Er träumte davon, Maler zu werden, und wurde stattdessen der berühmteste Glamourfotograf der Welt. In einer Ausstellung zum 100. Geburtstag von Irving Penn wird sichtbar, wie stark die Kunst seine Porträts und Stillleben prägte
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26.03.2018
Als Pablo Picasso 1957 einen Fototermin mit der US-Vogue hatte, ließen seine Agenten am Morgen verlauten, alles sei abgeblasen. Der Meister sei gar nicht zu Hause. Irving Penn war bereits in Cannes und muss etwas geahnt haben, denn er fuhr trotzdem zur Villa „La Californie“. Picasso empfing ihn in einem grauen Sweatshirt und gewährte mürrisch eine Audienz von gerade mal zehn Minuten. Penn hat das kleine Machtspiel mit Sicherheit gehasst. Schon damals war er für die kollaborativ-konzentrierte Atmosphäre bekannt, in der er seine Porträts machte, ob im Studio oder unterwegs. Aber, wie es so schön heißt, he rose to the challenge. Baute seine Kamera vor einem bodentiefen Fenster auf, brachte Picasso dazu, Hut und Umhang eines spanischen Caballero anzulegen, und legte los. Das Ergebnis ist in der großen „Centennial“-Ausstellung zu bewundern, die das Metropolitan Museum of Art zu Penns 100. Geburtstag zusammengestellt hat und die nun, wie durch ein Wunder bei C/O Berlin im Amerika Haus im Berliner Westen gastiert.
Penns Picasso ist nicht der stets zu Späßen aufgelegte Dackelfreund, mit dem Zeitschriften wie Life in den Fifties ein betont harmloses Bild des Großkünstlers prägten. Ganz auf dessen Blick fokussiert und nicht von ungefähr an ein berühmtes Plakat von Toulouse-Lautrec angelehnt, zeigt er uns den Picasso von „Guernica“ – einen finster melancholischen Ankläger. Ein weiteres Motiv aus dem Sitting, im exzellenten Katalog der Ausstellung abgebildet, ist dann eher der Picasso der „Las Meninas“-Variationen nach Velázquez, an denen der Künstler damals gerade arbeitete. Mit dem Anflug eines Lächelns posiert da ein mit allen Wassern gewaschener Haudegen, der in seinen 75 Jahren viel erlebt hat und den Teufel tun wird, sich jetzt vom Alter unterkriegen zu lassen. Welches ist der wahre Picasso? Beide. Warum? Weil Irving Penn bei beiden auf den Auslöser gedrückt hat.
Nicht ohne eleganten Seitenhieb auf seinen Gegenspieler an der Glamourfront erklärte Penn 1964 seinen Modus Operandi so: Während Richard Avedons Brillanz im Einfangen „eines komplett momenthaften Aspekts der Wahrheit“ bestehe, gehe es ihm beim Fotografieren um „einen fetteren Aspekt der Wahrheit“. Oft als Zeitlosigkeit beschrieben, ist Penns „fettere Wahrheit“ eher eine Verdichtung: Seherfahrung und Situation, momentaner Entschluss und penibles Handwerk beim Entwicklungsprozess verschmelzen miteinander und bekräftigen sich wechselseitig. „Penn beschrieb das, worauf er abzielte, als time capsule“, sagt C/O -Hauptkurator Felix Hoffmann. „Ob Personen oder Objekte, alles darin wirkt dezidiert unmodisch. Besonders frappierend ist es bei seinen Modefotografien. Das Zeitkolorit der 1950er oder 1980er verschwindet hinter dem Bild an sich.“
Ein Blick in die Kunstgeschichte
Es ist eine Prägnanz, wie sie sonst nur durch den zeitlich gestreckten Prozess der Ölmalerei an der Staffelei erreichbar ist, und sie wurde zu Irving Penns stilistischer Signatur. Stillleben wie bei Caravaggio oder Morandi, Modefotos von salonmalerischer Allüre, existenzielle Porträts der Kulturstars seiner Epoche, Zigarettenstummel als Memento mori: Penns sensationell vielfältiges Œuvre erzählt nicht nur vom Exil, das die figurative Kunsttradition Europas nach dem Zweiten Weltkrieg in den New Yorker Magazinen fand, sondern auch vom Aufstieg der Gebrauchsfotografie zur Fine Art. „In seinen Bildern stecken tiefe historische Verbindungen, und auch wenn sie nicht sofort auszumachen sind, spürt sie der Betrachter ganz intuitiv“, schreiben die Kuratoren-Koryphäe Maria Morris Hambourg und Jeff L. Rosenheim, der Fotokurator des Metropolitan Museum, in ihrem Katalogvorwort.
