Harry Graf Kessler war eine der schillerndsten Figuren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Dandy, Kunstförderer und gnadenloser Beobachter. Eine Schau im Liebermann-Haus zeigt ihn im Spiegel seiner Tagebücher
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20.05.2016
„Started from Hamburg this morning at 11 o’clock with aunt Lulu. Arrived here at five. Directly went to the Central Hotel, and took rooms there. Then had dinner. In the evening went to the Opera. Heard ›Gudrun‹. The Crown prince and prince Wilhelm were there.“ Mit größter Selbstverständlichkeit notiert der 14-jährige Harry Graf Kessler in sein Tagebuch seinen ersten Besuch in Berlin. Die Unterbringung im luxuriösen Central Hotel, nach dem Kaiserhof das zweite Haus am Platz, und der Besuch der Oper scheinen für den Teenager offenbar genauso selbstverständlich zu sein, wie die Anwesenheit des Königshauses. Berlin ist nur eine von vielen Metropolen, in denen sich der junge Kosmopolit sicher bewegt. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass er mit dieser Stadt sein Leben lang eng verbunden sein wird.
Nach diesem ersten Tagebucheintrag im März 1883 wird er fortan einen Berlin-Besuch pro Jahr notieren, bis er sich knapp zehn Jahre später in Potsdam zum Militär meldet. Vor den Toren der Hauptstadt stationiert, ist nun das Pendeln einfach und er macht vielfach Gebrauch davon, um alle Vorzüge der Großstadt auszukosten. Und Berlin nimmt ihn von Anfang an großzügig auf. Schnell wird er Teil der dortigen Gesellschaft, begegnet allen Menschen der Kunst- wie der Hofwelt und wird bald selbst zu einer zentralen Figur des gesellschaftlichen Lebens.
Der Dandy geht bei den großen Salondamen ein und aus: bei Cornelia Richter, Mutter seines Studienfreundes Gustav; bei Luise Begas, Schwägerin des Bildhauers Reinhold Begas; bei Helene Gräfin Harrach, Marianne Gräfin Schlippenbach, Hildegard Baronin Spitzemberg oder deren größter „Konkurrentin“ Marie Gräfin Schleinitz, Förderin Richard Wagners, der er später in seinen Memoiren ein Andenken setzt. Bei ihr meint Kessler noch „den Duft Bettinas und Rahels“ zu verspüren – die Romantikerinnen Bettina von Arnim und Rahel Varnhagen, mit denen er die Gräfin Schleinitz vergleicht: „Kaum schön, aber einen sicheren Bestand mädchenhafter Jugendlichkeit klug pflegend, erschien sie abends in einer Wolke von Spitzen und Tüll bei gedämpftem Licht in den Prunksälen ihrer Botschaft und begann mit den gerade Anwesenden fast ohne Übergang eine Konversation.“
Nicht selten kommt es vor, dass Kessler drei Einladungen an einem Tag nachkommt: „Bei Frau Begas gefrühstückt. Dort noch Dora Hitz, Meier-Graefe, Sattler, Axel Gallén, Lucas v. Cranach, ein Nachkomme des berühmten, Bodenhausen und Rudolf Genée. Genée mich als Mitglied des neuen Mozart-Vereins aufgenommen. Nachher mit Bodenhausen zu v. d. Heydt u. Frau Richter. Abends zum Ball beim Kriegsminister Bronsart.