Ausstellungen

Haegue Yang: Im Dschungel des Ich

Das Museum Ludwig in Köln widmet Haegue Yang, der diesjährigen Wolfgang-Hahn-Preisträgerin, eine große Überblicksschau. Ihr vielgestaltiges, wild wucherndes Werk entzieht sich jeder Festlegung

Von Simone Sondermann
22.06.2018

Am Ende seines Langen Marsches kam Mao Zedong nach Yan’an am Gelben Fluss. Von den 90 000 Männern, die mit ihm ein Jahr lang den endlos weiten Weg gegangen waren, blieb nur ein Häuflein von 7000 übrig, der Rest war tot oder desertiert. In Yan’an schlug Mao sein Hauptquartier auf, regenerierte seine Kräfte und machte die Stadt zum Treffpunkt der chinesischen Kommunisten. Unter den Ausländern in Yan’an war die amerikanische Journalistin Nym Wales, die über den Bürgerkrieg berichtete. Sie interessierte sich nicht nur für die chinesischen, sondern vor allem für die koreanischen Freiheitskämpfer, die in Nordchina untergetaucht waren. Ihr einziges Buch, »The Song of Ariran«, basiert auf Interviews mit dem Revolutionär Kim San, der für die Unabhängigkeit Koreas von Japan kämpfte und später zu Unrecht als japanischer Kollaborateur denunziert und hingerichtet wurde. Kim San ist ein Pseudonym, ebenso wie der Name der Autorin, die in Wahrheit Helen Foster Snow hieß und weit weniger berühmt wurde als ihr Ehemann Edgar Snow, der Mao-Biograf.
Haegue Yang erzählt die verwickelte Geschichte von Nym Wales und Kim San zur Abendstunde im Klassenraum der Frankfurter Städelschule, wo sie seit Herbst vergangenen Jahres unterrichtet. Die Künstlerin zu treffen ist eine Herausforderung. Sie ist international sehr gefragt, pendelt zwischen ­Berlin, Frankfurt und Seoul und absolviert darüber hinaus ein umfangreiches Reiseprogramm, um zu recherchieren und ihre weltweiten Ausstellungen zu betreuen.
Die Begegnung zwischen der amerikanischen Journalistin Snow und dem koreanischen Anarchisten im China der 1930er-Jahre verarbeitete Haegue Yang in einer wegweisenden Arbeit, deren Schichten sie im Gespräch andeutungsweise freilegt. Viel schwingt hier mit: die Utopien der Vergangenheit und die Geschlechterrollen von heute, die Geschichte Koreas, wo Yang 1971 geboren wurde und aufgewachsen ist, der Blick auf das Eigene und auf das Fremde, das Versteckspiel mit Identitäten. »Ich und mit mir viele Koreaner kennen Kim San nur durch das Buch von Nym Wales, es wurde ein Akt der Geschichtsschreibung. Es ging mir in der Arbeit darum, wie die beiden Personen sich gegenseitig beleuchten«, erzählt sie.

Große Überblicksschau im Museum Ludwig

»Mountains of Encounter«, so der Titel des Werks aus dem Jahr 2008, ist derzeit in einer großen Überblicksschau von Haegue Yang im Kölner Museum Ludwig zu sehen und bildet das heimliche Herz einer Ausstellung, die einen breiten Blick auf den sehr vielgestaltigen Kosmos der Künstlerin wirft. Rote Jalousien hängen von der Decke und schaffen einen ebenso intimen wie offenen Raum, in dem innen und außen ineinanderfließen. Runde Lichtkegel wandern über die Installation und eröffnen ein weites Feld von Assoziationen, beunruhigende wie Suchscheinwerfer, poetische wie die auf- und untergehende Sonne, politische wie die Fahnen Japans und Südkoreas, in deren Zentrum jeweils ein Kreis steht. Damals habe sie das Verhältnis von Narration und Nicht-Narration beschäftigt, sie »wollte eigentlich keine Geschichte mehr erzählen«, doch zugleich »die Geschichtenerzählung als Möglichkeit nicht ganz aufgeben«, erklärt Yang in einer für ihr Denken typischen Paradoxie. Auch den unbefangenen Betrachter, der die Geschichte von Nym Wales und Kim San nicht kennt, kann das kraftvolle Rot der Jalousien an die kommunistische Symbolik erinnern. Ganz sich selbst überlassen will die Schau den Besucher jedoch nicht, zu jedem größeren Werk gibt es eine erläuternde Tafel mit kurzen Texten – dem Geist der Konzeptkunst entsprechend, deren Einfluss in Yangs Arbeiten präsent ist.

