Ausdrucksstark: In der Stuttgarter Staatsgalerie fasziniert das gefühlvolle Mienenspiel des Meisters von Meßkirch
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01.03.2018
Versetzen wir uns zurück in die Jahre zwischen 1515 bis 1540. Deutschland erlebt gerade aufrührerische Umbruchszeiten. Der alte Glaube und vor allem die katholische Kirche werden in Frage gestellt, ja polemisch bekämpft. Der Papst und die Kardinäle mit ihren ausufernden Ablasspraktiken sind das Ziel beißender Kritik. Martin Luther bringt 95 Thesen gegen die Missstände zu Papier; ob er sie tatsächlich am 31. Oktober 1517 an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen hat, sei dahingestellt. Die Welt ist aus den Fugen geraten, viel Blut fließt von 1524 bis 1526 im Bauernkrieg. Katholiken stehen gegen Protestanten, die alten Mächte gegen neu erwachte Kräfte. Auch im Süden Deutschlands brodelt es kräftig, und 1534 führt Herzog Ulrich von Württemberg die Reformation in seinem Land ein.
Lucas Cranach der Ältere, seit 1505 Hofmaler am kursächsischen Hof und in Wittenberg Schöpfer programmatisch protestantischer Bildprogramme, zudem malte er zahlreiche Porträts des Reformators, die unser Luther-Bild bis heute prägen. Das hielt nicht davon ab, um 1520 für die damals noch katholische Stiftskirche in Halle ein umfangreiches Bildprogramm zu realisieren, insgesamt sechzehn Altarretabel mit Heiligen- und Passionsdarstellungen. Albrecht Dürer, der größte deutsche Maler des frühen 16. Jahrhunderts, arbeitete ebenfalls für Katholiken und Protestanten. Sein Einfluss war so enorm, dass man gar von der Dürerzeit spricht.
Viele Künstler wurden von Dürer geprägt, auch der Meister von Meßkirch, dem die Stuttgarter Staatsgalerie nun eine erste umfassende monografische Ausstellung widmet. Der ikonografische und stilistische Transfer vollzog sich indirekt, über die Flut der Druckgrafik, damals das Verbreitungsmedium schlechthin, auch für künstlerische Innovationen. Mit der Reformation ließ sich der namenlose Maler aus dem Schwäbischen aber nicht ein. Seine Altarwerke sind inbrünstige Zeugnisse altgläubiger Frömmigkeit, Tafeln von reicher Empfindsamkeit, zarte Madonnen und lebendig charakterisierter Heiligen sind zu bestaunen. Meist kreisen die Bilderzählungen um das Leben Jesu, und mit Ausnahme eines frühen Bildnispaares kennen wir nur Altartafeln. Im Barock als altmodisch empfunden, wurden sie meist aus den Kirchen und Hauskapellen entfernt und später in alle Winde zerstreut. Erst mit der Renaissance der altdeutschen Kunst im 19. Jahrhundert wurde er wiederentdeckt und hoch geschätzt. So sehr, dass man seine Tafelbilder sogar Hans Holbein dem Jüngeren zuschrieb. Längst würdigen die Kunsthistoriker den namenlosen Maler als einen eigenständigen, hoch bedeutenden Künstler an der Wende von der Spätgotik zur Renaissance.
Wer verbirgt sich hinter dem Notnamen? Selbst die jüngste, intensive Forschung hat kein taugliches Ergebnis zur Identifizierung seiner Person gebracht. Sie bleibt im Dunkel der Geschichte. Keine Signaturen oder Archivalien, nichts Dokumentarisches: Der Mann ist einfach nicht fassbar. Folgen wir der Rekonstruktion seines Werdeganges. Man muss bei den damaligen strengen Zunftgesetzen davon ausgehen, dass er Lehr- und Wanderjahre absolviert hat. Vielleicht gehen seine Anfänge auf eine regionale Werkstatt zurück, womöglich geprägt von der Ulmer Malerei mit Bartholomäus Zeitblom. Auch die fortschrittlichere, mit Renaissance-Elementen durchsetzte Augsburger Kunst scheint ihm vertraut. Spätestens seit den 1530er-Jahren führte er wohl eine florierende Werkstatt mit einer Anzahl von Mitarbeitern. Denn das umfangreiche Werk, das man ihm zuschreiben kann, hätte von einem Maler allein nicht bewerkstelligt werden können.
