Ausstellungen

Patrick Angus – der Alltag des Begehrens

Der früh verstorbene Maler hat in den Achtzigern schonungslos, aber auch sehr einfühlsam das schwule Leben New Yorks festgehalten. Das Kunstmuseum Stuttgart widmet ihm jetzt eine erste große Werkschau

Von Sebastian Preuss
19.03.2018

So hatte bis dahin noch niemand das schwule Leben dargestellt. Junge Männer mit reizvollen Körpern, aber doch ohne jede Idealisierung, wie sie sonst meist in schwuler Kunst zu finden ist, Männer nackt auf ihrem Bett, beim Liebesspiel oder in einer Bar. Sie stehen einfach herum, sitzen zu Hause oder im Club, spazieren im Park, sie sind am Strand, auf der Straße, im Auto, ganz entblößt oder mit heruntergezogener Hose, immer auf der Suche nach neuen Sexpartnern. Die ewige Jagd nach dem Abenteuer, glücklich sieht nie jemand aus; Melancholie und Tristesse, aber auch eine zerbrechliche Zartheit liegen über den Bildern. Die tägliche Sehnsucht nach Liebe und sexueller Erfüllung, das Hamsterrad aus Sehnsucht, Hoffnung, Erfüllung und Enttäuschung. Die Isolation des Einzelnen in der Masse, zumal wenn er einer Minderheit angehört, das Schicksal des modernen Stadtmenschen, vor dem er selbst im orgiastischen Getümmel nicht entfliehen kann.

Der Preis der sexuellen Freiheit

Vor allem aber zeigt Patrick Angus, wohin fast jeder Schwule geht, aber worüber die meisten nicht gerne sprechen, schon gar nicht öffentlich: die Saunen und Sexclubs, die Pornokinos und Striptheater, jene schmuddelige Zone, die von den nicht nachlassenden Begierden der Männer lebt, wo Jung und Alt, Arm und Reich, Schön und Verlebt, Stripper und Betrachter, Stricher und Freier, Sexwillige und Voyeure aufeinander treffen. Es ist ein Reservat, das oft mythisch verklärt wird, weil es sexuelle Freiheit bedeutet, eine Schutzzone gegenüber den bürgerlichen Normen. Die so gern romantisch überhöhte Halbwelt der Spelunken, die Sphäre von Jean Genet und „Querelle“, von immerwährender Verfügbarkeit prickelnder Erlebnisse. Klappt es heute nicht, habe ich morgen Glück; macht einer Probleme, wechsle ich zum Nächsten. Die sexuelle Freiheit hat ihren Preis, auch das schwingt in den Bildern mit.

 

Wir befinden uns im New York der 1980er. Unverblümt und schonungslos zeigt Angus in seinen Zeichnungen und Gemälden die Sex-Orte der Schwulenszene. Er lässt nichts aus: die Striptänzer auf dem Laufsteg des legendären Gaiety Theater (auch Gaiety Male Burlesque) und in anderen Clubs, die erregten Zuschauer, die Anbahnung von Kontakten mit den Tänzern im Nebenraum, das Treiben in Pornokinos und in Saunen, expliziter Sex und nackte Männer in all ihren begehrenswerten Details. Das alles gibt es nicht mehr. Als letzte dieser Stätten libertinären schwulen Lebens machte das Gaiety im März 2005 nach dreißigjährigem Betrieb seine Pforten dicht.

Jetzt erst wird Angus von der Kunstwelt entdeckt

Angus ist der akribische Chronist eines Queer Life, von dem alle sprechen, jedoch keine Bilder aus den dunklen Schuppen an die Öffentlichkeit gelangen. Souverän und mit vielen raffinierten Brüchen greift er Bildmittel des großen Vorbilds Hockney auf, stellt er sich in die Tradition der klassischen amerikanischen Realisten, reflektiert er Manet, Matisse oder Picasso. Seine Bildwelt ist in ihrer Schonungslosigkeit radikal und auch politisch – obgleich sich Angus nicht im Gay Rights Movement engagierte und offenbar auch nie zu Demonstrationen ging. Aber vor allem ist seine Malerei in ästhetischer Hinsicht komplex und aufregend. Derzeit widmet das Kunstmuseum Stuttgart Angus die erste museale Retrospektive überhaupt im Kontext der internationalen Kunstwelt.

