Japans berühmtester Tiger zu Gast in Zürich: Das Museum Rietberg stellt den exzentrischen Maler Rosetsu vor
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28.09.2018
Als das Museum Rietberg mit den Vorarbeiten für eine Ausstellung über Nagasawa Rosetsu (1754 – 1799) begann, besaß es keine einzige Arbeit von ihm. Im April änderte sich das dann unerwartet: Denn das Haus ersteigerte bei Christie’s in New York für 210 000 Dollar zwei sechsteilige Stellschirme mit Tuschmalereien des Künstlers. Bereits die Schätzung von 100 000 Dollar hatte über dem bis dato erzielten Höchstpreis von 65 000 Dollar gelegen, der 2001 bei Sotheby’s für ein ebenfalls sechsteiliges Stellschirmpaar mit spielenden Kindern bewilligt worden war. Damit besitzt das Museum nun ein Werk Rosetsus, das seine wesentlichen Motive bündelt: die Affen und die Hundewelpen, den chinesischen Gelehrten und das Kind, die Fische und die Sperlinge, den Zweig, der vor einem fahlen Mond steht, und den Wasserfall. Nimmt man – wie im Museum Rietberg an mehr als einem halben Hundert Beispielen zu sehen – noch die Hofdamen und volkstümlichen Götter, die Protagonisten beliebter Erzählungen, die Pfauen und Kraniche, die Landschaften als Fernblick und die Bäume und Blumen in Nahsicht hinzu, hat man weitgehend das Repertoire Rosetsus umrissen, das vorwiegend von chinesischen Überlieferungen geprägt ist.
Für seinen Malstil gilt das jedoch nicht. Von der Kano-Schule, die sich an der chinesischen Malerei der Song-Zeit (960 – 1279) orientierte und in Edo am Hof der Tokugawa-Shogune den Ton angab, verabschiedete er sich schnell. Sein Lehrer Maruyama Ōkyo pflegte stattdessen eine fast naturalistische Malweise, die ihn zum erfolgreichsten Maler in der Kaiserstadt Kyoto werden ließ. Dem entsprachen auch Rosetsus frühe Arbeiten. Doch nachdem er um 1782 einer eigenen Werkstatt vorstand, huldigte er immer wieder höchst unkonventionellen Methoden. Dazu gehörten, angeregt von der Zen-Malerei, die spontan mit schnellem Pinsel ohne Vorzeichnung hingeworfenen Figuren. Oder die Fingermalerei, die die Spielregeln der traditionellen Kunst missachtete. Sie war in China in der Tang-Zeit (618 – 907) aufgekommen. Gāo Qípeì und die „Acht Exzentriker von Yangzhou“ galten in der zweiten Hälfte des 17. und den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als ihre Exponenten. Eines der frühesten Zeugnisse, dass Maler in Japan diesem Beispiel folgten, ist ein Gedicht – im chinesischen Stil – von Yanada Zeigan, das in den Vierzigerjahren des 18. Jahrhunderts erschien. Es bezieht sich auf den Maler Yanagisawa Kien. Mit Ikeno Taiga und Yosa Buson, die beide in Kyoto lebten, gehört er zu den ersten, von denen Fingermalereien überliefert sind. Ob Rosetsu, eine Generation jünger, diese Bilder kannte, ist ungewiss. Er vermerkt jedoch auf mehreren Hängerollen „Fingermalerei von Rosetsu“. Außerdem kann man da noch lesen, er habe diese Bilder im betrunkenen Zustand „als Scherz“ gemalt.
Rosetsu war nicht nur der Maler-Rebell, der sich gern eigenwillig und unkonventionell gab – weshalb er neben Itō Jakuchū (1716 – 1800) und Soga Shōhaku (1730 – 1781) als einer der „Drei Exzentriker“ gilt. Er soll auch Sake nicht verachtet haben und den Geishas zugetan gewesen sein. Will man posthumen Geschichten über sein Leben glauben, wurde er entweder von neidischen Kollegen vergiftet oder beging Selbstmord. Als lebensfremd darf man ihn gewiss nicht sehen. Denn er erkannte durchaus marktbewusst, was gefragt war, und vermochte, weil er die unterschiedlichen malerischen Techniken beherrschte, diesen Wünschen zu entsprechen.
So übernahm er den „dekorativen Stil“ der Goldgrundmalerei, die Ende des 16. Jahrhunderts durch die Europäer in Japan bekannt geworden war, auf einem Fächer wie auf großen Stellschirmen. Ein Affe, der auf einem Felsvorsprung hockt, schwebt deshalb über einer Folie aus Blattgold. Und mehr als einmal – wie im Museum Rietberg zu sehen – brillierte er mit malerischen Kunststücken: Er tuschte einen Bambus auf eine nur elf Zentimeter breite Seidenbahn, die jedoch mehr als anderthalb Meter hoch ist. Und auf einem 3,1 mal 3,1 Zentimeter kleinen Blatt versammelte er die legendären „500 Arhats“ samt Tiger, Löwe, Elefant und Drache.
