In Antwerpens Industriehafen liegt Axel Vervoordts „Kanaal“: ein museales Kunstquartier in einer ehemaligen Destillerie
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17.05.2018
Schmale Gassen und lauschige Plätze, historische Fassaden, die spätgotische Kathedrale Onze Lieve Vrouwe – leicht vergisst man, dass Antwerpen nicht nur eine eindrucksvolle Altstadt besitzt, sondern auch einen der wichtigsten Industriehäfen Europas. Wenige Kilometer östlich vom Zentrum, im Vorort Wijnegem, ducken sich niedrige Arbeiterhäuser in den Schatten einer Kathedrale der Neuzeit. Auf dem Gelände der ehemaligen Destillerie Meeus stammt das älteste Gebäude aus der Zeit um 1860. In der Folge kamen weitere hinzu, hochhaushohe Silos in Form von Zylindern, mächtige Lagerhäuser für Malz und Maische und weitläufige Hallen, in denen Gin und Likör hergestellt wurden. Einst galt de Stokerij Meeus als größte Schnapsbrennerei des Landes. Doch ab den Achtzigern lohnte sich das Geschäft mit dem Alkohol nicht mehr, der Betrieb wurde eingestellt. Zwanzig Jahre lang geschah dort nichts, dann erwarb der Kunsthändler Axel Vervoordt die Destillerie. Und aus dem verschachtelten Komplex industrieller Backstein- und Betonarchitektur am Albert-Kanal wurde nach und nach „Kanaal“, ein Ort, an dem, so Vervoordt, „Kunst, Architektur und Natur eins werden“.
Die Dimensionen sind gewaltig: Knapp einhundert Apartments, auf mehrere Gebäude verteilt, gibt es hier nun. Dazu kommen rund 30 Büros, ein Bio-Supermarkt, ein Restaurant, eine Reihe von Werkstätten und Ateliers und vor allem ungefähr ein Dutzend Galerien und größere und kleinere Ausstellungsräume für den Kunsthandel und die Stiftung, die Axel Vervoordt und seine Frau May 2009 gründeten. Die Kunstgalerie, regelmäßiger Gast auf der Tefaf, wird mittlerweile von Sohn Boris geleitet, die Immobiliengeschäfte obliegen seinem jüngeren Bruder Dick. Ästhetisch geprägt hat Kanaal jedoch eindeutig Axel Vervoordt. Seit er als junger Mann Ende der Sechzigerjahre in seiner Heimatstadt die Häuser im mittelalterlichen Vlaeykensgang restaurierte, haben er und seine Frau als Inneneinrichter und Tastemaker eine internationale Karriere der Extraklasse hingelegt. Zu ihren Klienten gehören Filmschauspieler wie Robert de Niro, die Pop-Stars Sting und Kayne West und zahllose Reiche und Ultrareiche, die Feuer gefangen haben für ihren sehr spezifischen, unverwechselbaren Stil.
Auch in Kanaal ist die Vervoordt’sche Handschrift überall präsent: Patina ist hier ein Wert an sich, bei den Farben dominieren gedeckte, erdige Töne. Stahl darf rostig sein, eine Wand Spuren ihres Alters zeigen. „Wenn Zeit Kunst wird“ lautete der Untertitel der Schau „Artempo“ im Palazzo Fortuny, mit der Vervoordt die Kritiker zur Venedig-Biennale von 2007 zu Begeisterungsstürmen hinriss. Zwei Jahre später widmete er sich am gleichen Ort mit „In-finitum“ dem Unendlichen und Unvollendeten in der Kunst. Die Mischung aus offen ausgestellter Vergänglichkeit, fernöstlich angeregter Spiritualität und kultur- und zeitübergreifenden Formanalogien ist der Signaturstil des Belgiers. Sein besonderes Interesse gilt dabei seit vielen Jahren den Zero-Künstlern und deren Vorläufern, der japanischen Gutai-Gruppe. Ist das fundamental heterogene und doch auf merkwürdige Weise harmonisch wirkende architektonische Ensemble der Meeus-Destillerie als solches schon grandios, so haben Axel und May Vervoordt die eindrucksvollsten Orte auf dem Gelände für die Kunst reserviert.