“ Er geht auf Tanzabende, interessiert sich für Pferderennen oder nimmt an Jagden teil. Er besucht Museen und Ausstellungen, ebenso wie Opern, Theater, Varietés oder Konzerte. Schon bald lässt er sich bei Hofe einführen und wird Gast der zahlreichen Hofbälle. Hier ist er scharfer Beobachter des aristokratischen Treibens und spart nicht an satirischen Kommentaren: „In giftigen Kontrasten von Grün und Rot sitzt die lange Reihe der Fürstinnen und Botschafterinnen zu beiden Seiten des Thrones beieinander; der Glanz ihrer Diamanten ist in der krassen Beleuchtung hart und unecht; die Schminke auf den alten Gesichtern und Hälsen schimmert violett; die hohen Damen sehen aus wie eine von einem farbenblinden Regisseur geordnete Bank schlecht aufgeputzter Theaterprinzessinnen.“ Bei allem Genuss, Teil des Berliner Treibens zu sein, bleibt sein Verhältnis zur Gesellschaft zwiespältig: „Wer sich langweilt, mag oder kann nicht beobachten. Ich gestehe allerdings zu, daß ich mich selber recht häufig langweile.“
Intensiv beschäftigt er sich zugleich mit Kunst. Seine zahlreichen Besuche in Museen und Galerien sind kaum zu überblicken, und seine Reflexionen durchaus substanziell: „Im Museum. Die neuen Bilder, Fouquet, Memling u Ruysdael sind zusammen ausgestellt. Wie das 15te Jh. in Italien, Frankreich, Deutschland u den Niederlanden das Porträt entdeckte, so das 17te die Landschaft u. das 19te die Farben als Brechungsprodukte des Lichts; auf diesen Gebieten herrscht daher jedesmal die unmittelbarste Frische u. Brillenlosigkeit; nachher sehen die Künstler jedesmal schon durch die Augen ihrer Vorgänger.“ Eine Ausstellung im Liebermann-Haus am Pariser Platz widmet sich nun Kessler und seiner Weltbeobachtung in den Tagebüchern.
Der 1868 geborene Sohn eines deutschen Bankiers und einer in Bombay aufgewachsenen Irin ist deutscher Staatsbürger, jedoch ebenso in Frankreich und England beheimatet. Er ist nicht nur hervorragend erzogen, sondern auch in perfekter Dreisprachigkeit aufgewachsen. Ein Europäer im besten Sinne des Wortes. Seine Kindheitsjahre und Schulausbildung verbringt er zunächst in Paris, später im Internat im englischen Ascot und schließlich in der ehrwürdigen Hamburger Gelehrtenschule Johanneum, wo er als Klassenbester das Abitur abschließt. Seine Familie steht dem preußischen Herrscherhaus nahe; der Taufpate seiner 1877 geborenen Schwester Wilhelma ist kein geringerer als Kaiser Wilhelm I., der die Familie zwei Jahre später in den Adelsstand hebt.
Da sich Kessler gegen die Übernahme des väterlichen Geschäfts entscheidet, schlägt er eine diplomatischen Laufbahn ein. Zu diesem Zweck nimmt er 1888 ein Jurastudium in Bonn auf, das er später in Leipzig fortsetzt. Doch lässt er sich Zeit. Erst im Jahr 1900 absolviert er sein Assessorenexamen. Die Beschäftigung mit Kunstgeschichte, Weltreisen in ferne Länder, seine Militärzeit in Potsdam und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Berlins halten ihn vom stringenten Studieren ab. Zudem ermöglicht ihm der Tod seines Vaters 1895, der Kessler ein beträchtliches Vermögen hinterlässt, fortan ein unbeschwertes Leben, ohne den Zwang, einem Beruf nachgehen zu müssen.
