Wer Abseits des etablierten Kunstkalenders Neues entdecken möchte, sollte einen Blick nach Rumänien werfen. Dort läuft noch bis zum 5. November in Timișoara die zweite Ausgabe der Biennale „Art Encounters“.
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30.10.2017
Es ist das wichtigste Kunstereignis Rumäniens. Vom 30. September bis zum 5. November wird die drittgrößte Stadt des Landes, Timișoara, zum Zentrum für zeitgenössische Kunst. An mehr als 13 verschiedenen Orten versammeln sich 300 Positionen rumänischer und internationaler Künstlerinnen und Künstler. Darüber hinaus wird ein dichtes Begleitprogramm an Symposien, Künstlergesprächen und Performances angeboten.
Die zweite Ausgabe der Kunstschau steht unter dem Titel „Life a User’s Manual“. Ausgehend von ihrem Interesse an dem Verhältnis von modernen Lebenswirklichkeiten und zeitgenössischer Kunst, widmen sich die Kuratoren Ami Barak und Diana Marincu der Frage, auf welche Weise Alltagserfahrungen unsere Gesellschaft bestimmen. Dabei ließ sich das Kuratoren-Team von dem Roman La Vie mode d’emploi des französischen Schriftstellers George Perec inspirieren. Dieser beschreibt in 99 Kapiteln minutiös einzelne Räume und Bewohner eines Pariser Wohnhauses in den Siebzigerjahren und schafft damit ein Panorama menschlicher Existenzen die auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verflochten sind. In Timișoara gliedert das Team ihre Kunstschau in 11 Kapitel, die sich auf die verschiedenen Themenfelder Arbeit, Politik, Wohnen, Natur, Urbanität und Sexualität konzentrieren.
In ihrem Anspruch sowohl der jungen als auch der alten Künstlergeneration Rumäniens eine internationale Plattform zu schaffen, liegt die antreibende Kraft der „Art Encounters“. Dabei findet sie mit der facettenreichen Stadt Timișoara, die geprägt ist von historischen Bauten im Stil des Wiener Barock und Jugendstils sowie den typischen Betonbauten des Sozialismus, eine passende Bühne. In diesem vielfältigen Lebensumfeld entwickelte sich in den letzten fünf Dekaden eine außergewöhnliche Kunstszene.
Das Museum of Art auf dem Piața Unirii wagt einen Blick zurück in die Vergangenheit. Erstmals wird in dem Barockpalast des 18. Jahrhunderts eine Auswahl an Werken der Sechziger- und Siebzigerjahre rumänischer Künstler präsentiert, die bislang in der hauseigenen Sammlung der Öffentlichkeit verborgen blieb. Dazu gehören die Arbeiten der 1966 in Timișoara gegründeten Künstlergruppe 111group. Ihre Mitglieder Ștefan Bertalan, Constantin Flondor und Roman Cotoșman entwickelten einen vom Bauhaus und dem Konstruktivismus inspirierten Stil. In der ehemaligen Cafeteria der Technischen Universität, einem heruntergekommenem Flachbau, bekommt der Besucher einen Eindruck von der systemkritischen Kunst der Siebzigerjahre, die Anschluss an die internationale Avantgarde suchte.
