Die Zeichnungen von Otto Müller kommen weitaus seltener auf den Markt als die seiner Brücke-Kollegen Kirchner oder Pechstein. Bei Auktionen erzielen sie Topwerte im sechsstelligen Bereich, doch unser heutiger Blick darauf ist ambivalent
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17.01.2024
Zwei Frauen südländischen Typs in einem bescheidenen Interieur – mit bloßem Oberkörper an einem Tisch sitzend die eine, die andere mit offener Bluse stehend daneben. Und neben beiläufigem Krimskrams gibt es noch eine Katze, die teilnahmslos im Hintergrund vor einem Fenster kauert. Darf man das Akt-Motiv „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ heute überhaupt guten Gewissens zeigen? Im Kölner Ludwig-Museum hatte man deswegen jedenfalls jahrelang Bedenken, bevor man das bekannte Gemälde des ehemaligen „Brücke“-Malers Otto Müller (Liebau / Schlesien 1874 – 1930 Obernigk / Niederschlesien) – wegen seiner zeitweiligen Vorliebe für diesen Themenkreis auch „Zigeuner-Müller“ genannt – 2019 endlich wieder der Öffentlichkeit zumuten mochte. Politischer Korrektheit halber wurde seine Präsentation aber pädagogisch behutsam ergänzt. Der Dokumentarfilm „Zigeuner sein“ von 1970, der das Leben der Sinti und Roma im Deutschland vor fünfzig Jahren schildert, sollte als Feigenblatt dienen, um dem Fremdschämen ein Ende zu bereiten.
Der Originaltitel des Bildes dürfte zugegebenermaßen heute schwerlich vertretbar sein, und eine Kuratorin argwöhnte zudem in einem Rundfunk-Interview, dass der „sexistische und rassistische“ Blick des Malers auf seine angeblich erotisch inszenierten Modelle in der Mehrheitsbevölkerung bestehende Vorurteile bestätigen könne. Das Bild war mithin erklärungsbedürftig, und so sollte wenigstens die im Film angebotene Lerneinheit alle eventuell hervorgerufenen Empfindlichkeiten zerstreuen: Denn die vermeintlichen Exoten outen sich darin höchst sympathisch als ganz normale Spießbürger! Das positive Bild, das Müller in seinen Arbeiten von der teils ausgegrenzten, im späteren 19. Jahrhundert andererseits auch romantisierten Volksgruppe entwarf, ist nun gewiss nicht rassistisch, blendet ihre Lebensrealität allerdings weitgehend aus und spiegelt wohl eher seine eigenen eskapistischen Sehnsüchte. Ihr scheinbar freies Leben, das er vorübergehend mit ihnen teilte, sah er vermutlich als Gegenentwurf zu den Zwängen einer bürgerlichen Existenz, die seinem unkonventionellen Denken widersprachen. Wie aber entlastet man einen Maler, der die Darstellung des weiblichen Akts in den Mittelpunkt seines Schaffens stellte, vom Vorwurf des Sexismus?
Seine Romnja stehen noch in der Kunsttradition des 19. Jahrhunderts, das Nacktheit oder gar Erotik entweder ins mythologische Ungefähr oder ins Genre der außerhalb der Gesellschaft stehenden Exotinnen auslagerte. Aber auch seine Akte, die keiner erkennbaren Ethnie zuzuweisen sind, hatten schüchterne Vorgängerinnen etwa in den weniger prominent gegebenen Nymphen eines Corot, die sich häufig ebenfalls frei in der Natur bewegen durften, ohne noch einer anekdotischen Bilderzählung verpflichtet zu sein. Zudem bleiben Müllers Modelle zum besseren Verständnis ihrer Kreatürlichkeit und ihres überzeitlichen Anspruchs beim Baden oder Dösen in freier Natur zwar überwiegend textilfrei, sind in ihrer nachdrücklichen Stilisierung aber gerade nicht explizit erotisch aufgefasst, selbst wenn man seinen von Wilhelm Lehmbruck inspirierten, kühn überlängten Figurenstil mit dem seiner „Brücke“-Kollegen vergleicht: In Haltung und Bewegung scheint er weitaus geschmeidiger und organischer angelegt. Gerade in der oft engen Verschmelzung mit den vegetabilen Formen ihrer Umgebung stehen seine Figuren für den harmonischen Einklang zwischen Mensch und Natur – ein augenfälliger Bezug zum Vorbild Paul Gauguins, dessen Distanz zur Komplexität der modernen Zivilisation er und auch die übrigen Brücke-Mitglieder teilten.