Das Zentrum aber bildet ein Nachbau der Haupthalle des Muryōji mit der ersten großen selbstständigen Arbeit Rosetsus. Sie fiel ihm zu, weil sein Lehrer Ōkyo die weite Reise von Kyoto in die entlegenen Gegenden von Honshū scheute, wo der Zen-Tempel nach seiner Zerstörung wieder errichtet worden war. Vier Räume hat Rosetsu ausgemalt (lediglich im fünften wurden acht Tuschzeichnungen von Ōkyo mit den chinesischen Unsterblichen angebracht). Im ersten Raum begegnet man überlebensgroßen Kranichen, im zweiten einem Hahn, einer Henne und Katzen auf Felsen am Wasser, und im dritten sieht man Kinder, die schreiben lernen, malen, musizieren – und das alles mit Schabernack konterkarieren. Das alles aber sind gleichsam nur Präludien für den Altarraum, dessen Ostwand ein Tiger und dessen Westwand ein Drache beherrscht.
Angeblich hat Rosetsu die beiden, die Yin und Yang – die weibliche und die männliche Kraft – verkörpern, in einer einzigen Nacht gemalt. Bedrohlich wirkt der Tiger, der in einem eleganten Bogen in den Raum zu springen scheint, jedoch nicht. Es stellt sich eher dem Bösen entgegen, verspricht Abwehr und Schutz – lädt zur Meditation ein. Deshalb gilt er nicht zufällig als „Japans beliebtester Tiger“. Dabei wird leicht übersehen, mit welchen raffiniert sparsamen Mitteln das Tier gemalt wurde. Indem Rosetsu die Tusche hier „trocken“, dort „nass“ auftrug, sind ihm Abstufungen vom hellen Grau des Fells mit seinen dunkleren Streifen bis hin zum harten Schwarz der Barthaare gelungen, die ein farbiges Bild ohne Farbe entstehen lassen.
Weil in Japan die Maruyama-Shijō-Schule lange im Schatten der Kanō-Schule stand, kommen diverse Leihgaben aus Privatsammlungen und Museen in Amerika. Meist sind es Erwerbungen der Nachkriegszeit. Dabei spielten die Nachwirkungen des Pazifischen Kriegs mit, durch den viele Amerikaner mit einer ihnen weitgehend unbekannten Welt und deren Kultur bekannt geworden waren. Die Folge war eine Art „zweiter Japonismus“, der in Sammlungen von Kunst und Kunstgewerbe mündete. 1969 fand bei Parke-Bernet in New York die erste große, allein japanischer Kunst vorbehaltene Auktion statt, bei der unter anderem die Sammlung japanischer Holzschnitte von Frank Lloyd Wright unter den Hammer kam. 1973 bildete sich die „Ukiyo-e Society of America“, die sich bald zu „The Japanese Art Society of America“ erweitern sollte. Und weil inzwischen eine Reihe von Sammlern ihre Schätze Museen vermacht haben, sind in Boston, Cincinnati, Cleveland, Dallas, Indianapolis, Los Angeles, Maryland, New York, Philadelphia und San Diego Werke von Rosetsu zu sehen.
In Deutschland besitzt das Museum für Asiatische Kunst in Berlin unter anderem die Hängerolle eines Kranichs aus der Sammlung des preußischen Generalmajors Meckel, der 1885 mehrere Jahre in Japan als Militärberater tätig war, sowie die Seidenmalerei mit „Papagei und Sperling auf einem Felsen“, die in Zürich zu sehen ist. Und aus Köln kamen als Beispiele für die frühe Rezeption Rosetsus in Deutschland der „Pfau“, um 1786 nach einem Gemälde von Ōkyo entstanden, und die „Hunde“, die wahrscheinlich einst die Vorder- und Rückseite eines Wandschirms bildeten. Werner Speiser, später Direktor des Museums für Ostasiatische Kunst, schrieb 1935, als er dort erst „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ war, Rosetsu sei „einer der eigenartigsten, witzigsten, ja groteskesten und damit echtesten Söhne Japans, ohne den das Bild der japanischen Kunst ärmer wäre.“ Dem mag man angesichts der Auswahl im Museum Rietberg nicht widersprechen. Denn dort entdeckt man – entsprechend der chinesischen Redensart vom „Lauernden Tiger, verborgenen Drachen“, die ein noch unerkanntes Talent meint – einen ungewöhnlich vielseitigen Künstler, der das Leben mit heiterer Gelassenheit betrachtet, gemalt und ausgekostet hat – und damit unser Bild von der japanischen Malerei mit einem sehr eigenen Witz auf- und anregend erweitert.
„Rosetsu – Fantastische Bilderwelten aus Japan“
Museum Rietberg, Zürich
bis 4. November