Wie eine Sammlung aussehen kann, die ohne Schere im Kopf auf die Moderne schaut, zeigt der Hamburger Bahnhof in Berlin mit „Hello World“
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27.05.2018
Gras wächst vielleicht bis in den Himmel, aber es wurzelt im nährreichen Boden, von dort treibt es seine Spitzen in die Welt. Der Künstler als Grashalm mag eine abwegige Assoziation sein angesichts all der herausragenden Meisterwerke im Hamburger Bahnhof und noch ein Bild mehr in der an Eindrücken ohnehin überreichen Berliner Ausstellung „Hello World“. Aber es hilft, sich zu erden, bevor man inmitten Hunderter Künstler, Stile und geografischer Richtungswechsel vollends den Überblick verliert.
„Revision einer Sammlung“ heißt es im Untertitel der Schau, die nichts weniger will als das künstlerische Rhizom der Moderne offenlegen. Was wir in den europäischen Museen – und damit auch im Hamburger Bahnhof als einem Haus der Nationalgalerie – sehen, ist nur ein Bruchteil der Verbindungen, die im 20. Jahrhundert und davor bestanden. Zwischen Java und Dresden, wo Raden Saleh, der aus Indonesien stammte, um 1840 exotische Szenen malte, während es den aus Russland stammenden Walter Spies 1923 von Dresden nach Java zog. Zwischen den Städten Berlin und Buenos Aires, wo 1966 zeitgleich „globale Happenings“ stattfanden, weil die Künstler Marta Minujín und Wolf Vostell sich in Echtzeit abstimmen konnten.
Von Worpswede bis Moskau reichte schließlich das Netzwerk, das den Jugendstilkünstler Heinrich Vogeler nach mehreren Reisen 1931 ganz ins Land der Kommandowirtschaft zog. Man versteht Vogelers Wandel vom Maler idyllischer Parkszenen zum Schöpfer kristalliner Komplexbilder wie „Kulturarbeit der Studenten im Sommer“ (1924) nicht ohne diesen Hintergrund. Das Gemälde aus dem Depot der Nationalgalerie ist die Bilanz eines Künstlers, der nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs vom Sozialismus träumt. Seine Gemälde feiern den „lebendigen Organismus der Gesellschaft der Arbeitenden“ als visionären Ort einer besseren Welt. Vogeler sah sich als „kommunistischen Philosophen“, gründete schon im Sommer 1919 die Worpsweder Kommune und die Arbeitsschule Barkenhoff und stattete sie gleich auch malerisch aus. Mit Wandbildern, für die Diego Rivera, damals noch kein Superstar, aber politisch aktiv, auf seinem Weg von Mexiko nach Moskau einen Abstecher ins Teufelsmoor machte. Alles ist mit allem verwoben.
Wie Sammlungen aussehen würden, wenn europäische Museen nicht viel zu lange mit der Arroganz einstiger Kolonialherren gesammelt hätten, versucht „Hello World“ sichtbar zu machen. Es ist ein weites Feld. Deshalb erzählt Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, entlang der eigenen Bestände, stellvertretend für die Sammlungsgeschichte(n) vieler Häuser, die sich auf die Kunst Westeuropas und Nordamerikas beschränkten. Ein rosa Banner schwebt im Entree des Hamburger Bahnhofs. „An Artist who cannot speak English is no Artist“ hat der 2016 verstorbene kroatische Konzeptkünstler Mladen Stilinovic vor über einem halben Jahrhundert darauf notiert. Was aus Afrika, Bali, Indien, Caracas oder Tokio kam, wurde marginalisiert. Kittelmann verweist auf glückliche Zufälle wie die Sammlung von Herbert Härtel: Der ehemalige Direktor des Museums für Asiatische in Berlin erwarb privat indische Malerei der Sechziger- und Siebzigerjahre. Sein Nachlass ging an das Museum. Ein Glücksfall: Individuelle Leidenschaft statt Systematik schließt die Lücken und stört das Konstrukt linearer Entwicklungsgeschichte. Denn die Gedanken zirkulierten immer schon.
Nicht einmal ein kreativer Tausendsassa wie Pablo Picasso hat seine Kunst nur aus sich selbst heraus geschöpft. So aber wirkt es heute, wenn sich der Kanon auf wenige, wiederkehrende Figuren beschränkt: neben Picasso noch Paul Gauguin, George Grosz, Anish Kapoor oder Barnett Newman, dessen Tafelbild „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ von 1966 auch jetzt einen visuellen Schlusspunkt in der Ausstellung setzt. Groß und autark schwebt die monumentale Abstraktion an der Wand. Doch hier verbindet sich die Ikone der Farbfeldmalerei mit ihren Vorbildern, der russischen Avantgarde ebenso wie Nordamerikas indigener Kunst. Am Ende schwirren einem die Sinne von der Vielfalt möglicher Verbindungen, die sich unmöglich mit einem Besuch der Ausstellung erfassen lassen. Was auf dem Papier etwas trocken ein „transkulturell und postkolonial orientiertes“ Projekt genannt wird, erweist sich als ein System kommunizierender Röhren. 13 Räume mit Themen wie »Verwobene Bestände“, „Plattformen der Avantgarde“ oder „Ein Paradies erfinden“ erkunden die Resultate gegenseitiger Einflussnahme bis in die Gegenwart.
Versammelt sind Werke aus zwei Jahrhunderten von über 250 Künstlern, darunter Leihgaben anderer Berliner Museen. Literarische Texte flankieren die Werke ebenso wie Filmmaterial, etwa von Friedrich Murnau, der im Jahr 1930 mit seiner Yacht nach Tahiti aufbrach, um dort den Film „Tabu“ zu drehen. Auch die Riege der bildenden Künstler war kein Netzwerk aus Solisten, sondern Teil einer kulturellen Bewegung, die sich ihre Epoche aus unterschiedlichen Perspektiven erschloss. Niemand sieht alles, aber jeder etwas anderes. „Wir haben schnell erkannt“, sagt Udo Kittelmann, „dass wir mit unserem Wissen nur ein Binnenwissen zeigen würden.“ Daraus resultiert die Zusammenarbeit mit zwölf internen wie externen Kuratoren. „Hello World“ ist selbst zum vernetzten Projekt geworden. Eines, das zeigt, wie Künstler mit ihren suggestiven Exotismen Bali zu einem Sehnsuchtsort für reiche Europäer machten. Gleichzeitig beeinflusste Walter Spies mit seinen perspektivischen Landschaften balinesische Künstler, die räumlich zu malen begannen. Heute ballt sich unweit der Insel Plastikmüll aus aller Welt im Meer.
Die Künstlerin Tita Salina sammelt ihn ein und kreiert für ihr Video „10001st Island“ schwimmende Flöße, auf denen sie wie eine einsame Bewohnerin steht. Diese Idee der Wiederbelebung und Fortsetzung transkultureller Beziehungen wird über die Schau hinaus auf sein Haus wirken, davon ist Udo Kittelmann überzeugt. Das Experiment könnte Impulse geben, etwa für das nahe gelegene Humboldt Forum, das an ähnlichen Konzepten für seine Sammlungen arbeitet. Im Hamburger Bahnhof sind die zerbrochenen Welten schon einmal vorbildlich verknüpft.
Hello World. Revision einer Sammlung
bis 26.08.2018
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin
Weltkunst Nr. 144 / 2018