Deutsche Kunst in Lettland? Die neu eröffnete Ausstellung „Wahlverwandtschaften“ im Arsenals Kunstmuseum in Riga zeigt auf, welches Potential in der Neu-Verortung von Kunstwerken liegt. 77 Arbeiten deutscher Künstlerinnen und Künstler von den späten 1960er-Jahren bis heute treten mit der Stadt in einen Dialog
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29.06.2016
Über zwei Metern spannen sich die Flügel des schwarzen Vogels auf der Leinwand. Er startet seinen Flug. Bernd Koberling schuf mit rohen Pinselstrichen 1982 das Werk als Zeichen für die kulturelle Neubelebung Deutschlands. Wer mit den nationalen Symbolen vertraut ist, erkennt darin den Bundesadler. In der lettischen Küstenstadt Riga, wo das Bild aktuell im Rahmen einer Retrospektive deutscher Kunst gezeigt wird, könnte es nun ganz anders interpretiert werden.
Angesichts dieser Neu-Verortung von Kunstwerken stellt sich die Frage, welche Bedeutung man einer Ausstellung deutscher Gegenwartskunst in einem gesamteuropäischen Raum heutzutage noch zusprechen mag. Ist ein nationales Konzept, im Hinblick auf eine globalisierte Welt, die geprägt ist vom grenzübergreifenden, kulturellen Transfer, nicht längst überholt?
Diese Gedanken drängen sich angesichts der am 17. Juni in Riga eröffneten Ausstellung „Wahlverwandtschaften – Elective Affinities“ , auf. Die Schau versammelt eine Auswahl von insgesamt 77 Werken über fünfzig deutscher Künstlerinnen und Künstler von den späten 1960er-Jahren bis heute. Kuratiert von Mark Gisbourne, vereint sie die Prominenz der modernen deutschen Kunstgeschichte mit Namen wie Gerhard Richter, Joseph Beuys, Candida Höfer, Georg Baselitz, Rosemarie Trockel, Martin Kippenberger oder Neo Rauch. Doch der Entschluss gründet nicht, wie vermuten lässt, in einer politischen Absicht zur Förderung nachbarschaftlicher Freundschaft. Möglich wird sie durch die finanzielle Unterstützung eines privaten Investors mit einer großen Affinität zur zeitgenössischen Kunst aus Deutschland. Dass maßgebliche Impulse für ein solches Projekt von einem lettischen Kunstmäzen ausgehen, darf durchaus hinterfragt werden, denn welche Rolle die persönlichen Interessen der Geldgeber bei der Zusammenarbeit mit institutionellen Einrichtungen spielen, bleibt oft unbeachtet.
Doch für die einheimische Bevölkerung, insbesondere die jüngere Generation, ist es ein interessantes Novum. Die letzte Schau deutscher Kunst liegt 28 Jahre zurück. „Lange konzentrierten sich die Letten auf die eigene Kultur“, erzählt Astrida Rogule vom lettischen Nationalmuseum, die an der Ausstellung mitgewirkt hat, auf der Pressekonferenz. Die auflebende Sehnsucht nach einer Beteiligung auf internationaler Ebene wird auch an anderen Orten der Stadt Riga spürbar. Vor wenigen Tagen erst entschied sich eine Fachjury für einen 30 Millionen Euro teuren Bau des britischen Architekten David Adjave, in welchem bereits ab 2022 ein Zentrum für zeitgenössische Kunst eröffnet werden soll. Die Stadt sucht Anschluss und das macht auch die Ausstellung deutlich.
Dichtgedrängt hängen die großformatigen Publikumsmagneten in den Räumen des Arsenals, einem ehemaligen Militärgebäude im Stadtzentrum. Gisbourne verzichtet dabei auf eine klassische chronologische Hängung und gliedert die Schau in vier Sektionen: Zu Beginn des Rundgangs wird der Besucher mit einer Auswahl expressiver Malereien und Skulpturen, auf die künstlerische Radikalität der Nachkriegsgeneration eingestimmt. Die darauffolgende Gruppe kombiniert Positionen, die sich forschend mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Danach widmet sich die Ausstellung abstrakter und konzeptueller Kunst, um abschließend jene Künstler zu versammeln, die selbstkritisch das Verständnis zeitgenössischer Kunst analysieren.