Der von der Kölner Gesellschaft für Moderne Kunst vergebene Wolfgang-Hahn-Preis, eine der wichtigsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst, ging in diesem Jahr an Haegue Yang. Mit 100 000 Euro hoch dotiert, ist er stets mit einer großen Schau im Museum Ludwig verbunden sowie mit einem Ankauf durch das Haus. Zur Jury gehört auch der Direktor Yilmaz Dziewior, der Yangs Werdegang seit Jahren begleitet und schon in Hamburg und Bregenz Ausstellungen mit ihr kuratierte. Die Jalousienarbeiten sind Haegue Yangs signature pieces, mit ihnen wurde sie weltweit bekannt. »Mountains of Encounter«, das jetzt zur Sammlung des Museum Ludwig gehört, steht am Anfang dieser Entwicklung. »Es war die erste Arbeit«, erzählt Dziewior, »bei der Haegue Yang die ­Jalousien in großem Umfang als räumliche Setzung verwendet hat.« In den Folgejahren lotete Yang die Möglichkeiten dieses Ma­terials immer weiter aus. Auf der Docu­menta 13 im Jahr 2012 installierte sie silbergraue Exemplare in einer alten Lagerhalle nahe dem Kasseler Bahnhof und erregte damit Aufsehen. Die Jalousien wurden von einem Motor angetrieben, wie von Geisterhand klappten die Lamellen auf und zu und erzeugten dabei ein hartes Geräusch, das Haegue Yang noch einmal lachend nachmacht: »Rumm! Klack.« Im Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin war kürzlich eine weitere große bewegliche Jalousiearbeit zu sehen, schwarze und blaue Modelle rotierten sanft gleitend gegeneinander und vermittelten das Gefühl eines lautlosen Tanzes. »Silo of Silence« heißt dieses Werk.

Duftmaschinen und Raumbefeuchter

Der Rundgang im Museum Ludwig beginnt mit einer Art Gesamtkunstwerk aus dem Yang’schen Repertoire. Ventilatoren erzeugen Winde, ein Raumbefeuchter stößt kleine Nebelschwaden aus, in der Luft hängt ein seltsamer Duft. In der Mitte von »Series of Vulnerable Arrangements – Version Utrecht« von 2006 definieren schwarze Jalousien einen Raum im Raum, in dem sich zwei Videoleinwände befinden. Im Inneren wird die Stimmung sehr intim, was vor allem an der zarten Offstimme liegt, die das Geschehen auf der Leinwand – Bilder aus fahrenden Zügen, nächtliche Straßen- und Strandszenen in Korea – mit persönlichen, ja poetischen Geschichten begleitet. »Ich habe verstanden, dass die Jalousie eine Metapher für die Beziehung des Ich mit dem anderen, des Subjekts mit der Welt sein kann. Wie gehen Licht, Geruch oder Wind hindurch, wie weit öffnet oder schließt man sie, dadurch artikuliert sich etwas«, erzählt Yang über diese frühe Beschäftigung mit dem Material.