Der Meister von Meßkirch nahm aktuelle Entwicklungen der süddeutschen Künstlerkollegen auf, von denen einige in der Ausstellung zu sehen sind. So der in Schwäbisch-Gmünd gebürtige Hans Baldung Grien, der 1503 zu Dürer nach Nürnberg ging und als dessen begabtester Schüler gilt. Zur gleichen Zeit war Hans Schäufelein in Dürers Werkstatt, bevor er zu Hans Holbein d.Ä nach Augsburg wechselte. Schäufelein arbeitete für das Ulmer Münster, kehrte für ein paar Jahre nach Augsburg zurück, arbeitete in Südtirol und wurde 1515 Stadtmaler in Nördlingen. Albrecht Altdorfer, dem Hauptmeister der Donauschule, verdanken wir die ersten reinen Landschaftszeichnungen. Ohne Kenntnis der Donauschule sind die atmosphärischen Landschaftshintergründe des Meisters von Meßkirch mit ihrer üppigen Vegetation nicht vorstellbar. Routiniert hat er sich der Druckgrafik bedient, deren Einzelelemente geschickt in neue Zusammenhänge integriert. Aber im Ausland, etwa wie Dürer in Italien, scheint er nie gewesen zu sein.
Die Stuttgarter Schau breitet das Werk umfassend und chronologisch aus. Zudem bieten Werke der vorgenannten Zeitgenossen anschauliche Vergleichsmöglichkeiten. Das Frühwerk des anonymen Meisters gipfelt in den Sigmaringer Marientafeln, um 1520 in kräftigen Farben ausgeführt. Lebhaft schildert der Maler Verkündigung, Heimsuchung, Geburt Christi und Anbetung der Könige mit überlängten Figuren und kleinen Köpfen. Die Begegnungen finden wie auf einer schmalen Vorderbühne statt. Die beiden Innentafeln mit den mehrfigurigen Szenen und dem Jesuskind werden baldachinartig von Segmentbögen und dichten goldenen Ornamentfeldern überwölbt
Auf der rund zehn Jahre jüngeren „Kreuzigung Christi“ (wie eine ganze Reihe kapitaler Exponate im Besitz der Sammlung Würth) erscheinen Maria und Johannes schon in neuer Körperlichkeit, die Farben der Gewänder sind differenzierter, lassen die Figuren plastisch hervortreten. Zwischen dem Landschafts- und Architekturhintergrund mit der Grabeskirche als monumentalem Rundbau und dem blauen Gewölk, aus dem Putten das Blut Christi in goldenen Kelchen auffangen, hat der Maler reich punzierten Goldgrund gesetzt. Doch die Szene beherrscht der tote Christus, elfenbeinweiß und wie von innen heraus leuchtend.
Nach 1530 entstand der Falkensteiner Altar, der schon wegen seiner geringeren Größe – die Tafeln sind nur gut 50 Zentimeter hoch – einen intimeren Charakter ausstrahlt und der privaten Andacht diente. Er bezaubert durch den Farbschmelz der hellen Figuren vor Goldgrund; hier brilliert der Meister von Meßkirch als delikater Feinmaler, dem im Kleinen Großes gelingt. Die Mitteltafel zeigt Anna Selbdritt, umringt von vier weiteren heiligen Frauen. Sein ganzes malerisches Können mit einer Spur subtiler Ironie entfaltet der Meister auf den beiden Seitentafeln: Stolz steht links der heilige Georg in silbern schimmernder Rüstung unter einem modisch kurzen Samtwams mit Faltenrock. Goldgrund und Heiligenschein werden von den reichen Gewandborten, der schweren Ordenskette, von Dolch und Schwert überstrahlt. Das markante Gesicht mit dem blonden Bart ist energisch ins Profil gewandt, das Tuch der Standarte in seiner Rechten scheint durch die vorhergehende Körperbewegung weit gebauscht. Der erlegte Drachen liegt mit klaffender Halswunde hinter dem Heldenheiligen, alle vier Krallenfüße erlahmend nach oben gestreckt. Der heilige Erasmus tritt uns im Bischofsornat mit Krümme und Seilwinde – damit hat man dem Märtyrer die Gedärme aus dem Leib gezogen – entgegen. Misstrauisch blickt er aus dem Bild heraus. Dem expressiven Blickkontakt im fein erfassten Antlitz begegnet man bei vielen Heiligendarstellungen des Meisters von Meßkirch.
Auch der 1536 entstandene Wildensteiner Altar mit insgesamt sieben Bildern, seit 2012 stolzer Besitz der Staatsgalerie, hat ursprünglich wohl als Hausaltar gedient. Die blau gewandete Gottesmutter mit Kind, hier als Himmelskönigin auf der Mondsichel in einer Gloriole, dominiert die Mitteltafel, umsäumt von Engeln und Heiligen, die teils tief ins Auge des Betrachters blicken. Auf den Flügelinnenseiten kniet das flankierende Stifterpaar unter reich geschmückten Arkadenbögen vor phantastischer Renaissancearchitektur. Damit lernen wir die Hauptauftraggeber des Meisters von Meßkirch kennen: Links den soeben in den Grafenstand erhobenen Gottfried Werner von Zimmern in voller Rüstung mit großem Wappenschild, gegenüber seine Gemahlin Apollonia von Henneberg, eine Kusine Kardinal Albrechts von Brandenburg, die Gottfried einst entführt und als 14-Jährige geheiratet hatte. Ihre Familien waren Anhänger des alten Glaubens und von dessen Beschützern, den Habsburgern.