Doch ein intellektuelles Vagabundenleben, das er nun hätte führen können, in dem er sich auf das scharfsinnige Beobachten und Beschreiben der Gesellschaft hätte beschränken können, genügt Kessler nicht. Er sucht nach sinnvollen Aufgaben. Und so engagiert er sich bei der bibliophilen Berliner Zeitschrift Pan, einem der wichtigsten Organe des Jugendstils. Zahlreiche junge Künstler veröffentlichen dort ihre Illustrationen, darunter Franz von Stuck, Félix Vallotton oder Thomas Theodor Heine. Die französischen Impressionisten haben hier ihren ersten Auftritt in Deutschland. Autoren wie Richard Dehmel, Theodor Fontane, Paul Verlaine oder Alfred Lichtwark schreiben für Pan. Kesslers Aufgabe ist es, neue Künstler für die Zeitschrift zu akquirieren, die er nach Möglichkeit persönlich aufsucht. Kein Aufwand ist ihm zu groß, und so reist er zu diesem Zweck sogar bis nach Paris oder London. Ein Münchner Besuch im Juli 1896 verspricht gute Ausbeute für die Zeitschrift: „Früh bei Peter Halm und mit ihm das Münchener Heft durchgesprochen; dann bei Erler und Strathmann Bestellungen. Erler der Erscheinung nach ein biederer deutscher Hauslehrer, Strathmann schneidig und etwas jüdisch oder tschechisch. Nachmittags bei Richter Derleth getroffen, der Gedichte von sich deklamierte und für den Pan versprach.“
Nicht selten stößt er bei den Künstlern zunächst auf Skepsis, die er – oder auch seine Begleiter – durch ihre Überzeugungskraft auszuräumen wissen: „Früh mit Lichtwark und Bodenhausen bei Menzel. Zuerst war er sehr schlecht auf den Pan zu sprechen; es wären darin Sachen gewesen, die nicht einmal die Bezeichnung Stümperarbeit verdienten; ganz ›skandalöse‹ Sachen. Allmählich umgarnte und überredete ihn aber Lichtwark, wie die Katze mit der Maus mit ihm spielend. Schliesslich, als das Gespräch auf die ihm zum achtzigsten Geburtstag von allen Seiten bevorstehenden Ehrungen und auf das Fest in Sanssouci gebracht worden war, heiterte er sich ganz auf. Nachdem er ausführlich erzählt hatte, wie der ganze Hergang in Sanssouci gewesen war, versprach er dann auch Zeichnungen für das Januarheft.“ Doch die Zeitschrift erweist sich aufgrund ihrer großen Exklusivität in Aufmachung und Preis sowie der weitgefassten Thematik als nicht konkurrenzfähig. So muss ihr Erscheinen bereits 1900 wieder eingestellt werden. Kessler aber hatte großen Nutzen aus ihr gezogen, entstand doch in diesen Jahren sein umfassendes Netzwerk an Beziehungen zu zahlreichen Intellektuellen und Künstlern und machte ihn selbst zu einer zentralen Figur des kulturellen Lebens im Berlin der Jahrhundertwende.
Im Jahr 1897 begegnet Kessler erstmals dem belgischen Universalkünstler Henry van de Velde, mit dem er einige Jahre freundschaftlich verbunden bleibt. Diesem eröffnet er neue Perspektiven in Deutschland. Ohne zu zögern, engagiert er ihn für die Einrichtung seiner kurz zuvor gekauften Berliner Wohnung in der Köthener Straße 28. Es entsteht ein einmaliges Ensemble moderner Wohnkultur, in die seine herausragende Kunstsammlung mit vor allem impressionistischen und neoimpressionistischen Werken integriert wird. Die Pariser Kunsthandlungen von Ambroise Vollard oder Paul Durand-Ruel sind immer wieder beliebte Ziele Kesslers, um seine Sammlung zu erweitern.