Schwer zu sagen, welche der Galerien die spektakulärste ist. Die Karnak-Galerie, deren rund drei Dutzend wuchtige, eng beieinanderstehende Säulen mit ihren trichterförmigen Kapitellen an altägyptische Tempel erinnern? Die Escher-Galerie, die auch Piranesi- oder Matta-Clark-Galerie heißen könnte, in der man durch große Öffnungen im Zwischengeschoss gut und gerne fünfzehn Meter vom Boden bis zur Decke schaut? Oder doch die runden „Kabinette“, die von Axel Vervoordt und vom japanischen Architekten Tatsuro Miki zu ebener Erde in den Silotürmen eingerichtet wurden, wo Künstlerinnen und Künstler wie Marina Abramović, Otto Piene und Tatsuo Miyajima Einzelauftritte haben? Insgesamt gut 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche kommen so zusammen, und was dort an permanenten Installationen präsentiert wird, hat ohne Frage Museumsqualität. In der ehemaligen Werkskapelle aus dem 19. Jahrhundert ist James Turrells Arbeit „Red Shift“ von 1995 zu sehen. Dazu wurde der alte Sakralraum etwa auf halber Länge geteilt. Die vordere Hälfte ist vollständig abgedunkelt, in der rückwärtigen gehen, auch wenn man sich an die Minimalbeleuchtung gewöhnt hat, alle perspektivisch-geometrischen Gewissheiten verloren: Vor einem zieht eine graduell changierende Illusion in Rot vorüber, und ihre diffuse Gestalt als Lichtschauspiel aus unbestimmter Quelle vertreibt beim Betrachter jede dreidimensionale Klarheit.
Für das Geistige in der Kunst, an dem den Vervoordts so viel liegt, steht auch das monumentale Werk, das Anish Kapoor in Kanaal hinterlassen hat. Das Gefühl, von einem zum anderen Moment komplett die Orientierung zu verlieren, ist hier noch stärker ausgeprägt als bei Turrell. Kapoor schuf „At the Edge of the World“ 1998, sie ist eine der ältesten Arbeiten auf dem Gelände. Von Anfang an war sie in einem eigenen Bau untergebracht, der für sie wie geschaffen schien. Nun hat man sie noch einmal etwas niedriger gehängt, auch die Außenanlage wurde um ein flaches Bassin und einen Garten des Landschaftsarchitekten Michel Desvigne ergänzt. Die Skulptur selbst erinnert ein wenig an eine Taucherglocke: eine halbierte Kugel wölbt sich über den Besuchern, ihre Innenseite hat Kapoor über und über mit dunklem, purpurrotem, reinem Pigment bedeckt. Auch da hat die matte rote Oberfläche umstandslos den Verlust der Fähigkeit des räumlichen Sehens zur Folge, sobald man sich unter die Halbkugel stellt. Abmessungen, Distanzen, ja sogar die Wölbung der Skulptur – all das wird von den physischen Eigenschaften des Pigmentstaubes verschluckt und macht „At the Edge of the World“ zu einem der wirkungsvollsten Werke Kapoors überhaupt.
In der Escher-Galerie und in den Erdgeschossen der Silos werden künftig Wechselausstellungen aus dem Programm des Vervoordt’schen Kunsthandels stattfinden. Die Karnak-Galerie hingegen wurde nur spärlich bestückt, um die wenigen Exponate – ein ägyptischer Torso und einige Fragmente der fernöstlichen Antike – bestmöglich zur Geltung zu bringen. Hier wird eine Auswahl der Bestände der Axel & May Vervoordt-Foundation gezeigt, wie auch in der schwarzen, „Henro“ genannten Galerie, die für die Kunst nach 1945 reserviert ist. Und auch dort erweist sich des Initiators sicherer Blick für exzeptionelle Qualität. Von dem 2008 verstorbenen Gutai-Künstler Kazuo Shiraga hat Vervoordt drei Actionpaintings (wieder: in Rot, was bei Shiraga eher selten vorkommt), die vor Energie nur so leuchten, gerade in abgedunkelter Umgebung. Und Antoni Tàpies, der Spanier, den Axel Vervoordt als derzeit stark unterbewertet empfindet, ist mit einem Großformat aus denkbar prominenter Provenienz vertreten. Es repräsentiert damit im Einzelnen den Anspruch des Ganzen in Kanaal: Das Gemälde gehörte einmal Tàpies’ Landsmann Pablo Picasso.