 

Zwischen 1984 und 1992, als Angus mit erst 38 Jahren an den Folgen von Aids starb, entstand ein dichtes, reiches, faszinierendes Werk. Der Maler litt sehr daran, dass die Kunstszene, die gerade in den Achtzigern in New York enorm aufblühte, von ihm nichts wissen wollte. Erst 1992, kurz vor seinem Tod, hatte er in Santa Barbara seine erste Einzelausstellung in einer Kunstinstitution und widmete ihm sein Förderer (und späterer Nachlassverwalter) Douglas Blair Turnbaugh eine erste Monografie. Zwei weitere Schauen folgten, während Angus schon im Sterben lag. Nach seinem Tod wuchs die Aufmerksamkeit, vor allem im Umfeld der Queer Culture, wo man seine Bedeutung erkannte und würdigte. Es gab Artikel in schwulen Zeitschriften und Ausstellungen in Einrichtungen wie der New Yorker Leslie-Lohman Gay Art Foundation oder dem Schwulen Museum in Berlin. Der gängige Kunstbetrieb indes nahm ihn weiterhin gar nicht wahr. Das änderte sich erst in jüngster Zeit, als sich Galerien in Los Angeles und Mailand, vor allem aber der Stuttgarter Galerist Thomas Fuchs und sein Partner Andreas Pucher des Werks annahmen und 2016 bei Hatje Cantz ein großes Buch herausbrachten.

Patrick Angus wurde 1953 in North Hollywood in der Großmetropole Los Angeles geboren, doch seine Eltern zogen mit ihm bald ins beschaulichere Santa Barbara, wo er aufwuchs und auch mit dem Kunststudium begann. Am College beeinflussten ihn vor allem Richard Diebenkorn und die anderen Maler der „Bay Area Figurative Art“ in San Francisco, David Park, Elmer Bischoff oder Paul Wonner. Sie kamen vom Abstrakten Expressionismus und wendeten sich in den frühen Fünfzigern der in den Avantgardezirkeln allgemein verpönten Figuration zu – eine prägende amerikanische Bewegung der 1950er und 1960er. Der expressive Realismus aus San Francisco war für Angus ein wichtiger Schritt, um seinen eigenen Stil zu finden. Doch die große Initiation brachte die Begegnung mit den Bildern von David Hockney. Der Brite hatte als Erster (Jean Cocteau vielleicht ausgenommen) eine schwule Bildwelt im klassischen Kunstbetrieb hoffähig gemacht. Die verführerischen Beach Boys unter der kalifornischen Sonne, ihr Sprung in den Swimming Pool, die Partys und Cocktails, ein tropisches Utopia voller Sinnlichkeit: Dieser reizvolle Lebensstil, wie ihn der Brite in seinen Zeichnungen und noch mehr in seinen Gemälden zelebrierte, musste einem unsicher tastenden, jungen schwulen Mann wie Angus als strahlende Verheißung erscheinen.

Nackte beim Volleyball

In Los Angeles entstand 1979 eine Serie von rund 60 Bleistiftzeichnungen, der erste wichtige Bilderzyklus. Zum ersten Mal fasst Angus seine städtische Umwelt, seine Ideen und Sehnsüchte kompromisslos und höchst intensiv in Bilder. Wir sehen Menschen im Schnellrestaurant oder auf dem Bürgersteig, eine Familie im weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer, Gäste einer Party, Blicke aus dem Auto und vieles mehr. Vor allem hält Angus die Gewohnheiten und Rituale, die Sehnsüchte und Leidenschaften der Schwulen fest: Nackte spielen Volleyball am Strand; ein älterer Mann mustert einen Jüngeren, der kontaktbereit an einer Wand steht; ein anderer (nur mit Brille und Halbschuhen bekleidet) tut das Gleiche am Strand; Männer beim Liebesspiel auf dem Bett, vor einem Sexkino, küssend am Billardtisch. Im Gegensatz zu Hockney thematisiert Angus auch die weniger verführerischen Seiten schwuler Lebensart. Auffällig ist die starre Haltung der Figuren, ihr unbewegter, fast puppenartiger Gesichtsausdruck. Alles wirkt kantig, unnahbar, wie eingefroren. Vorbildhaft war hier gewiss Hockney, auch auf die deformierten Gesichter der expressiven Realisten aus San Francisco lässt sich verweisen, doch treibt Angus den merkwürdig entrückten Stil auf die Spitze. Ganz offensichtlich will er verhindern, dass die Blätter virtuos, verführerisch oder „schön“ aussehen.

 

Im Jahr 1980 zog Angus nach New York, wo er sich bald darauf den Strip Shows zuwandte, die in den nächsten zwölf Jahren sein Werk bestimmen sollten. Das erste Gemälde ist „Material World“: Ein junger Mann, nur mit hohen weißen Socken bekleidet, steht auf dem dunklen Laufsteg, angestrahlt von roten und blauen Lichtkegeln, im Schatten wie dunkle Masken die Gesichter der Zuschauer. Die Malweise ist schnell und expressiv verdichtet, unwillkürlich denkt man an Jörg Immendorffs „Café Deutschland“-Bilder oder die damals auch schon in Amerika bekannten „Neuen Wilden“ aus West-Berlin.

