Teresa Hubbard und Alexander Birchler begaben sich auf Spurensuche nach einer vergessenen Künstlerin, Aberto Giacomettis intimer Freundin Flora Mayo. Am 13. Mai begann die Biennale in Venedig, wo ihre filmische Hommage als Schweizer Beitrag Premiere feiert.
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13.03.2017
Erinnerungen sind fragil. Sie fallen Umdeutungen anheim, unbewussten Interpretationen, den Erosionen des Vergessens. Wir können oft schon nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob die Geschehnisse zu unseren Lebzeiten wirklich genau so vorgefallen sind, wie wir uns an sie erinnern. Und kommt es zu den Leben der Generationen vor uns, bleibt oft nichts als Erzählungen zurück – selektive, zufällige Erzählungen und unwiederbringliche Leerstellen.
Teresa Hubbard und Alexander Birchler arrangieren die letzten Details auf ihrem Filmset im Hinterhof einer alten Brauerei in Berlin-Pankow, bevor die Dreharbeiten für „Flora“ beginnen, ihre neueste Arbeit – für den Schweizer Pavillon der diesjährigen Venedig-Biennale. Dabei erzählen sie von der unbekannten amerikanischen Künstlerin Flora Mayo, um die sich der Film dreht und die einer der ungewöhnlichsten frühen Skulpturen von Alberto Giacometti den Namen verlieh. Abgenutzte Jahrhundertwendemöbel und alte Wandteppiche bestimmen das Bild, ein bordeauxroter Samtvorhang unterteilt den Raum, neben dem Bett mit seinem altertümlichen, eisernen Gestell stehen Blumen und einige Kerzenständer, auf der bescheidenen Kommode eine Waschschüssel und ein Krug aus bemaltem Porzellan. Durch die weiß getünchten Backsteinmauern und die alten Fenster kann man den Wind von draußen hören.
Hubbard und Birchler, 51 und 54, machen seit zwei Jahrzehnten Filme. Offiziell nennt sich das Künstlerduo Hubbard / Birchler, die Nachnamen gleichberechtigt durch Leerstelle, Schrägstrich, Leerstelle getrennt. Es sind Filme von großer Schönheit, die ihre Zuschauer in Hypnose versetzen, weil sie ebenjene Leerstellen unserer kollektiven Erinnerungen ausmessen und den Raum des Nichtwissens ausleuchten. So auch in „Flora“. Man hat das Gefühl, schon einmal in diesem Künstleratelier gewesen zu sein, das die beiden auf dem Berliner Set mit großer Genauigkeit und Gespür für das Atmosphärische entstehen lassen. Es ist ein Kompositum aus Hintergründen unzähliger Fotos und Filme.
Alexander Birchler enthüllt die Büste eines jungen Mannes aus grauem, ungebranntem Ton, die in der Mitte des Raumes steht. Die Büste stellt niemand anderen als Giacometti dar, den teuersten Bildhauer aller Zeiten. Teresa Hubbard präsentiert ein historisches Schwarz-Weiß-Foto, das ebendiese Büste zeigt, daneben Giacometti mit wilden Haaren und eine schöne junge Frau mit dunklem Bob, Flora Mayo. Dieses Foto bildete den Ausgangspunkt für die Arbeit an “Flora“. „Als ich das Foto zum ersten Mal sah“, sagt Hubbard, „faszinierte mich, dass in dem Moment, als es gemacht wurde, beide Kunststudenten waren, beide standen am Anfang ihrer Karriere.“ „Und außerdem ist auf diesem Foto Giacometti das Modell und Flora die Bildhauerin“, sagt Birchler. Giacomettis Skulptur von Mayo blieb erhalten, Mayos Skulptur von Giacometti nicht.
