Die Moriskentänzer von Erasmus Grasser sind neben dem Münchner Kindl sicherlich das best vermarktete „Maskottchen“ der Stadt. Aber wer hat die berühmten Skulpturen je im Original und aus der Nähe gesehen? Im Bayerischen Nationalmuseum nähert man sich Grassers Werk an
Von
14.05.2018
Eine großartige Sonderschau im Bayerischen Nationalmuseum bietet in Kooperation mit dem derzeit geschlossenen Freisinger Diözesanmuseum die einmalige Chance, Erasmus Grasser und sein bedeutendes Werk umfassend kennenzulernen. Obwohl ihr Schöpfer unzweifelhaft als wichtigster spätgotischer Bildhauer der Stadt gilt, ist er anlässlich seines 500. Todestages in dieser Fülle erstmals zu erleben. Grasser wurde um 1450 im oberpfälzischen Schmidmühlen südlich von Amberg geboren. Der Geburtsort gehörte damals zum Territorium der Wittelsbacher Herzöge der Linie Bayern-München, was für die spätere Erlangung des Münchner Bürgerrechts von Bedeutung war. Dass er in seinen Lehr- und Wanderjahren nach Ulm, Nördlingen und an den Oberrhein gelangt sein könnte, ist Spekulation. Stilistische Ähnlichkeiten legen eine Verbindung zu Niclas Gerhaert van Leyden nahe. Die erste urkundliche Erwähnung in München stammt von 1475. Darin schwärzt ihn die zünftische Konkurrenz als „unfriedlichen, verworrenen und arglistigen Knecht“ an.
1477 fertigte er im Auftrag der Stadt elf Wappenschilde sowie Sonne und Mond für den Tanzhaussaal an; und in den entsprechende Stadtkammerrechnungen wird Grasser erstmals als Meister bezeichnet. Mittlerweile scheint Friede mit den ehemaligen Kontrahenten eingetreten zu sein, denn ab 1480 fungierte Erasmus Grasser mehrmals als „Zunftvierer“ und Mitglied des äusseren Rats“. 1480 wurde er auch für den umfangreichen Auftrag des Stadtrates zur Ausstattung des Tanzhauses bezahlt. Dazu gehörten die weltberühmten Moriskentänzer. Ursprünglich sollen es 16 gewesen sein, zehn sind erhalten (ebenso wie die Kammerrechnung!). Wie man sich die einstige Aufstellung vorzustellen hat, zeigt ein Stich von Virgil Solis. Sechs hat das Stadtmuseum nun ins Bayerische Nationalmuseum entliehen. Man kann sich ihrer lebhaften Präsenz nicht entziehen. Allansichtig geschnitzt und farbig gefasst, fesseln sie den Betrachter durch ihre schiere körperliche Akrobatik, die exaltierten Posen und Verschränkungen in den bunten exotischen Kostümen, mit ihren ausgreifenden Gesten, den bis an die Grenze des Karikaturhaften gehenden expressiven Physiognomien. Kein Wunder, dass man die Figuren in ihrer wilden Dramatik schon immer vom Mysterientheater inspiriert ansah. Dass sie damals einer verbreiteten Mode folgten, zeigen ein etwa gleichzeitiger Kupferstich von Israhel van Meckenem sowie eine Reihe kleiner silbervergoldeter oberrheinischer Figürchen aus dem Amerbacher Kunstkabinett, die wohl als Applikationen gedacht waren.