Als Kessler Ende Dezember 1898 das großformatige Gemälde „Les Poseuses“ von Georges Seurat kauft, muss eine neue Lösung für sein Speisezimmer gefunden werden, da das Bild für den Raum zu groß ist. Van de Velde und er einigen sich kurzerhand darauf, die Leinwand zu zwei Dritteln aufzurollen und nur den Ausschnitt auf der rechten Bildseite zu zeigen, der sich am besten in die Farbharmonie des Zimmers einfügt. Erst viel später, 1923, rollt er das Bild wieder aus, um es in der neuen Bibliothek anzubringen. Erstaunt stellt er fest: „Der gerollte Teil, die beiden Figuren links, kamen in prachtvoller Frische heraus. Sie haben durch die lange Dunkelheit nicht nur nicht gelitten, sondern sind heller u frischer (wahrscheinlich nur staubfreier) geblieben als die Figur rechts.“
Im Jahr 1900 zieht van de Velde mit seiner Familie ganz nach Berlin und wird von seinem Gönner sogleich integriert: „Harry Kessler ließ keine Gelegenheit vorübergehen, meine Frau und mich bei interessanten Menschen einzuführen, wodurch sich der Gesellschaftskreis, in dem wir lebten, ständig vergrößerte“, erinnert sich der Künstler später. „Kesslers Appartement in der Köthener Straße war zu einem Zentrum geworden, wo sich Deutsche und Ausländer, vor allem aus Kreisen der Diplomatie, trafen, deren Unabhängigkeit in künstlerischen Meinungen und deren fortschrittlicher Geschmack als verbindende Kräfte wirkten.“
Kessler scheint mittlerweile mit allen Geistesgrößen seiner Zeit bekannt zu sein. Unglaubliche 12.000 Namen enthalten seine Tagebücher, die er über 57 Jahre minutiös und umfassend führte. Die 57 dicht beschriebenen Hefte und Bücher mit insgesamt etwa 10.300 Seiten geben nicht nur sein bewegtes Leben eindrucksvoll wieder, sondern entfalten das großartige Panorama einer ganzen Epoche. Eine einzigartige Quelle zur deutschen Gesellschaftsgeschichte vom Kaiserreich bis zum aufstrebenden Nationalsozialismus, geschrieben von einem unerbittlich scharfen Beobachter, sensiblen Denker und Kunstliebhaber. Die Leidenschaft, sein Leben schriftlich festzuhalten, beginnt bereits 1880: „This morning the emperor comes on the promenade und speaks to mamma.“ So liest sich der fünfte in ein Schulheft notierte Tagebucheintrag des damals noch in seiner Muttersprache schreibenden 12-Jährigen. Fortan führt er kontinuierlich Buch, nahezu täglich und bis an sein Lebensende. Ungeschönt – nicht selten mit einem ironischen Unterton – verfasst er seine Eindrücke und Urteile.
So bezeichnet er die Aufmachung der Kaiserin ungeniert als „billiges Knallbonbon“ oder beschreibt den eitlen Kritiker Alfred Kerr mit den Worten „Paviankopf und lyrische Augen“. Über den Dramatiker Frank Wedekind notiert er: „Mehr Sadist als Freiheitskämpfer.“ Die Dichterin Else Lasker-Schüler missfällt ihm als „grässliche Person“. Auch Heinrich Mann kommt nicht gut weg: „Er wirkt auf mich immer wie ein Stockfisch.“ Und an dem französischen Dichter Paul Valéry fällt ihm die „subtile Mischung von befriedigter Eitelkeit, Schauspielertum, Überreiztheit, ausgezeichneter gesellschaftlicher Form“ auf. Erstaunlicherweise gibt Kessler, der niemals geheiratet hat und sich wohl eher zu Männern hingezogen fühlt, über sein eigenes Gefühlsleben kaum etwas in seinen Tagebüchern preis.
Neben Berlin eröffnet ihm eine zweite Stadt weitreichende Möglichkeiten zur Entfaltung: Weimar. 1903 nimmt Kessler dort das Amt des ehrenamtlichen Leiters des neuen Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe an. Auch wenn er weiterhin seine Wohnung in Berlin behält, wird die thüringische Stadt nun für die nächsten 30 Jahre zum Zentrum seines Wirkens. Erneut überlässt er van de Velde die Gestaltung seiner Wohnung, die zur neuen Bühne für seine beeindruckende Kunstsammlung und eine elegante Anlaufstelle für die Kunst- und Kulturprominenz wird.
Kessler hofft, in der Kleinstadt ein strahlendes, kulturelles Zentrum etablieren zu können, was ihm die Großstadt Berlin nicht ermöglichen konnte. Hier will er nun seine künstlerischen Visionen von Museen, Ausstellungen, Lesungen oder Theater verwirklichen. Doch seine Pläne scheitern an konservativ-nationalistischen Widerständen. Sein Fokus auf die Moderne, und speziell auf die französische Kunst, kommt in Weimar nicht sonderlich gut an. Als er 1906 eine Ausstellung mit „unsittlichen“ Aktzeichnungen Auguste Rodins zeigt, wird die Kritik an ihm so laut, dass er schließlich von seinem Direktorenamt wutentbrannt zurücktritt.