Flora Mayo war Alberto Giacomettis erste große Liebe. Sie war 26, als sie ihn 1925 an der Académie de la Grand Chaumière im Pariser Montparnasse traf, in einer Klasse des französischen Bildhauers Antoine Bourdelle; er war zwei Jahre jünger. Man weiß fast nichts über sie. James Lord, Autor der einschlägigen Giacometti-Biografie, beschreibt sie als „unreife, alkoholkranke höhere Tochter“ und die Beziehung der beiden als „gestört“. Lords Ansicht nach habe Mayo Giacometti nicht gutgetan, dieser habe dennoch nicht von ihr lassen können. Nach fünf Jahren verließ der Bildhauer sie unter undurchsichtigen Umständen. Birchler und Hubbard müssen schmunzeln. „Lords Biografie ist, wie drückt man es am besten aus, sexistisch“, sagt Birchler. „Wir können nicht wirklich wissen, wer Flora Mayo war, und wahrscheinlich werden wir es auch nie wissen. Es ist zu wenig von ihrem Leben übrig geblieben.“
Hubbard und Birchler arbeiten nicht nur zusammen, sondern sind seit Mitte der Neunzigerjahre auch ein Paar. Birchler ist – wie Giacometti – Schweizer, Hubbard – wie Mayo – Amerikanerin. Birchler wurde in Baden geboren, einer kleinen Schweizer Stadt, Hubbard, in Dublin geboren, wuchs als Tochter amerikanischer Eltern in Australien auf und hat heute auch einen Schweizer Pass. Wie die Protagonisten ihres neues Films führen sie ein weltläufiges Leben, fern von den Orten, aus denen sie kommen; zurzeit teilen sie sich ihre Zeit zwischen Berlin und Austin auf, wo Hubbard eine Professur am bekannten Kunstinstitut der University of Texas innehat, auch Birchler arbeitet dort. Mit poetischen Filmen wie „Eight“ (2001) oder „House with Pool“ (2004) brachte das Künstlerduo zu Beginn seiner Karriere das Erzählerische in die zeitgenössische Kunst zurück, zu einer Zeit, als es nicht populär war, so zu arbeiten, und die Konzeptkunst die Diskussionen bestimmte. Vor wenigen Jahren vollzogen sie in ihrem Schaffen etwas, was von außen wie eine Wende zum Dokumentarischen wirkt. In Filmen wie „Grand Paris Texas“ (2009), „Movie Mountain (Méliès)“ (2011) und „Giant“ (2014) setzte sich das Duo etwa mit den Spuren auseinander, die Stummfilm, Autorenkino und Hollywood in Texas hinterlassen haben, von Wim Wenders bis zu Elizabeth Taylor. Doch auch diese Filme beinhalten nachgestellte Szenen, schaffen psychische Räume, denen man sich kaum entziehen kann. Bei den Arbeiten der beiden muss man an die Filme von Maya Deren, Terrence Malick oder Luis Buñuel denken. Niemandem gelingt es besser abzubilden, wie nah beieinander Schönheit und Tragödie im Alltag liegen können. In mancher Hinsicht machen Hubbard / Birchler Kino für eine Zeit, in der das Kino viel von seiner traditionellen Wirkung verloren hat.
Wie Hubbard und Birchler in einer intensiven Recherche in Archiven, Bibliotheken und Zensusbehörden herausfanden, gab es über Flora Mayo sehr viel mehr zu erfahren, als Giacomettis Biograf vorgab. Die wohlhabende Familie, aus der Mayo stammte, besaß ein großes Kaufhaus in Denver, Colorado, mit Filialen in Paris und London. Mit 19 wird die junge Frau in eine unglückliche Ehe gezwungen, in der sie eine Tochter, Joan, bekommt. Nach fünf Jahren reicht Mayo die Scheidung ein, lässt ihre Tochter zurück und siedelt nach Paris um, um Künstlerin zu werden. Eine damals unerhörte Entscheidung. Hier geht sie die Beziehung mit Giacometti ein. Eine Zeit lang geht es ihr finanziell gut, und sie unterstützt den Schweizer Bildhauer, etwa indem sie eine Skulptur von ihm kauft.
Doch Mayos Familie verliert ihr Vermögen in der Weltwirtschaftskrise und der darauf folgenden Rezession, Flora muss 1933 nach Amerika zurückgehen. Dort arbeitet die junge Frau an der Drehbank in einer Waffenfabrik; später putzt sie Toiletten und muss von der Wohlfahrt und von Lebensmittelmarken leben.