Das Epizentrum der Schau bilden die fulminant inszenierten Altartafeln aus der Pfarr- und Stiftskirche St. Martin in Meßkirch. Nach diesem vielteiligen Gesamtkunstwerk, zu dem offenbar 12 Mittelstücke mit Szenen aus dem Leben Jesu und 72 Seitenflügel mit Heiligenbildern gehörten, erhielt der Meister seinen kunsthistorischen Namen. Acht Mittelbilder und 58 Tafeln haben sich erhalten; mehr als 50 der Werke, entliehen aus Sammlungen in aller Welt, sind nun erstmals seit der Zerstreuung im 18. Jahrhundert wieder zusammen zu erleben. Mit der neuen Kirche, die auch als Familiengrablege diente, betrieb Gottfried Werner von Zimmern gleichzeitig den Ausbau des Herrschaftsbesitzes Meßkirch zur gräflichen Residenz. Der Meister von Meßkirch war als eine Art Generalunternehmer mit der enormen Altarausstattung beauftragt, die er in den Jahren zwischen 1535 und 1550 natürlich nur mit einer Gruppe von Mitarbeitern bewältigen konnte. Im Bildprogramm orientierte er sich an Cranachs Zyklus für die Stiftskirche in Halle.
Der Säulensaal im Altbau der Staatsgalerie bietet den stilvollen Rahmen für die Altäre aus Meßkirch, die – soweit möglich – wie einst arrangiert sind. Der Hochaltar-Aufsatz, triumphales Schaustück und Zentrum des Zyklus, bestand ursprünglich aus einem Mittelbild, an den Seiten ein bewegliches und einem feststehendes Flügelpaar. Die ganze künstlerische Virtuosität und Strahlkraft bündelt sich in der Haupttafel mit der Anbetung der heiligen drei Könige. Vorne kniet der greise, weißhaarige König im schweren hermelinbesetzten Brokatmantel auf das lebhafte Kind, das eine Gabe schon in Händen hält. Der dunkelhäutige König mit weißen Strümpfen und kostbarer Goldschmiedearbeit beherrscht als strahlende Erscheinung die Szene. Die Begegnung findet in einer antikischen Ruinenarchitektur statt, die Ausblick in eine üppige Donauschulen-Landschaft mit fernem Sfumato-Blau bietet. Die Drei-Königs-Tafel ist zum Weinen schön: katholische Pracht in den Wirren der Reformationszeit. Wie der Meister von Meßkirch traditionelle Bildinhalte mit jüngsten künstlerischen Tendenzen verbindet, wie er mit Gold und ornamentalem Reichtum prunkt, das macht ihn zu einem der frühesten Maler der Gegenreformation.
Dass auch die protestantische Agitationskunst, der Bilderstreit und den Bildersturm in den Gebieten des neuen Glaubens prominent gezeigt werden, das macht die baden-württembergische Landesausstellung wahrlich zu einem Großereignis. Auch den sozialgeschichtlichen Hintergründen der Auftraggeber bzw. Stifter werden eigene Abteilungen eingeräumt. Insgesamt sind 189 Exponate von 57 Leihgebern aus elf Ländern vereint: Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafik und Goldschmiedearbeiten, wie sie ähnlich auf den Bildern zu sehen sind, sowie Archivalien und Memorabilien der Familie von Zimmern.
Ein Höhepunkt am Ende des Rundgangs ist der spektakuläre Gothaer Altar, mit 12 klappbaren Seitenflügeln und 162 Einzelbildern das umfangreichste Werk der altdeutschen Tafelmalerei. Heinrich Füllmaurer malte das Monumentalwerk um 1538 für den protestantischen Württemberger Herzogshof Mit zahllosen Figuren und Szenen führt es wie in einem monumentalen Bilderbuch in die neue Lehre ein, erläutert mit ausführlichen Textunterweisungen im Sinne Luthers. Welch Gegensatz dagegen die sinnlich-virtuose Malerei des Meisters von Meßkirch, der mit den neuesten Kunstmitteln einer alten Welt huldigte, die noch lange nicht am Ende war.
Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit
Staatsgalerie Stuttgart, bis 2. April