Ausstellungen

Die Sammlung des Stoffkönigs Wolfgang Ruf

Wolfgang Ruf hat in Jahrzehnten eine einzigartige Sammlung historischer Textilien zusammengetragen. In Beckenried am Vierwaldstätter See hütet er seine Schätze, die mühelos ein ganzes Museum füllen könnten

Von Gloria Ehret
04.03.2017

Die Kleidermode hat längst Einzug in die Museen gehalten. Wie Modeschauen konzipierte Ausstellungen avancieren zu Publikumsmagneten. Wesentlichen Anteil hat daran Wolfgang Ruf. Wenn man die Galerie Ruf in Beckenried bei einer Suchmaschine eingibt, zeigt sich nur ein modern-kubischer Betonbau. Was das Innere birgt, steht in krassem Gegensatz zur nüchtern-modernen Schale. Ein Besuch ist nur nach Voranmeldung möglich – verständlich, denn eigentlich gibt es spontan nichts zu kaufen. Obwohl hier die wohl umfangreichste und bedeutendste private Sammlung historischer Textilien von 1430 bis in unsere Tage auf einen neuen Besitzer wartet. Das „einen“ ist wörtlich zu nehmen, denn Wolfgang Ruf gibt die singuläre Kollektion nur geschlossen ab. Als Kunde hat er Museen im Visier. Damit nicht genug: Der etwaige Käufer oder die interessierte Institution soll nicht nur diese über 1300 Stoffe geschlossen übernehmen, sondern damit auch gleich die sensationelle Kostümsammlung Kamer-Ruf, die in einer Nachbargemeinde untergebracht ist. 

Die über 650 kompletten Damenroben, Herrenanzüge und Kinderkleider mit rund 700 Accessoires spiegeln die europäische Mode von 1700 bis 1920 in allen Facetten. Mit beiden Kollektionen ließe sich auf einen Streich ein Textil- und Modemuseum einrichten, das dem internationalen Vergleich auf höchstem Niveau standhalten würde.

Die Entstehung von Wolfgang Rufs Sammlung

Wie kommen ein so außergewöhnlicher Fundus und ein so eigenwilliger Kunsthandel zustande? Wolfgang Ruf, Jahrgang 1949, wurde im badischen Rastatt geboren. Der Vater hatte eine Möbelfabrik für französische Betten, die noch heute existiert. Der Sohn stieg in die väterliche Firma ein. Nach dem Abitur in Singen und dem Universitätsstudium in München war der Diplomkaufmann sieben Jahre als Geschäftsführer der Ruf-Bett International in Rastatt tätig. Wolfgang Rufs private Neigungen galten seit Jugendtagen dem Klavier- und Orgelspiel. Schon die Mutter hatte Klavier gespielt und der Sohn früh die Orgel bei der sonntäglichen Messe. Kaum zu glauben: in einem Alter, in dem sich Jungen für Autos oder verwegene Sportarten interessieren, kaufte sich der 19-Jährige einen Hammerflügel. Es sollte nicht der einzige bleiben. 

Im riesigen Wohnbereich seines Hauses in Beckenried stehen davon gleich drei, dazu fünf historische Orgeln aus dem 18. Jahrhundert und eine riesige, die er sich nach seinen Vorstellungen hat bauen lassen.

Ruf lässt sich nicht lange bitten und intoniert die schönsten Fantasien an den unterschiedlichen Tasteninstrumenten für den staunenden Besucher, der beglückt lauscht und die Mischung aus moderner Architektur mit Blick auf den Vierwaldstätter See während des beeindruckenden kleinen Hauskonzerts erst einmal verdauen muss.

Wer den Kunsthändler so erlebt, kann nachfühlen, dass die Tätigkeit im väterlichen Betrieb seine innersten Lebenswünsche nicht erfüllen konnte. Denn schon als Schüler ist er mit seinem Elsässer Jugendfreund Jean-Michel Tuchscherer, ebenfalls ein leidenschaftlicher Orgelspieler, durchs Elsass gereist, um gemeinsam alle erreichbaren Orgeln zu besichtigen. Als Wolfgang Ruf sich entschied, die Bettenfirma gegen den Kunsthandel zu tauschen, war es der Rat des Freundes Tuchscherer, mittlerweile Leiter des ­Musée des Tissus in Lyon, sich beruflich historischen Textilien zu widmen. Das kam überraschend, denn die hatte der leidenschaftliche Museumsbesucher Ruf bis dahin überhaupt nicht wahrgenommen. 

Damals gab es international nur drei ältere Kunsthändlerinnen in Paris, New York und Los Angeles, die sich auf internationalem Niveau mit dem Thema beschäftigten. So folgte der 32-Jährige dem Rat des Freundes und eröffnete 1981 in Rastatt seinen Kunsthandel für „Europäische Textilien“ des 14. bis 20. Jahrhunderts, der auch Kostüme des 18. bis 20. Jahrhunderts umfasste. Mit Verve arbeitete er sich in das Spezialgebiet ein. Ihm war klar, dass er „kompromisslos ganz oben einsteigen“ und nur mit neuwertigen Stoffen handeln wollte. Von Anfang an kaufte er ausschließlich authentische Objekte in hervorragendem Zustand, die weder restauriert noch gereinigt werden mussten.

