichtlich, dass er sich bis zu seinem Tod nicht von dem Bild trennte. Angedacht sind 100.000 Euro (Lot 621).
Zirka sechs Jahre früher entstanden ist Alexej von Jawlenskys ebenfalls noch nicht ganz im Expressionismus angekommene „Frau mit Tracht (Brustbild einer jungen Frau)“. Der Kopf der dicht in den Bildausschnitt gerückten Bäuerin verrät in der vergleichsweise konventionellen Modellierung durch bläulich-violette Schatten die Manier der bereits vom Mainstream akzeptierten Sezessionisten, während die kurzen, parallel geführten Strichlagen sowie die expressive Farbigkeit, die sich vorerst vor allem auf den monochromen Fond beschränkt, auf Jawlenskys großes Vorbild van Gogh hinweisen, dessen Rezeption wenigstens in Deutschland gerade erst Fahrt aufgenommen hatte. Der Maler hielt sich wohl 1906 im Frühjahr für einige Zeit in der Bretagne auf, doch die hier abgebildete Frau ist unverkennbar dem Voralpenraum zuzuordnen, auch wenn er darauf verzichtete, regionale Besonderheiten ihrer Tracht hervorzuheben; ohnehin genügte auch elitären Sammlern der Moderne bereits der eskapistische Verweis auf ein bescheidenes, dafür aber vermeintlich sorgenfreies Leben in gesunder Landluft, um ihr Interesse zu wecken; wenigstens darin unterschieden sie sich nicht wesentlich von den Käufern des kommerziellen Bauern-Genres. Für das innovative Dirndl des Deutschrussen erwartet man 400.000 Euro (Lot 606). Sein eigentlich eher kleines „Großes Stillleben: Rosen Blau-Lila Harmonie“, ein Spätwerk von 1936, ist immerhin noch mit 80.000 Euro veranschlagt (Lot 640).
Jawlenskys Blaue-Reiter-Mitstreiterin Gabriele Münter ist mit einer Winterstimmung aus ihrer gesuchtesten Schaffensphase vertreten. Der Karton „Kochel. Schneelandschaft mit Häusern“ wird um 1908 / 09 datiert, ist realistisch aber wohl im Februar 1909 während eines Besuchs bei einem befreundeten Musiker-Ehepaar in Kochel am See entstanden, wo sie und Wassily Kandinsky Landschaftsstudien von Ort und Umgebung anfertigten. Die Kartongröße entspricht den Formaten, die Münter auf ihren Exkursionen bevorzugt verwendete. In der rigorosen Zusammenfassung der Form, der flächigen Bildorganisation und der Beschränkung der Palette auf wenige leuchtende Farben setzte die Malerin konsequent einen Weg fort, den sie bereits im Vorjahr bei der gemeinsamen Arbeit in Murnau eingeschlagen hatte. Die Premium-Datierung hat mit 550.000 Euro freilich auch ihren Preis (Lot 634); zwei Arbeiten auf Papier mit Blumenmotiven aus den Vierzigerjahren gehen bereits bei jeweils 50.000 Euro ins Rennen (Lots 644, 645).
Ist man – auch als Sammler – wirklich aufrichtig erfreut, wenn man ein Gemälde mit dem Konterfei eines wildfremden jungen Mannes geschenkt bekommt? Ernst Ludwig Kirchner war sich dessen sicher und setzte zweifellos auf den Charme seiner Signatur, als er seinem langjährigen Sammler und Förderer Gustav Schiefler 1928 das zwei Jahre zuvor vollendete Bildnis „Kopf Wehrlin“ zum Geburtstag verehrte. „Sie werden erstaunt sein, wenn sie die Farben sehen“, kündigte der Künstler seine Gabe an, „es ist sehr farbig.“ Die intensive Farbigkeit vor allem des Hintergrunds – im Wesentlichen Rot, Blau und Violett – rührt von einem nach Kirchners Entwurf gefertigten Wandteppich, vor dem das Modell platziert ist. Bei dem Porträtierten handelte es sich um einen Jura-Studenten aus Winterthur, den Kirchner in Davos kennengelernt hatte, als dieser dort seine lungenkranke Mutter besuchte. Auf Rat des Älteren gab Wehrlin sein ungeliebtes Studium auf, um in Paris eine Karriere als Maler zu verfolgen. Wusste der Beschenkte um den anrührenden Hintergrund der Entstehung des Bilds? Jedenfalls bedankte er sich überschwänglich und nannte es „ein Kabinettstück, auf das wir sehr stolz sind.“ Es blieb bis 2015 im Besitz der Familie; seinen Wert beziffert das Haus mit 600.000 Euro (Lot 635).