Auktion bei Irene Lehr

Unheimliche Nüchternheit

Bei Irene Lehr in Berlin kommen Werke der Neuen Sachlichkeit und aus einer Privatsammlung zum Aufruf. Ein Frauenakt von Georg Scholz gehört zu den Highlights der Auktion

Von Ivo Kranzfelder
24.04.2024

Peu à peu werden bei Irene Lehr Preziosen aus dem Nachlass von Georg Scholz angeboten. Vor zwei Jahren kamen die zwei toten Hühner, letztes Jahr „Die Schwestern“ zum Aufruf, jeweils neben einigen anderen Werken des Malers. „Die Schwestern“ erzielten bei einer Taxe von 200.000 Euro ein Ergebnis von 650.000. Nun kommt wieder ein kleiner Teil des Nachlasses auf den Markt, diesmal mit der Darstellung eines einzelnen Frauenaktes als Highlight. „Schlafender Akt auf dem Diwan“ stammt aus dem Jahr 1927 und entstand demnach ein Jahr vor dem Bild der beiden Schwestern – der Diwan, so kann man annehmen, ist derselbe. Modell ist, wie bei den „Schwestern“, Scholz’ Frau Elisabeth, die, nackt auf dem Rücken liegend, auf dem Diwan gezeigt wird. Wieder steht dieser leicht schräg im Bild, die Frau hat die Augen geschlossen, nach Behauptung des Bildtitels schläft sie. Ein aufgeschlagenes Buch liegt mit dem Buchrücken nach oben, wie gerade weggelegt, neben dem Kissen, auf dem ihr Kopf ruht, ein anderes, ebenfalls aufgeschlagen mit den Seiten nach unten, auf Kniehöhe am Boden und auf dem Überwurf des Diwans. Ziemlich genau in der Mitte des Bildes hat Scholz die dunkel behaarte Scham seiner Frau platziert. Ihr Kopf liegt leicht nach links gedreht auf dem Kissen, sodass man ihr Gesicht vollständig sehen kann, samt der schwarzen Ponyfrisur auf ihrer Stirn.

Wie an dieser Stelle schon bei den „Schwestern“ bemerkt, sieht bei diesem Bild auch Patricia Sternfeld, die eine Dissertation über Georg Scholz verfasst und dessen Werkverzeichnis erstellt hat, eine Anlehnung an Courbets berühmtes Skandalbild „Le Sommeil“ („Der Schlaf“). Generell sollte man Maler oder allgemein Künstler, was ihr Wissen um die Tradition oder Geschichte ihres Mediums sowie ihre Verarbeitung der Werke von Kollegen aller Zeiten – und womöglich auch vieler Länder und Kulturen – betrifft, nicht unterschätzen. Insbesondere der Gesichtsausdruck sowohl von Scholz’ Frau als auch der Dunkelhaarigen auf Courbets Bild lassen neben der Assoziation „Schlaf“ aufgrund der geschlossenen Augen auch noch die Möglichkeit einer regen Fantasie- oder Traumtätigkeit offen. Für das Bild in einer Größe von 50 mal 67,5 Zentimetern erwartet das Auktionshaus mindestens sehr moderate 35.000 Euro.

Georg Scholz, „Porträt Elisabeth Scholz“, 1928 wird bei Irene Lehr in Berlin aufgerufen
Georg Scholz, „Porträt Elisabeth Scholz“, 1928. © Stefan Schiske für Lehr Kunstauktionen, Berlin

Ein Jahr nach diesem Akt, also zur Zeit der „Schwestern“, entstand ein halbfiguriges Porträt von Elisabeth Scholz. Vor einem undifferenzierten grau-braunen Hintergrund sieht man ihren mit einer dunkelbraunen kurzärmeligen Bluse mit roter Schleife bekleideten Oberkörper in halber Drehung nach rechts, den Kopf gegenläufig nach links gedreht, die Augen nach links unten gerichtet – vielleicht sinnierend oder skeptisch ins Nichts, vielleicht auch auf etwas, was wir nicht sehen können. Die Lippen erscheinen ein kleines bisschen geschürzt, insgesamt ist es eine ungewöhnliche, einer Momentaufnahme gleichende Haltung (Taxe 20.000 Euro).

In den beiden Bildern zeigt sich etwas, was man in der Neuen Sachlichkeit in dieser Form eher selten findet – auch wenn eine Richtung damals, anlässlich der Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, von Franz Roh „Magischer Realismus“ genannt wurde. Viel eindeutiger als Scholz im vorgestellten Fall kann man einen Akt kaum malen. Gleichzeitig weisen sowohl die geschlossenen Augen wie auch die beiden Bücher auf die innere Sicht, auf die Fiktion, die Einbildungskraft, die Fantasie hin. Wahrscheinlich ist es der offene Gegensatz, der in diesem Bild so verstörend wirkt, insbesondere wenn man die – unangenehme – Rolle des wider Willen voyeuristischen Zuschauers einer extrem intimen Situation bedenkt. Scholz’ Bildintelligenz, wie sie bereits in den bisher bei Lehr angebotenen und bei den Käufern dementsprechend honorierten Bildern zu sehen war, angefangen mit seinen beißenden Satiren oder seinen bösen Kleinstadtansichten, platziert hier nebeneinander das Sichtbare und das Unsichtbare, das Heimliche, im Sinne von das Vertraute, Heimische, und das Unheimliche, als das Unbekannte, Unwägbare.

Angesichts des Aktes denkt man an René Magrittes Collage „Je ne vois pas la (hier sieht man das gemalte Bild eines stehenden Frauenaktes) cachée dans la forêt“, in der um den gemalten Akt mit dem in Schönschrift handgeschriebenen Titel die Porträtfotografien der Mitglieder der Surrealistengruppe angeordnet sind, allesamt mit geschlossenen Augen. Veröffentlicht wurde das erst im Dezember 1929 in der 12. Nummer der Zeitschrift La Révolution Surréaliste, Scholz kann es also zum Zeitpunkt der Entstehung der beiden hier vorgestellten Bilder noch gar nicht gekannt haben. Die Ideen jedoch sind verwandt, auch wenn sie unterschiedliche Ausprägungen erfahren haben. Sieht man das etwas spätere Porträt von Elisabeth Scholz im Zusammenhang mit der Aktdarstellung, dann weist ihr Blick auch hier auf etwas Unbekanntes, außerhalb unserer Wahrnehmung oder Erfahrung Liegendes hin. So, wie auch die Surrealisten ständig dem hinter der Idylle oder dem schönen Schein steckenden Grauen auf der Spur waren.

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