Auch die junge Generation setzt sich mit der eigenen Vergangenheit künstlerisch auseinander. In dem gerade renovierten Bau des zukünftigen Corneliu Miklosi Public Transport Museum, einem alten Straßenbahndepot, finden sich die Kapitel zu Politik und Urbanität. Der kroatische Künstler David Maljkovic lässt hier eindrucksvoll Schwarzweiß-Fotografien, die verlassene Bauwerke der Sechzigerjahre darstellen, von ihrem einstigen Versprechen einer besseren Zukunft erzählen. Ein paar Meter weiter quellen aus alten Mülltonnen langsam Schaumkronen empor, die sich in meterlangen Bahnen unkontrolliert in der Ausstellungshalle ausbreiten. Michel Blazys „Fontaine de Mousse“ lässt recycelte Materialien und die Welt der Natur zu einer Metapher für die Kürze und Fragilität des Lebens verschmelzen. Auch Ahmet Ögut unterwandert die alltägliche Funktion von Objekten unserer städtischen Umwelt. Die für Gewalt und Autorität stehenden Schutzschilder, die von der rumänischen Polizei bei Demonstrationen eingesetzt werden, transformiert Ögut humorvoll zu Schwingtüren und verschiebt damit die Perspektive auf soziale und politische Fragen. Wem gehört die Stadt und wer darf sie kontrollieren? Eine mögliche Antwort darauf gibt Jozsef Barthas Do-it-yourself-Denkmal in Form eines grauen Obelisken aus Holz auf dem eine Überwachungskamera thront. Eine Montageanleitung im IKEA-Design für den Bau eines eigenen Obelisken dürfen sich die Besucher gleich mitnehmen.
Wer die „Art Encounters“ besucht entdeckt nicht nur spannungsreiche Kunst, sondern ebenso längst vergessene Orte. An einer stark befahrenen Verkehrsstrasse im Gewerbegebiet abseits der Altstadt, ruht unter blau-weiß gestreiften Stoffbahnen eine verlassene Tankstelle. Die Künstlervereinigung Lateral ArtSpace Association aus Cluj hat das marode Gebäude in kürzester Zeit entkernt und ihre Arbeiten dort installiert. Der autonome Kunstraum B5 Studio hat in der Peripherie eine alte Tabakfabrik in Beschlag genommen. Nachdem die Einbeziehung kommerzieller Galerien bei der ersten Ausgabe kritisiert wurde, entschieden sich die Organisatoren in diesem Jahr dazu, unabhängige Künstlerkollektive einzuladen, die Biennale mit zu gestalten. Dieses gegenseitige Vertrauen zwischen Teilnehmern und Organisatoren äußert sich auch im Projekt der Gruppe Balamuc. Livia Coloji, Ana Kun and Răzvan Cornici haben befreundete Künstler dazu eingeladen, ihre Skizzenbücher als Ausstellungsstücke einzureichen. Mit Handschuhen ausgestattet können die Besucher in ihrem Studio einen authentischen Eindruck von den unveröffentlichten Skizzenblöcken und –büchern erhalten.
Das Spannungsverhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem im Dasein eines Künstlers spiegeln auch die Kapitel zu Wohnen und Sexualität im frisch renovierten Casa Isho, einem ehemaligen Gebäude der ILSA Wollfabrik, wieder. So nimmt der Betrachter ganz unverhofft auf Roman Ondaks Fotografie die Perspektive seines Sohnes im Kinderbett ein und erlangt einen scheinbar intimen Blick in den Familienalltag. Pavel Brăila verarbeitet die Beziehung zu seiner Mutter indem er ihre eingekochten Gemüsekonserven ausstellt. Auch Pusha Petrov beobachtet die Intimität der Menschen, indem sie sich auf die Details des Alltags konzentriert. Sie fotografiert assoziationsstark geöffnete Damenhandtaschen. Das visuelle Ergebnis erhält eine erotische Dimension und spielt auf die Vagina an.
Die „Art Encounters“ beweist mit ihrer zweiten Edition, dass hinter der historischen Fassade der Stadt eine moderne Lebenswelt pulsiert. Den Künstlern gelingt es abseits gängiger Rumänien-Klischees konträre Realitäten sichtbar zu machen. Laut und klar formulieren sie gesellschaftspolitische Debatten unserer Zeit und treten miteinander in den Dialog. Wer sich im Superkunstjahr noch einmal überraschen lassen möchte, sollte auf einen Besuch nicht verzichten, denn in Timișoara erwächst eine Kunstszene mit reichlich Potential.
Alin Bozbiciu, „Ritual“, Öl / Lwd., 2017, 250 x 196 cm, Foto: YAP studio, Alin Bozbiciu