In deutlichem Kontrast zu den exaltierten Tänzer stehen die würdevollen Figuren des Chorgestühls im Dom. Mit der Errichtung eines Kollegiatstiftes an der 1488 fertiggestellten Münchner Liebfrauenkirche hoffte Herzog Albrecht IV., ein eigenes Hofbistum gegenüber dem mächtigen Hofstift Freising etablieren zu können. Hierzu war ein entsprechendes Chorgestühl für die Verrichtung der Gebetspflichten nötig. Der prominente Auftrag ging an Grasser. Zwischen 1495 und 1502 schuf er mit 114 Chorgestühl-Figuren sein umfangreichstes Werk. Allein die Vielzahl belegt, dass der gefragte Bildhauer als tüchtiger Unternehmer wie sein Malerkollege Jan Polak (oder Lucas Cranach) eine große Werkstatt betrieben hat. Mit den paarweise aufeinander bezogenen überlebensgroßen Halbrelief-Figuren der Apostel und Vorläufer aus dem Alten Testament, den Papststatuen und Heiligenstatuetten schlägt Grasser eine ganz andere Seite seiner alle Register beherrschenden Schnitzkunst auf. Die holzsichtigen Eichenholz-Plastiken strahlen eine entrückte Würde aus. Die markanten Gesichter sind fein gefältelt, die Münder leicht, wie zum Sprechen geöffnet.
Eine weitere künstlerische Spielart erkennen wir in den monumentalen Hochaltar-Skulpturen wie den Sitzfiguren der Heiligen Petrus und Emmeran. Da muss man die schiere Logistik bewundern, diese riesigen und gleichzeitig höchst empfindlichen Kunstwerke überhaupt aus dem Altarzusammenhang ausbauen und mit Hilfe gigantischer Gerüste in der Museumsausstellung präsentieren zu können. Dass für die Peterskirche extra eine Kopie angefertigt wurde, um den Namenspatron während seiner Abwesenheit zu vertreten, ist eine phänomenale Ausstellungsleistung! Nun sitzen sich der gewaltige Münchner Petrus und der heilige Emmeran aus der gleichnamigen Kleinhelfendorfer Pfarrkirche imposant und raumgreifend gegenüber. Kein Wunder, dass für diese Figuren längst der Begriff „spätgotischer Barock“ geprägt wurde. Damit nicht genug umgeben den Petrus nun erstmals seit 1857 wieder die ursprünglichen Retabeltafeln von Jan Polak mit ihren dramatisch-bewegten vielfigurigen Passions- und Heiligenszenen. Das so nicht erhaltene Ensemble spiegelt nun vorübergehend die Münchner Altarkunst um 1500 in ihrer einstigen Pracht. Auch das Kreuzretabel aus Maria Ramersdorf ist für die Dauer der Ausstellung hier aus der Nähe zu bestaunen. Einerlei, ob Werkstattmitarbeiter oder die Meister Grasser und Polak selbst, fasziniert es dank seiner anrührenden, das Leiden Christi so Mitleid erweckenden gemalten und geschnitzten Figurenfülle. Zur privaten Andacht lädt hingegen das elegante Monstranzaltärchen im Besitz des Bayerischen Nationalmuseums ein, das ebenfalls der beglückenden Zusammenarbeit Erasmus Grasser und Jan Polak zu verdanken ist.
Höfische Eleganz atmen wiederum ein Heiliger Georg (aus Schloss Berchtesgaden) oder der Heilige Johannes Martyr (aus der Pfarrkirche Sr, Vigilius in Kirchdorf am Haupold), die auch als Einzelstück in einer Kunstsammlung stehen könnten. Ob auf Fernwirkung angelegte Großplastik oder intime Andachtsfigur, vollrundes Schnitzwerk oder flaches Relief, Holz oder Stein, Grasser beherrscht alle Spielarten der Bildhauerkunst. Generaldirektorin Renate Eikelmann verabschiedet sich mit dieser exzellenten Sonderschau zum 500. Todestag Grassers nach fast 20 erfolgreichen Jahren als Museumsleiterin. Um Erasmus Grasser als phänomenalen Steinbildhauer zu erleben, muss man allerdings die Peterskirche selbst besuchen, denn dort ist das großartige, vom Künstler signierte und 1482 in Rotmarmor gehauene Epitaph für Ulrich Aresinger an seinem ursprünglichen Platz am nördlichen Pfeiler zu bestaunen.
„Bewegte Zeiten. Der Bildhauer Erasmus Grasser“
Bayerisches Nationalmuseum, München, bis 29. Juli