In Karlsruhe entpuppt sich der Postimpressionist als Meister der Verwandlung, in London widmet man sich seinen Porträts
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08.01.2018
Kunst verändert unsere Wahrnehmung. Das sagt sich so leicht. Doch für den Künstler ist dieses Ziel, mit einem Bild den Blick des Betrachters auf den Kopf zu stellen, gar nicht einfach zu erreichen. Einem, dem es immer wieder gelingt, ist Cézanne. Als gutes Beispiel dient das Aquarell, das uns zu Beginn seiner Überblicksausstellung in Karlsruhe begegnet. Es zeigt einen Stuhl aus Holz, auf dessen Sitzfläche eine weiße Jacke drapiert ist. Stoff türmt sich mit dem majestätischen Stolz eines Gebirges auf, die Falten der Jacke brechen abrupt wie Schluchten, Ärmellöcher starren wie Höhlen. Kurz gesagt: Das hingeworfene Kleidungsstück erinnert an die „Montagne Sainte-Victoire“, den Lieblingsberg Cézannes, der als Aquarell aus der Sammlung der Scottish National Gallery Edinburgh im folgenden Raum präsentiert wird. Was der Künstler mit seinem Stuhlbild aus den Jahren 1890–1892 erreicht, ist die zärtliche Monumentalisierung des Banalen. Nie wieder wird man den Ablagestuhl im eigenen Schlafzimmer anders betrachten können als durch die Augen Cézannes – weil der Künstler mit sparsamen Pinselstrichen die Essenz der Situation so wahrhaftig herausgearbeitet hat. Die passende Theorie beschrieb der Maler 1904 im Gespräch mit dem Kollegen Émile Bernard: „Nach der Natur malen bedeutet nicht, den Gegenstand zu kopieren, es bedeutet, seine eigenen Empfindungen zu verwirklichen.“
Nun hat Paul Cézanne (1839–1906) in seinem Leben gar nicht wenig selbst kopiert, vor allem die Werke geschätzter Kollegen. Und damit sind wir im dritten Raum der Ausstellung: Die splitternackte Kriegsgöttin Bellona aus dem Rubens-Gemälde „Apotheose Heinrichs IV. und die Regentschaft der Maria de’ Medici“ – im Original im Louvre, in Karlsruhe als Stich vorhanden – erscheint hier als Wiedergängerin nicht nur in einer Bleistiftkopie Cézannes, sondern in simplifizierter Form, aber identischer Pose auch in seinem Gemälde „Badende vor einem Zelt“ (1883–1885). Mit lebenden Modellen arbeitete der Künstler eher ungern, mit unbekleideten schon gar nicht. Da griff er bei seinen Akten lieber auf Vorlagen zurück: Ab den 1860er-Jahren erlaubte ihm der Louvre das Kopieren zu Studienzwecken. Und noch über seinen Tod hinaus hing an der Atelierwand in Aix-en-Provence der Druck eines Louvre-Hauptwerks, „Der Tod des Sardanapal“, gemalt 1827–1828 von Eugène Delacroix. Dieses Bild bewunderte Cézanne so sehr, dass er Elemente daraus für eigene Werke übernahm, etwa in „Liegender Weiblicher Akt und Birnen (Leda II)“ von 1887 (Abb. ganz oben). Die Ausstellung macht solche Übertragungsprozesse in prägnanten Gegenüberstellungen sichtbar. Gewöhnlich wird ja der Formenfinder Cézanne als wichtiger Vertreter der Vormoderne rezipiert, der schon ein prophetisches Auge auf die Zukunft namens Kubismus richtet. Hier erscheint er plötzlich auch als Traditionalist, als Künstler, der Bilder von Bildern malt, Neues aus Altem schafft und gleichzeitig nach vorn und zurückblickt – eine auf absurde Weise fast postmoderne Haltung.
Die zweite Erkenntnis der Ausstellung lautet: Cézannes Recycling der Bildmotive führte ihn hin zur Reduktion des Gegenstands und zur Betonung des Malprozesses. So konnte er seinen eigenen Stil entwickeln. Seine Arbeitsmethode – der Aufbau des Bildes durch harmonisch verteilte Farbpartien, die geometrische Vereinfachung der Gegenstände – durchdringt und verbindet dabei alle Bildgattungen. Von „Metamorphosen“ spricht Alexander Eiling, Kurator der Schau, in Bezug auf Werke, die zwischen den Gattungen oszillieren: Ein Stillleben mit Teekanne und Früchten auf einem Tisch erinnert in der Kompositionsstruktur auch an ein Landschaftsgemälde. Und im Vergleich mit einem doch recht unpersönlichen, schematischen Porträt von „Madame Cézanne im gelben Lehnstuhl“ scheinen die Äpfel aus dem Stilllebens, das einst Gertrude Stein gehörte, geradezu individuell und liebevoll geformt. Es sind wirklich fünf Charakteräpfel.
Cézanne war kein begnadeter Porträtist, wollte es wohl auch nie sein. Diese Einsicht vertieft sich, wenn man in London die aktuelle Ausstellung der National Portrait Gallery besucht, die mit über 50 Werken mehr als ein Viertel aller Porträtbilder Cézannes versammelt. Bemerkenswert, wie viel Mühe der Künstler 1866 beim Porträt seines Vaters für das Muster des Armsessels aufgewandt hat oder dass er im Bildnis des Kunstkritikers Gustave Geffroy von 1895–1896 die Buchrücken im Regal an der hinteren Wand einzeln kolorierte – während die Gesichter jeweils stark vereinfacht erscheinen. An einer Psychologisierung seines Gegenübers schien Cézanne beim Malen nicht interessiert. Er vertiefte sich lieber in ein Spiel mit Oberflächen, das ihm im Laufe der Zeit immer virtuoser von der Hand ging. Im letzten Lebensjahr entstand ein Porträt von Vallier, seinem Gärtner. Die Figur, aufgelöst in blaue, gelbe und grüne Flecken, verschwimmt mit den Schatten und dem Hintergrund der Vegetation. Der Mensch findet so Eingang in die Natur. Und der Verwandlungskünstler Cézanne seine Vollendung.
„Cézanne – Metamorphosen“, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bis 11. Februar
„Cézanne Portraits“, National Portrait Gallery, London, bis 11. Februar