Schnell wuchs Rufs Sammlung historischer Stoffe

Schon im ersten Jahr konnte Ruf rund 40 Seidenstoffe des 17. und 18. Jahrhunderts erwerben, wobei sich die internationalen Kontakte des Musikinstrumenten-Sammlers für den neuen Kunsthändler als sehr nützlich erwiesen. Anschaulich erzählt Ruf, wie er sich für seinen ersten Kundenbesuch bei der Abegg-Stiftung in Riggisberg eigens einen Metallkoffer gekauft hatte, den er leer wieder mit zurücknahm, weil das weltberühmte Museum alle seine mitgebrachten Textilien angekauft hatte. Und von Anfang an war ihm klar, dass er seinen auf höchstem Niveau angesiedelten Kunsthandel ausschließlich mit Museen bestreiten wollte. „Rund 75 Prozent meiner Arbeitszeit verbrachte ich auf der Suche nach erstklassigen Stücken. Ich war mindestens dreimal im Jahr in Paris, London oder den USA.“ Er kaufte bei Händlern in Mailand, Rom, Madrid und auf den internationalen Auktionen von Christie’s, Sotheby’s, Phillips oder Bonhams. „Früher konnte man auch auf den Märkten wie Portobello Road oder in Paris hervorragende Einzelstücke entdecken. Inzwischen ist der Markt leergefegt.“

Noch in den 1980ern gewann er das ­Kyoto Costume Institute mit seiner ungebrochenen Textiltradition als wichtigen Kunden, was ihn rund 15-mal nach Japan führte. Die enge Verbindung zu Japan hat für den Besucher der Galerie übrigens zur Folge, dass man im Hause Ruf in Beckenried die Straßenschuhe ausziehen und in ein Paar in allen Größen bereitstehender Pantoffeln schlüpfen muss. Denn die auffallend schönen hellgrauen Holzböden sind nur gewachst, „und in ­Japan läuft kein Mensch mit Straßenschuhen im Haus herum“, so Ruf.

1998 übersiedelte Wolfgang Ruf mit seiner Galerie in die Schweiz. 2001 hatte er das Glück, ein Seegrundstück in Beckenried erwerben zu können, in dem nun die Hammerflügel, Orgeln und Textilien unter einem Riesendach vereint sind. Wobei Ruf betont, dass er Geschäft und private Sammelleidenschaft streng trennt. Anfangs hat er seine Textilien ge- und verkauft. Doch in den letzten 20 Jahren hat er außergewöhnliche Stücke ausschließlich gesammelt, sodass er mit berechtigtem Stolz sagen kann, er verfüge mit über 1300 Stoffen über die weltweit größte private Kollektion europäischer Textilien von 1430 bis ins 20. Jahrhundert.

Einer der Riesenräume ist diesen Textilien vorbehalten. In großen Schränken mit einer Vielzahl flacher Schubladen, ähnlich den Grafikschränken, sind die historischen Beispiele untergebracht. Wolfgang Ruf weiß ganz genau, welches Fach er aufziehen muss, um uns seinen frühesten, um 1430 gewebten, leuchtend grünen Samt zu präsentieren.

„Die Museen besitzen oft auch Fragmente, meine Sammlung umfasst nur Stoffe, die über ihre volle Webbreite mit den originalen Webkanten verfügen und mindestens einen Musterrapport enthalten. Das heißt, sie variieren in der Länge zwischen 60 und 300 Zentimetern bei einem Durchschnitt von 100 bis 200 Zentimetern“, erklärt Ruf. Dabei springt seine Begeisterung auf den Besucher über, wenn er die historischen Samte und Seiden in leuchtend frischen Farben und eleganten Mustern herausnimmt und fachkundig erläutert. Es ist ein erhabenes Gefühl, wenn man mit den Fingern über einen satt-grünen italienischen Seidensamt aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts streichen darf. Dieses älteste Stück konnte er 2000 in Paris erwerben. Um 1470 ist die „Kölner Borte“ zu datieren, ein schmaler gemusterter Stoffstreifen, wie man ihn auf samtene Messgewänder aufgenäht hat. Mit leuchtenden Augen erläutert Ruf die ungemein aufwendige Technik eines Samtes um 1530, dessen feine Seidenfäden eng mit flach geklopften Goldstreifen umwickelt sind. Viele historische Stoffe wurden einst als Möbelbezug, Wandbespannung oder zu Kostümen verarbeitet. So ließe sich mit dem circa 20 Meter langen, silberbroschierten Seidensamt aus der Zeit um 1600 ein komplettes Raumkonzept rekonstruieren.

