In Frankfurt verneigt sich ein ganzes Haus vor der vielseitigen Modeschöpferin Jil Sander
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11.04.2018
Designer wie Dior, Yves Saint-Laurent, Karl Lagerfeld, Rei Kawakubo, Alexander McQueen, Cristóbal Balenciaga – sie alle waren zuletzt Gegenstand einer musealen Ausstellung. Nun ist Jil Sander dran, die Königin des Understatements, der schmucklosen, klischeefreien Eleganz. Eine Etage wäre zu wenig für ihr Kaliber. Direktor Matthias Wagner K hat deshalb gleich das komplette „Museum Angewandte Kunst“ (MAK) für sie freigeräumt und das Ganze „Präsens“ genannt, denn als Rückschau will sich diese erste weltweite Werkschau keineswegs verstehen, weswegen man sich die Datierungen bei den meisten Modellen spart und auch die Wandtexte mehr schweigen als sprechen lässt. Bei jedem anderen Designer wäre das ärgerlich. Bei Jil Sander, die ihre eigene Hommage mitgestaltet hat, unterstreicht die Entscheidung nur die der Zeit vorauseilende Ausdruckskraft ihrer minimalistischen Entwürfe.
Damit der 3000 Quadratmeter umfassende Parcours aus scharfen Kanten, weißen Baumwollblusen, schwarzen Hosenanzügen, voluminösen Mänteln, schmalen Trenchcoats, skulpturaler Schnittführung und jeder Menge neutralen Blautönen nicht allzu sinnesreduziert gerät, hat der französische Tonkünstler Frédéric Sanchez jeden Raum in eine passende Klangkulisse gehüllt, von Schrittlauten bis zu Elektro-Beats und Klaviertönen. Inszenierte, kunstvoll ausgeleuchtete Abschnitte spiegeln die Einrichtung eines Ateliers, des Backstage-Bereichs oder eines bis ins Detail durchdachten Flagship-Stores wider. Letzterer geht auf das Konto des New Yorker Architekten Michael Gabellini. Mitunter geraten sogar unruhige Stoffmuster an die Wände, ein seltener Kontrast in der wohlkalkulierten Simulation von raumgreifender Leere. Auf drei Leinwänden gibt es zudem die Gelegenheit, Laufsteg-Präsentationen von 1989 bis 2014 ohne zeitliche Chronologie entlang von wechselnden Looks Revue passieren zu lassen.
Das hört sich nach einem Catwalk-Marathon an, mündet aber in einen faszinierenden Sog aus konsequent puristischen Impressionen, mitunter im Slow-Motion-Rhythmus, die jedem modischen Trendwechsel trotzen. Supermodels kommen nur am Rande vor, erkennbar an elegisch alternden Gesichtern vom Schlage einer Kate Moss oder Linda Evangelista, die zu Aushängeschildern einer ganzen Epoche wurden. Bei Jil Sander sind sie keine übersexualisierten, dem Dekor verpflichteten Heroinen. Das Geschlecht ist anwesend, steht aber im Schatten eines ausgeprägten Sinns für ornamentlose, maßvolle, aber auch allumfassende Ästhetik. Die gelernte Textil-Ingenieurin Heidemarie Jiline Sander, 1943 in Schleswig-Holstein geboren, arbeitete zunächst als Moderedakteurin, bevor ihr in den Achtzigern der Durchbruch mit Kleidern gelang, die sie in keiner Damen-Kollektion fand. Sie musste schlicht selbst aktiv werden, um auf männlich konnotierte Schnitte zurückgreifen zu können.
Was zunächst auf vehemente Ablehnung stieß, erwies sich nach der ersten Schockstarre als ein begehrtes Distinktionsvehikel, vor allem für Frauen mit der Lizenz zum geschäftlichen Aufstieg. Sander eröffnete einen Laden in Hamburg und entwarf 1973 ihre erste Kollektion. Auf dem Weg nach oben kreuzten Fotografen wie Bruce Weber und Peter Lindbergh ihren Weg, die Werbeagentur Scholz & Friends half ebenso bei der Promotion wie der Designer Peter Schmidt mit einem Logo und passenden Verpackungen. Nach der unausweichlichen Expansion brachte Sander ihr Unternehmen schließlich 1989 an die Börse. 1997 wagte sie sich an eine Herrenlinie, nicht ohne auch hier die Geschlechterstereotypen sanft durcheinanderzuschütteln und auf monochrome Farbgebung zu bestehen. Zwei Jahre später verkaufte sie das Unternehmen mehrheitlich an die Prada-Group, um in Accessoires investieren zu können. Eine folgenreiche Entscheidung. Die neue Strategie der Italiener, die auch die Proportionen der Kleider betraf, lag ihr nicht.
2000 kehrte sie ihrem eigenen Haus den Rücken, kam zurück – und ging wieder. 2013 sagte sie endgültig Adieu. Die nachfolgenden Kreativdirektoren kämpfen seitdem darum, die Marke vorsichtig einer abweichenden Handschrift anzunähern. Das Besitzer-Karussell hat sich ohnehin gedreht. Inzwischen gehört „Jil Sander“ einer japanischen Holding. Sanders maximal gehütete Privatsphäre streift die Ausstellung anhand von Skizzen und einer Videoinstallation, die den Garten ihres Domizils Gut Ruhleben ins Visier nehmen. Ein farblich nach der jeweiligen Pflanzen- und Baumart geordnetes Grünwunder, das lose an den englischen Garten Sissinghurst anknüpft. Und auch das Interesse für bildende Kunst wird angeschnitten – mit einer Außenskulptur des Arte-Povera-Künstlers Mario Merz, an deren Entwurf die vom Bauhaus beeinflusste Kunstsammlerin beteiligt war. Das Vermächtnis einer modernen Frau mit vielen Eigenschaften fällt mehr als stimmig aus. Man teilt mit ihr das Gestern und Heute, schaut ihren Kleidern beim Denken zu und wähnt sich bereits im nächsten Jahrzehnt, das definitiv ausreichend Platz für diese alterslose Avantgardistin reservieren sollte.
„Jil Sander. Präsens“,
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main,
bis 6. Mai
Kunst und Auktionen 2018 / Nr. 5