Haegue Yang wächst im Seoul der Siebziger in einem intellektuellen und politisch aktiven Elternhaus auf. Ihr Vater ist Journalist, die Mutter Lehrerin und Schriftstellerin. Während Yangs Kindheit und Jugendzeit beginnt in Südkorea eine Epoche wirtschaftlichen Aufschwungs, der, von einigen Dellen abgesehen, bis heute anhält. Die demokratische Entwicklung hinkt lange hinterher, vor allem die 1980er-Jahre sind durch Putsche und politische Unterdrückung geprägt. Anfang der Neunzigerjahre absolviert Yang ein Kunststudium in Seoul, bevor sie 1994 an die Frankfurter Städelschule geht, in die Klasse des Bildhauers Georg Herold. Die frühesten Werke der Ausstellung im Museum Ludwig stammen aus diesem Jahr ihres Wechsels nach Europa. Sie beginnt damals nicht nur, ihre künstlerische Sprache zu entwickeln, sondern setzt auch ihr Leben einer radikalen Veränderung aus. Es ist der Weg einer bewusst gewählten Ortlosigkeit, einer freien Existenz zwischen und jenseits der Kulturen. Dazu passt der Titel der Kölner Schau: »ETA«, das Kürzel für estimated time of arrival – voraussichtliche Ankunftszeit.
Zu Yangs Leben und Werk im Dazwischen gehört auch eine große Diversität ihrer künstlerischen Mittel. »Meine Kunst mag aufgrund ihrer Vielfältigkeit, aufgrund der Zerstreutheit meiner Interessen begrifflich schwer zu fassen sein«, sagt sie. Deshalb habe sie die Vorbereitungen für die Ausstellung selbst wie einen »Spaziergang im Dschungel« empfunden, ihre Arbeiten seien bislang »einfach wild gewachsen«. Die Jalousienwerke spielen in Köln zwar eine wichtige, aber keineswegs dominierende Rolle. Es sind Videos zu sehen, Environments aus Möbelstücken, anthropomorphe Skulpturen, Kleider und Klangbilder aus Glöckchen, sogar Zeichnungen. Der große mittlere Raum des Rundgangs ist angefüllt mit ihren Plastiken aus Kleider- oder Infusionsständern, die sie mit Glühbirnen, Kabeln und oft bunten, glänzenden Bommeln, Perücken oder Netzen behängt und so in Protagonisten eines ebenso trivialen wie futuristischen Figurentheaters verwandelt. Oskar Schlemmers »Triadisches Ballett« kommt einem in den Sinn. Die Ständerfiguren haben Rollen und suggerieren so, auch wenn sie stillstehen, Bewegung, ja Tanz. Ein Flirt mit dem Exotischen ist hingegen die »Intermediates«-Serie, eine Reihe von an Stammeskunst erinnernden Strohskulpturen von hoher handwerklicher Kunstfertigkeit, die aber in der typisch Yang’schen Brechung aus Kunststroh hergestellt wurden.

Zwischen Biografie und Abstraktion

Das Moment der eingefrorenen oder imaginativen Bewegung findet sich subtil auch in den Lackbildern wieder, die sie schon seit 1999 immer wieder aufgreift und variiert. Bei den in Köln gezeigten schmutzig-gelben Tafeln hat sie Natur und Zufall die Tür geöffnet – eine interessante Facette im Werk der Künstlerin, die für ihre akribische Planung und eine große Präzision in der Durchführung bekannt ist. Bei den Lackbildern mit so hübschen Titeln wie »Tides Over Mess« oder »Rainy Stormy Rosemary« bestreicht sie Spanplatten mit einer dicken Schicht Holzklarlack und setzt diese dann in einem geplanten Kontrollverlust den natürlichen Einflüssen der Umgebung aus. Wind, Staub, Sesamblätter oder Haare hinterlassen ihre Spuren oder bleiben an dem klebrigen Material haften. Herausgekommen sind abstrakte Schönheiten, die nun wie klassische Tafelbilder an der Museumswand hängen.
Dass die Lackkunst vor allem im asiatischen Raum eine lange und bedeutende Tradition hat, gibt der Werkserie eine weitere Sinnebene, macht sie zum Spiel mit der kulturellen Zugehörigkeit. Haegue Yang ist sich ihrer Rolle als »Exotin« im Kunstbetrieb sehr bewusst und versucht zugleich, sich ihr zu entziehen. »Mir ist klar, ich stehe für etwas, ob ich will oder nicht, aber das ist nichts Koreanisches, noch nicht einmal Asiatisches, vielleicht auch nicht unbedingt Europäisches. Ich glaube, ich bin auf dem Weg, etwas Hybrides zu werden«, sagt sie. Christina Végh, Direktorin der Kestnergesellschaft in Hannover, beginnt ihre Laudatio bei der Preisverleihung im Museum Ludwig mit dem Hinweis, dass die Künstlerin auf ihrer Website gleichwertig zwei Namen verwendet – Haegue Yang und Heike Jung – und so jede kulturelle Identifizierung unterläuft. Auch Yilmaz Dziewior wird aufmerksam, als es um die Frage nach der Rolle Yangs als ostasiatische Künstlerin geht. »Wir haben in unseren Pressemitteilungen geschrieben, Haegue Yang ist die erste koreanische Künstlerin, die den Wolfgang-Hahn-Preis bekommt«, erzählt er. »Da gehen sofort die Alarmglocken an: Jetzt wird die Herkunft von Haegue Yang instrumentalisiert, und das stimmt, das wird sie. Aber dieser Satz wird auch als Waffe eingesetzt, um zu zeigen, hier stimmt etwas nicht.« Haegue Yangs konsequentes Hinterfragen kultureller Zugehörigkeiten, ihr verspieltes Verweigern der Wiedererkennbarkeit hat sie für den postmodernen Diskurs der zeitgenössischen Kunstwelt attraktiv gemacht. Die Ausstellung in Köln passt gut zur aktuellen Neubewertung von Sammlungen wie im Museum Ludwig oder im Hamburger Bahnhof in Berlin, wo die Dominanz weißer, männlicher Künstler hinterfragt wird.