Zwar widerspricht die lockere und freie Zusammenstellung dem Anspruch Gisbournes, eine umfassende historische Retrospektive präsentieren zu wollen, doch ebenjener Aspekt ermöglicht neue Sichtweisen und Dialoge zwischen den Werken. Die gewollte Auflösung der Grenzen evoziert überraschende Momente, wenn beispielsweise Katharina Grosse mit einer farbenreichen Wandarbeit, flankiert von Jonathan Meese und gegenüber von Daniel Richter zu einem Sprössling der „Neuen Wilden“ avanciert. Oder wenn eine Malerei von Willi Sitte, der aufgrund seiner Tätigkeit als regierungstreuer Künstler der DDR bis heute kontrovers diskutiert wird, neben dem Werk „Ränitzgasse 19“ (1977) von A. R. Penck hängt. Dessen Bilder wurden von der Staatssicherheit der DDR beschlagnahmt, seine Aufnahme im Verband Bildender Künstler abgelehnt. Die Zusammenstellungen sind durchaus gewollt. Der Titel „Wahlverwandtschaften“ soll die Intention verdeutlichen, übereinstimmende Tendenzen und gemeinsame Entwicklungen, frei von klar definierten Zeiträumen und Orten, sichtbar zu machen.
Dieser Ausgangspunkt demonstriert auch die Bedeutung des nationalen Kulturtransfers: Lettland, erst 1991 wieder als unabhängiger Staat anerkannt, durchlebte in seiner Historie die Besatzung durch Schweden, Russland, Polen und Deutschland. Die Nachwehen dieses jahrhundertelangen Freiheitskampfes sind noch heute wahrnehmbar. Mit der Ernennung Rigas zur europäischen Kulturhauptstadt 2014 wurde dem Land viel positive Aufmerksamkeit zuteil, auf dessen Basis eine entschiedene Hinwendung zum internationalem Kulturaustausch erfolgte. Die Auswahl deutscher Gegenwartskunst untersucht somit nicht nur die eigene Geschichte sondern ermöglicht auch eine längst überfällige transnationale Annäherung. Denn die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung und insbesondere des Kulturbetriebs der DDR sind nur zwei Knotenpunkte an denen Einflüsse und Gemeinsamkeiten beider Länder sichtbar und Dialoge bezüglich einer gesellschaftlichen Neuorientierung ermöglicht werden.
Wie aktuell die Debatte eines selbstkritischen Blicks auf die eigene Kultur ist, präsentiert im Rahmen der Ausstellung beispielhaft Julian Rosefeldts Vier-Kanal-Videoinstallation „Ship of Fools“ von 2006. Sie zeigt fahnenschwenkende Fussballfans auf einem Boot, das an einer Anlegestelle vorbeizieht. Daneben, in der romantisierenden Ästhetik Caspar David Friedrichs, steht mit dem Rücken zum Betrachter ein tätowierter Neofaschist, der mit langsamen Schritten eine diesige Sumpflandschaft durchquert. Gedreht wurden die Szenen im brandenburgischen Sacrow. Als der Künstler, die während der WM 2006 aufkommende Flaggendebatte in seiner Arbeit aufgriff, müssen die wehenden Fahnen wohl eher als Mahnung verstanden worden sein. Doch der Umstand, dass die Diskussion aktuell noch genauso relevant wie vor zehn Jahren ist, steigert die dem Werk innewohnende ernstzunehmende Brisanz.
Auch Ruprecht von Kaufmanns „Die Gefangenen“ von 2011 führt einem unweigerlich die Debatte von territorialen Ausgrenzungen vor. In Anlehnung an van Goghs „Rundgang der Gefangenen“ (1889), umgehen mehrere Häftlinge eine Ziegelsteinmauer an dessen oberen Ende Scheinwerfer und Stacheldraht befestigt sind. Die umliegende Landschaft wird durch verschiedenste Grautöne zu einer trostlosen Welt in der weder Tag noch Nacht zu sein scheint. Ein in der rechten oberen Bildecke auftauchendes Mikrofon entblößt die Szene subtil als ein inszeniertes Filmset und lässt die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen.
Von Joseph Beuys, der den Grundstein einer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit legte, über nachfolgende Künstlergenerationen die sich mit der deutschen Kriegsgeschichte und dem Holocaust beschäftigten sowie mit der Ost-West-Teilung und der Wiedervereinigung konfrontiert wurden, bis zu aktuellen künstlerischen Strömungen, vereint die Ausstellung bemerkenswerte Positionen. Der Verzicht Gisbournes auf einen gelenkten historischen Blick eröffnet Anknüpfungspunkte und Dialoge zwischen zwei Ländern, die den Austausch miteinander suchen. Dabei werden Gemeinsamkeiten und das Potential kultureller Verschmelzung ausgelotet. Der unvoreingenommene Blick von außen ist auch immer eine Chance, das eigene Selbst in neuem Licht zu betrachten.
„Wahlverwandtschaften – Elective Affinities“, Arsenals Kunstmuseum, Riga, bis 21. August