Müllers Zeichnungen werden weitaus seltener gehandelt als die von Kirchner, Schmidt-Rottluff, Heckel oder Pechstein. Nur knapp 340 waren es in den letzten 35 Jahren. Die Offerte dominierten Blätter aus seiner besonders fruchtbaren Zeit in Breslau ab 1919, die entsprechend auch die Spitzengruppe mit Werten im sechsstelligen Bereich bestimmten. Die zwei höchsten Zuschläge landete das New Yorker Team von Sotheby’s, doch auch in Deutschland waren hervorragende Ergebnisse möglich. Im Mai 2014 sorgte Sotheby’s, New York, für einen hochgestimmten Start in die zurückliegende Dekade. Die lavierte Tuschezeichnung „Liegende Frau“ aus der Mitte der Zwanzigerjahre war zunächst nur mit 100.000 Euro angesetzt, konnte jedoch ohne Schwierigkeiten auf 230.000 hochgezogen werden.18 Monate später gelang dem Haus dann das Spitzenergebnis der letzten zehn Jahre. Die Mischtechnik „Junge Zigeunerin“ von 1926, dem Jahr also, in dem Müller seine Faszination für die Sinti und Roma erstmals in größerem Umfang auch künstlerisch umsetzte, war mit 200.000 Dollar an den Start gegangen, wurde jedoch so umkämpft, dass das Bietgefecht fast erst beim Doppelten der Taxe endete (Zuschlag 380.000 Dollar). Nach diesem Erfolg fiel es Christie’s, London, nicht schwer, eine weitere Mischtechnik mit „Zwei Mädchen im Walde“ von 80.000 auf 170.000 Pfund hochzuziehen. Um 1920 entstand die aquarellierte Farbkreidezeichnung „Sitzendes Mädchen am Wasser“, die vier Monate später bei Lempertz, Köln, bei 88.000 Euro stehenblieb. Die Taxe hatte hier nur bei 40.000 gelegen.
Nach weiteren vier Monaten präsentierte Irene Lehr, Berlin, ein frühes Aquarell aus Müllers erstem „Brücke“-Jahr. Mit 24.000 Euro verdoppelte das Motiv „Badende mit Booten“ den Schätzpreis 100.000 Euro erwartete man im Juni 2017 bei Grisebach, Berlin, für die aquarellierte Farbkreide-Zeichnung „Zwei weibliche Akte im Wald“, doch die Taxe konnte um 65.000 nach oben korrigiert werden – das beste deutsche Ergebnis! Ein weiteres Spitzen-Resultat aus Deutschland kam von Ketterer, München, wo Ende 2019 die Ölkreidezeichnung „Zwei Mädchen“ von 1925 von 60.000 auf 150.000 Euro kletterte. Den gleichen Preis erzielte im Oktober 2020 bei Sotheby’s, Paris, eine weitere Mischtechnik aus dem gleichen Jahr mit „Zwei weiblichen Akten am Baum“, die sich um 50 Prozent verbessern konnte. Bei Grisebach, Berlin, blieb dagegen die Farbkreidezeichnung „Im Gras sitzendes Mädchen“ mit 120.000 Euro an der unteren Taxe stehen. Zwölf Monate darauf notierte Ketterer, München, für die 1926 datierte Komposition „Zwei Mädchen“ den vorerst letzten sechsstelligen Wert. Die Mischtechnik in dem von Müller favorisierten Format 52 mal 68 Zentimeter konnte sich von 90.000 auf 150.000 Euro verbessern. Ein Jahr vor seinem Tod schuf Otto Müller die Farbkreide-Arbeit „Zwei weibliche Akte“, die bei Andreas Sturies, Düsseldorf, im November zum Hammerpreis von 27.000 Euro abgegeben wurde (Taxe 10.000 Euro).
Der Zeitraum um 1925 war für den Zeichner Otto Müller offenbar besonders produktiv. Er wird auch für das Aquarell „Zwei Mädchen im Wald“ angenommen, das bei Van Ham, Köln, im vergangenen Juni mit 70.000 Euro veranschlagt war. Hier musste sich der Käufer allerdings nur 5000 über die Taxe hinausbequemen, um den Zuschlag zu erhalten. Erwähnenswert ist auch eine mit Farbkreide überarbeitete Lithografie aus Müllers zehnteiliger „Zigeuner-Mappe“ von 1926 / 27, die allgemein als ein Höhepunkt seines Schaffens bewertet wird. Die „Zigeunerfamilie am Planwagen“ konnte die eigentlich maßvolle Taxe jedoch nicht ganz erfüllen und blieb bereits bei 7000 Euro stehen.