Dies geschieht im selben Jahr, in dem der Maler Edvard Munch das berühmt gewordene Gemälde von Harry Graf Kessler fertigstellt, ein meisterhaftes Porträt in Lebensgröße. Es zählt zu den besten Gemälden des Norwegers und zeigt den vornehmen homme du monde in elegantem Dreiteiler mit Schlips, Spazierstock, Sommerhut und polierten Schuhen vor gelblichem Hintergrund. Munch hält sich zwischen 1902 und 1908 überwiegend in Deutschland auf, wo er auch mehrfach Kessler in Weimar besucht und ihn 1904 erstmals porträtiert.
Zehn Jahre zuvor, noch in Berlin, hatte Max Liebermann Kessler vor Munch gewarnt, von dessen Qualität er nicht überzeugt war: „Munch, wissen Se, det is ooch Eener der besser jethan hätte Schuster zu werden.“ Diese Geringschätzung sollte Kessler jedoch nicht davon abhalten, den jungen Künstler sogleich aufzusuchen, ihm ein paar Radierungen abzukaufen und sich künftig für ihn einzusetzen, obwohl auch er seine Werke „wenig sympathisch“ findet.
Kessler unterstützt immer wieder die Künstler seiner Zeit. 1908 unternimmt er mit zweien, die ihm besonders nahestehen, eine ausgedehnte Griechenlandreise: mit dem französischen Bildhauer Aristide Maillol und dem österreichischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal. Maillol ist Harry Graf Kessler erstmals 1904 begegnet, der für ihn über Jahrzehnte hinweg zum wichtigsten Mäzen wird. Gleich bei der ersten Begegnung ordert Kessler eine Skulptur, die zu einem Hauptwerk des Bildhauers werden sollte: „Ich fand unter seinen Zeichnungen eine Skizze von einer zusammengekauerten weiblichen Figur, die mir durch die wunderbare Arabeske der Linien und deren knappe Zusammenfassung so auffiel, dass ich Maillol, der von beabsichtigten Steinskulpturen gesprochen hatte, vorschlug, sie für mich in Stein auszuführen. Maillol plädierte für Lebensgrösse; und wir einigten uns hierauf, wenn der Preis es erlaubte.“ Es ist die Figur „La Méditerranée“, zu der Kessler den Bildhauer inspiriert hat. Als Gipsfassung wird sie 1905 im Pariser Herbstsalon ausgestellt und bringt Maillol einen ersten großen Erfolg.
Hofmannsthal lernt Kessler bereits 1898 kennen, trifft ihn immer wieder und tauscht sich mit ihm aus. Sie haben ein intensives, wenn auch nicht immer einfaches Verhältnis. Gemeinsam schreiben sie nach ihrer Rückkehr aus Griechenland das Libretto zur Oper „Der Rosenkavalier“, die in der Vertonung von Richard Strauss ein Welterfolg wird.
Doch im Anschluss kommt es zum zeitweiligen Zerwürfnis: Die unscheinbare Widmung, die Hofmannsthal Kessler zudachte, ist diesem zu wenig. Kurze Zeit später arbeiten sie schon wieder zusammen, um für den russischen Impresario Sergei Djagilew das Ballett der „Josephslegende“ zu schreiben. Immer wieder treffen sie sich auch in Berlin – hier vorzugsweise im Hotel Adlon am Pariser Platz. Kessler nutzt das mondäne Hotel unzählige Male, um sich mit Künstlern und Intellektuellen auszutauschen, um mit Politikern und Journalisten zu debattieren. Denn neben seinem Engagement für die Kunst ist die Friedenspolitik ein Thema, das Kessler spätestens seit Ende des Ersten Weltkriegs intensiv beschäftigt.
