Ausstellungen

Der Anti-Klimt

Um 1900 erfand Richard Gerstl in Wien die wilde Malerei. Eine Schau in der Neuen Galerie New York würdigt vom 29. Juni bis 25. September sein kurzes Schaffen.

Von Nina Schedlmayer
22.02.2017

Wer durch die dicht besiedelten Bezirke Wiens streift, dem begegnen auf Schritt und Tritt Tafeln, gut sichtbar an Hausfassaden angebracht: Sie erinnern an prominente Personen, die an der jeweiligen Adresse geboren wurden, wohnten, starben. Am Gebäude in der Liechtensteinstraße 20, einem Wohnhaus in Wien-Alsergrund, hängt kein derartiges Schild. Im Flur wartet an einem Nachmittag im Januar ein älterer Herr auf den Lift. „Richard Gerstl? Nie gehört!“, sagt er und schüttelt den Kopf, als er auf den einstigen, kurzzeitigen, aber umso bedeutenderen Bewohner des Hauses angesprochen wird. Im Dachatelier setzte 1908 der Maler Richard Gerstl – 1883 in Wien geboren – seinem Leben ein Ende. Erst zwei Wochen zuvor hatte er sein Domizil bezogen, wie der Kulturhistoriker Raymond Coffer in einer akribischen Recherche herausfand. Zu den letzten Werken, die der Künstler hier schuf, gehört ein Akt. Coffer zufolge stellt das Bild Gerstls damalige Geliebte dar – Mathilde Schönberg. Die Frau des Zwölftonmusik-Komponisten Arnold Schönberg.

Wenn die Neue Galerie in New York die Werke des bereits 25-jährig verstorbenen Einzelgängers in einer Schau präsentiert, die zuvor in der Frankfurter Schirn zu sehen war, so wirbt sie zu Recht mit dem Zusatz „Österreichs erster Expressionist“. Das Unternehmen ist ambitioniert: Von 60 überlieferten Arbeiten hat die Kuratorin Ingrid Pfeiffer 53 zusammengetragen, darunter Gerstls wichtigste Gemälde: etwa das Gruppenporträt „Die Familie Schönberg“, in dem sich die Formen aufzulösen scheinen und das, aus der Nähe betrachtet, schon den wilden, rauen Strich eines Willem de Kooning erahnen lässt; das „Selbstbildnis als Akt“, in dem der Maler sich hüllenlos und selbstbewusst, Hand in die Hüfte gestützt, inmitten pastos und schmissig auf die Leinwand geworfener Farbgewitter darstellt; oder „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“, die in ihren weißen Kleidern gleichsam eingesperrt wie entmaterialisiert wirken.
Richard Gerstl nahm wichtige Strömungen der Malerei vorweg, wie auch Pfeiffer betont. Ich treffe die Schirn-Kuratorin zu einem Vorabgespräch im Wiener Leopold Museum, wo sie auf das Gemälde eines Paars im Grünen weist und erklärt: „Das hier erinnert an Bad Painting. Gerstl war seiner Zeit voraus.“ Das Leopold Museum beherbergt einige der anrührendsten und spannendsten Kompositionen des Malers, der die Stile gern wechselte, je nach Sujet durchexerzierte, experimentierte. „Ein junger Mann, der sich ausprobiert“, so Pfeiffer. Ein bürgerliches Interieur, in dem Gerstls Bruder als Reserveleutnant strammsteht, scheint von van Gogh beeinflusst. Der Akt von Mathil­de Schönberg, den er in der Liechtensteinstraße malte, erinnert dagegen an Edvard Munchs späte Arbeiten. Ein frühes „Selbstbildnis als Halbakt“, in dem er mit einem weißen Tuch um die Hüften posiert, scheint noch vom Symbolismus geprägt, mit Einflüssen von Ferdinand Hodler. Und einige seiner Gruppenbildnisse besitzen jene Radikalität, die lange nach seinem Tod Künstler späterer Generationen faszinierte – eine Radikalität, wie sie in Wien zuvor kaum gesehen war.