Im Juni 1917 in eine litauische Emigrantenfamilie in New Jersey geboren, studierte Irving Aaron Penn dank eines Stipendiums von 1934 bis 1938 am Pennsylvania Museum and School of Industrial Art in Philadelphia. Mit dem Artdirector Alexey Brodovitch fand er dort einen Mentor von kreativer Weltklasse. Bei ihm lernte Penn das Credo der Avantgarde, die absolute Forderung nach Originalität. „Wenn du durch die Kamera schaust und etwas siehst, was du schon vorher gesehen hast: Drück nicht auf den Auslöser“, so lautet ein viel zitierter Brodovitch-Spruch. In den Sommerferien assistierte Penn seinem Lehrer beim Layouten der Zeitschrift Harper’s Bazaar, deren Artdirector Brodovitch im Hauptberuf war. Und mit der Rolleiflex, die er sich vom ersten Bazaar-Honorar gekauft hatte, zog er durch die Straßen und träumte davon, mehr als bloß Gebrauchsgrafiker zu wer den. Denn noch immer lockte die Malerei. Das Jahr 1942 verbrachten er und seine erste Frau Nonny in Mexiko, um herauszufinden, ob sein Talent nicht vielleicht doch zur Karriere im Atelier reichte. Die Antwort war nein, und er reagierte mit charakteristischer Konsequenz: Im Herbst zerstörte er alle seine in Mexiko entstandenen Gemälde, und das junge Paar zog zurück nach New York.
Ein Jahr darauf erschien die amerikanische Vogue erstmals mit einem Penn-Cover: ein Stillleben neuer Herbstaccessoires, dem eine keck schief gepinnte Textkarte die Anmutung eines Trompe-l’Œil Gemäldes gab. Der wie Brodovitch aus Russland gebürtige und via Paris eingewanderte Vogue-Artdirector Alexander Liberman hatte Penn die Aufgabe gegeben, sich Covers für das Magazin auszudenken, das sich damals anschickte, Harper’s Bazaar als Stilautorität zu überholen. Die Kameraplatzhirsche Blumenfeld und Beaton ignorierten Penns Ideen, also hatte Liberman ihm einen Techniker für die Studiokamera mit Farbfilm an die Seite gestellt und angeregt, er solle es doch selbst versuchen. Der Rest ist Geschichte – 164 weitere von Penn fotografierte Vogue-Titel sollten folgen, ein bis heute unübertroffener Rekord.
„Ohne seine Lehrzeit bei Brodovitch wäre Penn nicht Penn geworden, aber ohne Liberman hätte er sich nie entfalten können“, bringt es Maria Morris Hambourg auf den Punkt. Der junge Penn in Jeans und der geschmeidige Kosmopolit Liberman mit Menjou-Bärtchen und einem Schrank voll grauer Einreiher: In der Liberman-Biografie „Alex“ von Dodie Kazanjian und Calvin Tomkins wird die symbiotische Zusammenarbeit der beiden ungleichen partners in crime sehr unterhaltsam beschrieben. Jedes Foto wurde im Voraus recherchiert, diskutiert und skizziert. Und Penn bestand darauf, dass nicht er, sondern Liberman das endgültige Layoutmotiv aussuchte. „Ich schätzte seine Wahl mehr als meine eigene“, erzählte er Jahre später. „Er suchte immer nach etwas von mir, dass mir selbst nie aufgefallen wäre.“ Ein solcher Glücksfall war zum Beispiel das ikonische Profilfoto von 1951, auf dem sich das Model Mary Jane Russell einen Tabakkrümel von der Zunge holt. „Die reale Geste einer realen Person“, erklärte Penn. „Alex hat das Bild beim Überfliegen der Kontaktbögen entdeckt. Es war ein Zufall.“ Libermann bewunderte Penns Geradlinigkeit, und ihm gefielen die Brüche – hier ein ausgefranster Teppich, dort ein abgebranntes Streichholz, Zeichen eines Lebens außerhalb des Motivs und von vergehender Zeit –, mit denen sein Protegé den glatten Optimismus des Vogue-Stils konterkarierte. „Penn mochte Äpfel mit fauligen Stellen oder Blumen, die bereits ihre Blütenblätter verloren. So etwas zu entdecken, im Kontext einer eleganten Modezeitschrift, war ein Schock.“