Bildtitel nach Grace Jones

Nach äußerst prekären Jahren erhielt Angus 1984 eine Stellung im Museumsshop des MoMA. Nun konnte er sich eine kleine Wohnung an der Upper West Side leisten, wo er auch malte. Ein eigenes Atelier hatte er nie. Abends ging er in die Strip Shows im Gaiety, im Show Palace Theatre an der 8th Avenue oder im Prince im Greenwich Village. Er besuchte die schwulen Saunen und die vielen dunklen Schuppen, die es damals in New York noch gab. Fotografieren kam in den verruchten Lokalen nicht in Frage. So machte Angus nach seiner Heimkehr Skizzen und arbeitete daraus und aus der Erinnerung an seinen Bildern. Die Titel der Acryl- und Ölgemälde, der Pastelle, Bleistift- und Buntstiftzeichnungen beziehen sich oft auf damals populäre Songs, zu denen die Stripper tanzten. Etwa Grace Jones’ „Slave to the Rhythm“; das gleichnamige Bild von 1986 ist eines von Angus Hauptwerken: Der nackte Tänzer ist auf dem fast unwirklich gelb schimmernden Laufsteg zu einer blauen Farbskulptur erstarrt. Grell erleuchtet sind die Zuschauer, die ihre Erregung hinter teilnahmslosen Gesichtern verbergen, während am vorderen Bildrand eine Reihe von Schattenmännern die Tiefenräumlichkeit verstärken. Der oft lässig-expressive Realismus von Angus lenkt leicht davon ab, wie genau er seine Kompositionen konzipiert. Raffiniert etwa eine Saunenszene: ein grafisch wie architektonisch zweigeteilter Raum, links vor strahlend blauen Fliesen die reizvollen Kerle, während die Zone der Interessenten in schummriges Dunkel getaucht ist. Angebot und Nachfrage, Verheißung und Sehnsucht, Jugend und Alter sind hier auch formal voneinander getrennt.

 

Angus’ Werke sind in ihrem Duktus wie in den Themen oft roh und sperrig, aber alle sind sie von großer Menschlichkeit durchzogen. Er ist ein neugieriger, ja manischer Beobachter, der die Schwächen der eitlen Schönen wie der alternden Freier nicht verhehlt, aber auch nicht zynisch bloßstellt. Immer wieder scheint Angus’ eigene Verletzlichkeit durch, seine Sehnsucht nach Zuneigung und körperlicher Erfüllung. Das zeigt sich vor allem in den privaten Freundschafts- und Sexszenen sowie den Porträts nackter Männer, die er oft in seiner eigenen Wohnung malt und deren Reize er ohne jede Effekthascherei, detailgetreu und mit großer Sinnlichkeit darstellt.

Spiel mit den Stilmitteln

Mit zunehmender Souveränität beherrscht Angus die Bildmittel. Sein Mal- und Zeichenstil ist nicht so leicht auf einen Nenner zu bringen, denn immer wieder wechselt er zwischen gefestigten Flächen und Konturen bis hin zu stark naturalistischen, lebensechten Partien, um dann die Formen wieder expressionistisch aufzureißen, die Gesichter zu vereinfachen oder zu Masken zu verzerren. Seine Nähe zum bewunderten Hockney äußert sich in linearen Zeichnungen, in denen die stark reduzierten Linien Jean Cocteaus nachklingen, aber auch in schnell und dicht gestrichelten Szenen, in denen die Sinnlichkeit der Gestalten durch bewusste Starrheit und ungelenke Bewegungen gebrochen wird– in der entrückten, oft lapidar und lässig erscheinenden Art der Figürlichkeit genauso wie in der flächigen Vereinfachung.

 

Es ist zu Recht immer wieder hervorgehoben worden, wie sehr Angus dem amerikanischen Realismus verhaftet ist, der die Malerei des jungen Landes seit dem späten 18. Jahrhundert geprägt hat, von John Singleton Copley bis Grant Wood, von Edward Hopper bis Norman Rockwell oder den Fotorealisten um Richard Estes. Oft ging es dabei um das Erlebnis der endlosen Landschaft, ebenso häufig um die sozialen Realitäten, die stille Weite in den Kleinstädten, die menschliche Vereinzelung in den Metropolen oder um das Erlebnis der Industrialisierung. Ruhe und Stille anstatt Hektik und Ekstase spielen meist eine Rolle – wie auch bei Angus. Die Einflüsse sind nicht nur bei seinen Menschendarstellungen zu beobachten, sondern auch bei seinen Landschaften und Stadtansichten.