Dass es Gerstl zu Lebzeiten nicht gelang, seine Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren, lag allerdings nicht ausschließlich an der Verständnislosigkeit seiner Kunst gegenüber: Als der Jungspund einmal von der Galerie Miethke, damals zweifellos eine der wichtigsten Kunsthandlungen der Metropole, zu einer Gruppenausstellung eingeladen wurde, verweigerte er sich. Seine Begründung: Er wollte keinesfalls wie geplant neben Gustav Klimt ausstellen. Die dekorative Auffassung des stilprägenden Starkünstlers war seinem jüngeren Kollegen ein Gräuel.
Auch eine andere Episode zeugt davon, dass es Gerstl an Selbstbewusstsein nicht mangelte: Bereits im Alter von 15 Jahren hatte das Wunderkind bei Christian Griepenkerl an der Akademie der Bildenden Künste studiert. Nachdem er mit diesem aufgrund künstlerischer Differenzen zusammengekracht war, wechselte er zu einem anderen, progressiver eingestellten Lehrer: Heinrich Lefler. Allerdings ließ ihn dieser später nicht in der Schau seiner Studenten ausstellen. Erzürnt, wie er war, beschwerte sich Gerstl umgehend postalisch – allerdings nicht bei Lefler selbst oder dem Rektorat, er wandte sich gleich an das Ministerium für Cultus und Unterricht. Er schimpfte: „Da für mich der Rector der k. k. Akademie keine Instanz bildet, bitte ich das Unterrichtsministerium mich für diese Handlungsweise, die sicher mehr als incorrect ist, zu entschädigen.“ Der Sommer 1908, in dem dieser Brief geschrieben wurde, war jene Zeit, in der sein Verhältnis mit Mathilde Schönberg aufflog, gefolgt vom Bruch mit dem Komponisten sowie von Gerstls Selbstmord – das Drama eines kurzen Lebens, gespielt in heftiger Malerei.

Nach seinem Tod blieb Gerstl von der Öffentlichkeit lange wenig beachtet. Zwar entdeckte 1931 der damals in Wien lebende Kunsthändler Otto Kallir sein Werk wieder. Und 1956 hingen seine Gemälde im Österreich-Pavillon der Biennale Venedig, gemeinsam mit Werken vieler junger Künstler. Auch der große Sammler und spätere Museumsgründer Rudolf Leopold wurde früh auf Gerstl aufmerksam. Erst eine umfassend angelegte Ausstellung im Jahr 1993 erfuhr größere Aufmerksamkeit, auch jenseits von Österreichs Grenzen. Gerstl kann als klassischer Fall eines „Artist’s artist“ betrachtet werden: Er besitzt zwar nicht die Prominenz eines Klimt oder eines Schiele, spielt aber für viele Künstler eine wichtige Rolle. Schon die Wiener Aktionisten interessierten sich in den Sechzigerjahren für seine Art der Selbstdarstellung. Und auch eine Malerin wie Martha Jungwirth – die 77-jährige Wienerin wird gerade von einer jüngeren Generation neu entdeckt – verehrt Gerstls Kunst. In ihrem Atelier hängt eine Postkarte der Fey-Schwestern, die sie an „zwei ganz böse, blöde Eulen“ erinnerten, wie sie mir einmal verriet.
Die Ausstellung ist aus Frankfurt nach New York gewandert, in die Neue Galerie, die der 1938 vor den Nazis geflohene Kunsthändler Kallir einst gründete. Vielleicht erkennen dann auch die für Gedenktafeln zuständigen Wiener Ämter die Bedeutung dieses freien Radikalen. 

ABBILDUNG GANZ OBEN

Richard Gerstl, „Die Familie Schönberg“, 1908, Öl auf Leinwand, 88,8 × 109,7 cm, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Familie Kamm, Zug 1969, (Foto: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien)

AUSSTELLUNG

„Richard Gerstl“, Neue Galerie, New York, 29. Juni bis 25. September

Eine Version dieses Beitrags erschien in

WELTKUNST Nr. 126/2017

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