Bei ihren Recherchen entdeckten Hubbard und Birchler, dass Mayo nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten noch ein zweites Kind bekam. David Mayo ist inzwischen 81 Jahre alt und lebt in Los Angeles. Die Gespräche, die sie mit ihm führten, spielen eine wichtige Rolle in „Flora“. Seine Mutter hatte ihm nie erzählt, wie viel sie aufgegeben hat. Ihr Sohn erinnert sich daran, dass sie gern in Ausstellungen ging, von ihrem Leben als Künstlerin hatte er vor der Begegnung mit Hubbard und Birchler nichts gewusst. Mayo hörte auf, Kunst zu machen, als sie Paris verließ. Nach ihrer Rückkehr in die USA war sie so arm, dass sie David in eine Pflegefamilie geben musste, wo sie ihn nur an Sonntagnachmittagen sehen konnte. In seiner Garage bewahrte er eine Kiste mit Fotos aus dem Leben seiner Mutter auf. Er hatte sich stets gefragt, wer der Mann mit den wirren Haaren war, hatte ihn für „irgendeinen Russen“ gehalten. „Flora“ ist ein Film über Mayo und Giacometti, aber auch über ein Gespräch zwischen einem Sohn und seiner toten Mutter.
Die Kunstgeschichte ist nicht nur reich an Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen, sondern auch voll stiller Ironie. Der Schweizer Pavillon in Venedig wurde von Giacomettis Bruder entworfen, dem Architekten Bruno Giacometti, dennoch wollte der Bildhauer dort nie ausstellen. Kuratiert von Philipp Kaiser, werden Hubbard und Birchler den Pavillon zusammen mit der Bildhauerin Carol Bove bespielen. „Flora“ wird auf zwei großen, hintereinander angebrachten Leinwänden mit einem gemeinsamen Soundtrack im sogenannten Malereisaal präsentiert. Im kleineren Druckgrafischen Kabinett steht Mayos rekonstruierte Büste von Giacometti, in Bronze gegossen. Die dokumentarischen und die fiktionalen Aspekte des Films sind getrennt voneinander zu sehen, aber „sie geben sich an einigen Stellen die Hände“, wie Birchler sagt. Im Film werden Mayos Briefe gelesen, David Mayo spricht über seine Mutter , und in den in Berlin nachgestellten Szenen kann man beobachten, wie Giacometti Mayo Modell sitzt.
Es ist charakteristisch für die Arbeit des Künstlerduos, wie dabei das, was sich lange unbeobachtet im Hintergrund der Geschichte befand, in den Vordergrund gerückt wird. „In unserer Arbeit geht es immer um die Peripherie“, sagt Hubbard. „Wir interessieren uns für Menschen am Rande des Weltgeschehens und die Leben, die sie führen. Ich bin mir als Künstlerin sehr bewusst, über wen geschrieben wird und über wen nicht, wer Geschichte macht und wer nicht.“ Während Hubbard und Birchler über ihre Protagonistin sprechen, wird deutlich, welch große Zuneigung sie für sie haben. Hubbard lächelt, als sie erzählt, dass Mayo Giacometti immer „Jack“ genannt hat. Es ist ein berührendes Detail aus einem schwierigen Leben.
Wenn man die Perspektive von der Peripherie her einnimmt, hat das den Vorteil, dass man einen neuen Blick aufs Zentrum werfen kann. Die Giacometti-Forschung kann in dem Film von Hubbard / Birchler viele Anregungen finden. Aber mehr noch geraten so auch die Zufälle in den Blick, die unser Leben bestimmen. Von der Peripherie aus kann man besser erkennen, wie wir davon beeinflusst werden, dass Dinge außerhalb unserer Macht geschehen und unter anderen Vorzeichen anders hätten ausgehen können. Und das ist vielleicht die eigentliche Leistung der hypnotischen Filme von Teresa Hubbard und Alexander Birchler: dass sie das Leben in all seiner Komplexität abbilden, dass sie nicht versuchen, die Leerstellen unserer kollektiven Erinnerung zuzudecken, sondern stattdessen auf sie hinweisen, sie offen lassen und auf diese Weise die Unwägbarkeiten des Lebens erfahrbar machen, die hinter diesen Leerstellen liegen.
Die Skulptur, die Flora Mayo von ihrem Geliebten Alberto Giacometti gekauft hatte, um ihn finanziell zu unterstützen, gab sie an ihn zurück, als sie Paris den Rücken kehren musste. Sie wäre heute wohl einen mehrstelligen Millionenbetrag wert. Mayo selbst starb in Armut. Doch dass ihr Sohn so wenig vom früheren Leben seiner Mutter wusste, lag daran, dass sie sich nie beklagte, dass sie sich niemals darüber beschwerte, was sie alles verloren hatte. Sie hatte sich einfach dafür entschieden, weiterzuleben.
Venedig
13. Mai – 26. November 2017