Dass Haegue Yang so den Zeitgeist bedient und sich scheinbar treffend mit postmodernen Begrifflichkeiten erfassen lässt, birgt die Gefahr, den Zugang zum Persönlichen, zum Besonderen im Werk der Künstlerin zu versperren. Was in der Kölner Ausstellung überrascht, ist die große Präsenz des Sinnlichen, des Atmosphärischen und letztlich Biografischen in ihren Arbeiten. Bei allem Versteckspiel und aller Abstraktion wird ­Haegue Yang doch als Person sehr erkennbar. »Ich sehe mich als unabhängige Position, ich gehöre nirgendwo hin«, erzählt sie. »Ich bin stolz auf mich, dass ich nicht verhungert bin, sondern aktiv als Künstlerin in verschiedenen Teilen der Welt arbeite. Das ist für mich ein Zeichen, dass es den Raum dafür gibt, sein eigenes Ding zu machen.«
Als Haegue Yang am Abend der Preisverleihung in Köln auf die Bühne kommt, strahlt sie über das ganze Gesicht. In einer Triumphgeste reckt sie kurz die geballte Faust nach oben, dabei lacht sie fröhlich und nimmt der Geste jede auftrumpfende Schwere. Sie freue sich, dass an diesem Abend ihr Vorname so oft richtig ausgesprochen worden sei, Häg-u-e Yang, bemerkt sie augenzwinkernd. Und verweist ansonsten vor allem auf »das Nichtbegreifliche in der Kunst«.
Zu Haegue Yangs Lieblingsautoren gehört Marguerite Duras, die französische Schriftstellerin, die im frühen 20. Jahrhundert in Französisch-Indochina, dem heutigen Vietnam, aufwuchs, mit knapp 30 Jahren nach Frankreich ging und sich dort der Résistance anschloss. In »Der Vize-Konsul« von 1966 schreibt Duras: »Ich möchte eine Anweisung, um mich zu verlieren. Man muss ohne Hintergedanken sein, bereit sein, nichts von dem wiederzuerkennen, was man kennt, muss seine Schritte zum feindseligsten Punkt des Horizontes lenken, einer Art weiter Wüste von Sümpfen entgegen, durch die, nach allen Richtungen, tausend Böschungen ziehen, es ist nicht zu sehen, weshalb.« Haegue Yangs Kunst ist dann am stärksten, wenn man nicht ganz versteht, warum.

Service

Ausstellung

Haegue Yang, ETA. 1994–2018. Wolfgang-Hahn-Preis 2018

Museum Ludwig, Köln, bis 12. August

Katalog hrsg. von Yilmaz Dziewior, 415 Seiten, Verlag der Buchhandlung Walther König

Dieser Beitrag erschien in

Weltkunst Nr. 144 / 2018

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