Die Neuen Wilden sind nicht fern

Erwähnt seien zudem Strömungen der figürlichen Malerei der Siebziger und Achtziger, die Angus gekannt haben muss. Damals wurde Eric Fischl gerade ein Star mit seinen sexuell aufgeladenen Bildern, die unverblümt Nacktheit und Trieb in einem halb naturalistischen, halb gestisch flirrenden Stil propagieren. Erinnert sei an eine in der Szene bewunderte New Yorker Einzelgängerin wie Alice Neel, die in ihren Porträts eine Art von Neuer Sachlichkeit hochhielt, dabei Nacktheit oft in drastischer, aber liebevoller Weise zelebrierte . In den Achtzigern blühte nach einem Jahrzehnt asketischer Minimal Art und Konzeptkunst allgemein in Europa und Amerika die gegenständliche Malerei wieder auf und brachte etwa den West-Berliner Neoexpressionisten Rainer Fetting zu Ruhm in New York, auch er mit männlichen Akten und Duschbildern.

 

Angus gehörte zu einer schrecklich großen Gruppe früh an Aids verstorbener New Yorker Künstler; Keith Haring, Robert Mapplethorpe, David Wojnarowicz, Felix González-Torres oder Jean-Michel Basquiat sind nur die Bekanntesten. Anders als diesen blieb Angus zu Lebzeiten fast jeglicher Erfolg versagt. „Er wusste, das Kunst-Establishment hatte keinen Platz für einen schwulen Maler, der mit klinischer Genauigkeit das schwule Leben so darstellte, wie er selbst es kannte“, schrieb der Nachlassverwalter Turnbaugh nach seinem Tod. Angus habe daher schon früh jegliche Hoffnung auf Anerkennung des Kunstbetriebs aufgegeben. Der Underground- und Szene-Ruhm, den seine Times-Square-Bilder ihm in den späten Achtzigern einbrachten, war ihm suspekt, denn er argwöhnte, dass diese nur wegen der sexuellen Motive gekauft wurden.

Streit um Angus in Santa Barbara

In seinem letzten Lebensjahr 1991/92 konnte Angus noch drei Einzelausstellungen in Van Buren in Arkansas, Santa Barbara und New York erleben. Hinzu kam die Genugtuung, dass David Hockney sechs Bilder von ihm erwarb und ihn in der Ausstellung in Kalifornien besuchte. In Santa Barbara stieß sich der Universitätskanzler schon im Vorfeld an den freizügigen Darstellungen. Um Ärger zu vermeiden, verfügte er, hinter dem Eingang eine Mauer als Sichtblende zu errichten. Dadurch jedoch kochten die Wogen erst recht hoch, es entbrannte ein veritabler Skandal, und die liberalen Kalifornier protestierten scharf gegen diesen Eingriff in die Freiheit der Kunst.

 

Es war genau die Art von öffentlicher Aufmerksamkeit, die Angus hasste. Dennoch nutzte er die Gelegenheit, selbstbewusst seinen Kunstbegriff zu erläutern: „Ich denke, ich habe ,schwule Kunst‘ gemacht; das gab es doch bislang nicht. Hockneys Sachen in den Sechzigern kamen dem nahe – aber selbst sie waren subtil. Ich bin der Erste, der es ganz unverhohlen auf den Punkt bringt: ,Ich bin schwul und mag Männer.‘ Ich habe noch keine ernsthaften Werke dieser Art gesehen.“

Da seine Krankheit von der Aids Task Force in Santa Barbara öffentlich gemacht worden war, wich Angus auch dazu nicht mehr aus: „Ich will nicht als noch ein Künstler mit Aids abtreten, sondern als schwuler Künstler“, sagte er dem schwulen Magazin Advocate. Und eine letzte, nun tatsächlich erschütternde Selbstentblößung gab er dem Journalisten noch zu Protokoll: „Mein Sextrieb ist verschwunden, die Situation und das Thema sagen mir nicht mehr viel.“ Vielleicht hatte Turnbaugh doch recht, wenn er nach Angus’ Tod schrieb: „Es gab wenig oder gar keinen Trost in diesem kurzen Leben.“ Seine Kunst war sein Leben, ihre mangelnde Anerkennung seine Tragödie.

 

Der Text ist eine stark gekürzte Fassung von „The Places I’ve Been, the People I’ve Seen. Patrick Angus, ein amerikanischer Realist“ im Ausstellungskatalog „Patrick Angus. Private Show“ (Distanz Verlag), herausgegeben vom Kunstmuseum Stuttgart.

Service

ABBILDUNG GANZ OBEN

Patrick Angus, „A Shower at the Baths“, 1984, Sammlung Andreas Pucher, Stuttgart (Credit: Douglas Blair Turnbaugh)

AUSSTELLUNG

„Patrick Angus. Private Show“, Kunstmuseum Stuttgart, bis 8. April

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