Historische Kostüme und kostbare Stoffe

Auch damals war die Mode in höfischen Kreisen, in denen solche Stoffe fast ausschließlich getragen wurden, kurzlebig. So kann man viele Entwürfe wie etwa den dunkelroten Samt mit Granatapfelmuster fast auf ein Jahrzehnt genau datieren. Eleonora von Toledo trägt auf ihrem Porträt von Agnolo Bronzino (1503–1572) ein Samtmieder, zu dem sich ein vergleichbares Stoffstück in der Sammlung befindet. Wie so oft, kommt vieles in der Mode wieder: Ruf verweist auf ein Gewebe um 1680, dessen Motiv der Architekt Viollet-le-Duc auf der Weltausstellung 1855 in Paris erneut aufgreifen sollte.

Bei der Farbenpracht und Mustervielfalt der sogenannten bizarren Seiden, deren Verbreitung gegen 1690 begann und die im 18. Jahrhundert ihren Siegeszug feierten, gehen einem die Augen über. Erst recht, wenn man sich die betörende Wirkung solcher Gewänder bei schimmerndem und flackerndem Kerzenlicht vorstellt! Im 17. Jahrhundert kam die Ikat-Technik auf, bei der das Garn vor dem Weben mit Holzmodeln bedruckt wurde. Eine Anzahl perfekt erhaltener Stoffe diente einst als Musterkollektion für Vertreter der Lyoner Manufaktur.

Gelegentlich lassen sich direkte Bezüge zu bekannten Persönlichkeiten herstellen. So liegt ein Muster von dem Lyoner Textilkünstler und -entwerfer Philippe de Lasalle für die russische Zarin Katharina die Große in zwei technisch mehr oder weniger aufwendigen Varianten vor. Bei den rund 50 zwischen 1785 und 1810 entstandenen Stickmuster-Originalen aus Lyon mit Pailletten, die alle von Hand aufgenäht sind, hofft Ruf, dass die wohl auf den Sticker bezogenen Initialen „F.D.“ noch aufzulösen sind.

Um 1865 kamen die ersten Gewebe mit chemischen Farben als letzter Schrei auf den Markt. Wie knallig das künstliche Blau neben den natürlichen Rottönen wirkt, veranschaulicht ein Stoff mit Spitzenmuster. An schier endlosen Ständern hängen Stoffbahnen des 20. Jahrhunderts, deren Muster nachweislich eigene Entwürfe berühmter Künstler sind. Die Wiener Moderne ist mit einem 1899 entworfenen Design von Koloman Moser und einem weiteren von Otto Prutscher aus dem Jahr 1911 dabei. Die Parade großer Künstler mit Stoffkreationen ergibt ein ­Alphabet von Willi Baumeister über Peter Behrens, Marc Chagall, Salvador Dalí, Fernand Léger, Joan Miró, Dagobert ­Peche, Pablo Picasso, Serge Poliakoff und Angelo Testa, der das New Bauhaus Chicago vertritt, bis Andy Warhol.

Damit haben wir erst die Hälfte von Wolfgang Rufs unermesslichen und akribisch dokumentierten Schätzen gestreift. Ein zweiter Besuch gilt der wenige Kilometer entfernt untergebrachten Kostümsammlung Kamer-Ruf. Lange führten der gelernte Schweizer Kostümbildner Martin Kamer, Jahrgang 1943, der in London und New York tätig war und beispielsweise eng mit Nurejew zusammengearbeitet hat, und Wolfgang Ruf in Rastatt ihren Kunsthandel „in fairer Konkurrenz“. Doch vor rund zehn Jahren entschlossen sich beide zu einer Partnerschaft, die das Team im Bereich historischer Textilien und Mode unschlagbar macht. Denn ihre europäische Kostümsammlung mit über 650 höfischen und ab dem 19. Jahrhundert auch bürgerlichen Ensembles und früher Haute Couture sowie den rund 700 Accessoires deckt den Zeitraum von 1700 bis 1920 komplett ab. Kaum zu glauben, wie raffiniert Schnitte und Stoffeinsatz verwendet wurden. Neben den kostbaren Toiletten samt Schuhen, Taschen, Hüten oder Schals staunt man über Ausgefallenes wie ein Schwangerschaftskleid des 18. Jahrhunderts oder das, was man normalerweise nicht sieht: Korsagen, Krinolinen, die Klappgestelle für den Cul de Paris, die „Monobusen“ oder frühe Büstenhalter.

Einen eigenen Sektor bildet die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende funktionelle Sportkleidung wie Tennis-, Bade- oder Schlittschuh-Dress. Die einschlägigen Museen in Berlin, Boston, Chicago, Los Angeles, Ludwigsburg, München, New York oder Sydney gehören längst zu Rufs Kunden. Wo wird dieser noch am Vierwaldstätter See gehütete Schatz an ­Textilien und Modezubehör wohl sein endgültiges Zuhause finden?

Service

Abbildung oben:

Blick in die Sammlung Wolfgang Ruf in Beckenried

Dieser Text erschien in

WELTKUNST Nr. 125/2017

Zur Startseite