Er sympathisiert sogar mit der Revolution, was ihm den Beinamen „der rote Graf“ einbringt. Er begeistert sich für die pazifistischen Ideen des ewigen Friedens, für eine weltweite Völkerverständigung jenseits des Nationalen und engagiert sich für entsprechende Organisationen. Bereits während des Ersten Weltkriegs trifft er sich im Adlon mit den Repräsentanten der deutschen Politik, etwa mit Gustav Stresemann oder dem Exkanzler Bernhard von Bülow. Aber auch die führenden Pazifisten, darunter der Dichter Rainer Maria Rilke, der Expressionist Johannes R. Becher oder die Schriftstellerin Annette Kolb sind dort seine Gesprächspartner. Selbst während der Revolution im Winter 1918/19, als das Adlon nicht gerade als günstigster Treffpunkt erscheint, da es während „der Schiessereien wegen seiner Lage verödet ist“, hält Kessler dort fast täglich seine Arbeitsessen ab.
Auch die „goldenen“ Zwanzigerjahre Berlins gehen an Kessler nicht spurlos vorüber, wie die Begegnung mit der amerikanischen Tanzlegende Josephine Baker 1926 deutlich macht. Er sieht sie im Hause des Tausendsassas Karl Vollmoeller am Pariser Platz erstmals tanzen und ist fasziniert: „Um 1, nachdem gerade meine Gäste gegangen waren, rief Max Reinhardt an, er sei bei Vollmöller, sie bäten mich beide, ob ich nicht noch hinkommen könne? Miss Baker sei da, und nun sollten noch fabelhafte Dinge gemacht werden. Die Baker tanzte mit äusserster Groteskkunst und Stilreinheit; wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die Tänzerinnen Salomos und Tutankhamons getanzt haben. Sie tut das stundenlang scheinbar ohne Ermüdung, immer neue Figuren erfindend, wie im Spiel, wie ein glückliches Kind. Ein bezauberndes Wesen, aber fast ganz unerotisch.“
Sogleich beschließt Kessler, eine Pantomime für Baker zu schreiben. Er lädt sie wenige Tage später zu einer Gesellschaft in seine Wohnung ein und bemerkt begeistert, wie sie sich Maillols „Méditerranée“ tänzerisch annähert: „Nach Tisch gegen Mitternacht holten die Lanshoff und Guseck die kleine Negertänzerin Josephine Baker, für die ich das Bibliothekszimmer ausgeräumt hatte, damit sie tanzen könne. Dann machte sie einige Bewegungen, stark u. ausdrucksvoll grotesk, vor der grossen Maillol Figur. Offenbar setzte sie sich mit dieser auseinander; sah sie lange an, machte ihre Stellung nach, lehnte sich in grotesken Stellungen an sie an, sprach mit ihr, sichtbar beunruhigt von der ungeheuren Starre und Wucht des Ausdrucks, tanzte um sie in grotesk grandiosen Bewegungen herum wie eine kindlich spielende, über sich selbst und ihre Göttin sich lustig machende Priesterin. Man sah: der Maillol war für sie viel interessanter und lebendiger als die Menschen, als Max Reinhardt, Vollmoeller, Harden, ich.“
Doch sollte das bunte Treiben bald ein Ende haben. 1931, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, muss Kessler hoch verschuldet seine 1913 gegründete Buchdruckerei Cranach-Presse in Weimar schließen, mit der er bibliophile Maßstäbe gesetzt hat. Inflation und Wirtschaftskrise lassen ihn völlig verarmen. 1933 – mit dem aufkommenden Nationalsozialismus – geht Kessler zunächst nach Paris, um bald nach Mallorca überzusiedeln. Er sollte nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Aus der Ferne muss er miterleben, wie sein Weimarer Besitz zwangsversteigert und seine Berliner Wohnung geplündert wird. Am 30. November 1937 verstirbt der einstmalige Mäzen und Gesellschaftsmensch verarmt und einsam in einem Krankenhaus in Lyon.
„Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne“, Stiftung Brandenburger Tor, Max Liebermann Haus am Pariser Platz, seit 21.Mai, verlängert bis 25.September 2016
Dieser Artikel ist in der Weltkunst erschienen – 04/2016 „Berlin-Spezial“