Als versierter Magazinmacher hatte Liberman keine Scheu, sich bei anderen Künstlern zu nehmen, was ihm gefiel, und es von Penn neu interpretieren zu lassen – so etwa Eugène Atgets Jahrhundertwende-Serie der Pariser petits mètiers in Arbeitskleidung beziehungsweise August Sanders „Antlitz der Zeit“ aus den 1920ern. Auch Penn wusste, dass kein Künstler eine Insel ist. Und er war selbstbewusst genug, um seine Inspirationsquellen in Zeichnungen offenzulegen, die er „Subjective Tree“ oder „Tree of Influence“ nannte. Malergrößen wie Caravaggio, Arcimboldo, Goya, Beckmann, Braque oder Schwitters, aber auch der Grafiker Cassandre bilden bei dieser Quellenforschung in eigener Sache die Wurzeln, während die Äste mit den Namen von Fotogiganten wie Lartigue, André Kertész, Walker Evans, Atget oder Helen Levitt beschriftet sind. Ganz hinten im „Centennial“-Katalog findet sich ein extracharmantes, auf einen Zettel gezeichnetes Bäumchen, bei dem Penn über eine Wurzel „Lady of Willendorf“ notiert hat: ein Verweis auf die dezidiert unmageren Akte, mit denen er um 1950 in seiner Freizeit experimentierte und die erst dreißig Jahre später als „Earthly Bodies“ in einer Ausstellung der Marlborough Gallery voll gewürdigt wurden.
„Als kommerzieller Fotograf Bilder zu produzieren, die sich direkt auf die Kunstgeschichte beziehen – das war Mitte des 20. Jahrhunderts eine sehr radikale Idee“, sagt die Fotohistorikerin Merry Foresta, für die Penn damit auf die Postmoderne vorgegriffen hat. Von Lux-Seife und Jell-O-Pudding über Kosmetikmarken bis hin zu Wrangler, Minolta und Polaroid: Über den unzähligen Werbeaufträgen, die Irving Penn mit Libermans Segen parallel zu den Porträts, Reisereportagen und Stillleben für Vogue ausführte, verlor er nie sein altes Ziel aus den Augen – als Künstler anerkannt zu werden. 1959 schickte er 23 seiner Bilder an die Foto-Biennale in Venedig, 1960 publizierte er mit „Moments Preserved“ seinen ersten Bildband und hatte seine erste Verkaufsausstellung in der New Yorker Iolas Gallery, die auch Alexander Calder, Yves Klein und Andy Warhol vertrat. Dennoch ist Penn der US-Vogue bis zum Ende treu geblieben. Sein letztes Foto für das Magazin, ein anarchisches food still life aus Bananenscheiben, erschien in der August-Ausgabe 2009, nur zwei Monate vor seinem Tod. Und ja, die Bananenscheiben waren schon leicht bräunlich.
PS: Bliebe noch zu klären, wie es sich angefühlt hat, vom reifen Irving Penn porträtiert zu werden. Der Modedesigner Alber Elbaz, dem diese Ehre 2004 widerfuhr, erzählte dem New York Times Magazine davon. Penn wäre ihm „wie ein guter Arzt“ vorgekommen und hätte zuerst alle Assistenten weggeschickt. Und weiter: „Es war 9 Uhr früh, und wir waren allein in einem Studio mit großen Tageslichtfenstern. Wir saßen beide auf Hockern und unterhielten uns. Er hatte einige meiner Interviews gelesen und kannte meine Arbeit. Er hörte mir zu, und dann meinte er: ›Nehmen Sie Ihre Brille ab.‹ Kein Fotograf hat das je von mir verlangt. Penn sagte: ›Wenn Sie Ihre Brille abnehmen, verschwindet etwas von Ihrer Stabilität.‹ Und das war das Bild.“
Zur Ausstellung ist im Verlag Schirmer/Mosel ein prächtiger Katalog erschienen: Irving Penn – Centennial. Herausgegeben von Jeff L. Rosenheim und Maria Morris Hambourg. Mit Texten von Maria Morris Hambourg, Jeff L. Rosenheim, Alexandra Dennett, Philippe Garner, Adam Kirsch, Harald E. L. Prins und Vasilios Zatse. 372 Seiten, über 300 Abbildungen. Format: 25,4 x 30,5 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe 68 Euro.