Auf den Rausch folgt das Rumliegen: Eine Ausstellung im Stuttgarter Kunstmuseum zeigt Verzückung und Entgrenzung in der Kunst und folgt dabei der kulturellen Bedeutung der Ekstase durch die Jahrhunderte.
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12.11.2018
Schon der erste Schritt in die Ausstellung geschieht auf eigene Gefahr. Carsten Höller beflügelt Hoffnung auf Entgrenzung mit der Rieseninstallation „Light Wall“. Ihre Glühbirnen blinken lautstark in einer hohen Frequenz und reizen damit den Sinnesapparat erheblich. Keine angenehme Erfahrung, der man nur entgeht, wenn man den Rundgang durch fünf Stockwerke fortsetzt.
Extase in unterschiedlichster Gestalt
Es lohnt sich, denn die Mischung der Kunstwerke, die Ulrike Groos, Direktorin des Stuttgarter Kunstmuseums, zum Obertitel „Ekstase“ entlang von neun Themenbereichen wie Religion, Sexualität, Drogen, Jugendkultur oder Sport lose anordnet, erweist sich als erstaunlich abwechslungsreich.
Im Sektor Tanz etwa begegnet man den exaltierten Improvisationen einer Isadora Duncan ebenso wie der selbstzerstörerischen Präsenz von Anita Berber. Otto Dix tauchte ihr berühmtes Porträt von 1925 in ein laszives Rot. Obwohl erst 26 Jahre alt, ist ihr Gesicht bereits gezeichnet vom Drogenkonsum und den Folgen eines harten Bühnenprogramms.
Der Rausch begleitet unsere Kultur
Nebenan ist man plötzlich im 15. Jahrhundert zu Gast und schaut den holprigen Bewegungen zu, die der Künstler Israhel van Meckenem seinen narrenhaften Moriskentänzern auf einem Stich verabreicht hat. Von hier ist man schneller als geglaubt bei den Fotodokumentationen der Technoszene aus der Hand von Wolfgang Tillmans oder Andreas Gursky. Während die nächtliche Club-Existenz bei beiden als ein von Glückswellen angetriebenes Zufallskollektiv interpretiert wird, ist der Pole Gregor Rozanski skeptischer: Seine Aufnahmen halten den Moment fest, als die Ekstase der körperlichen Erschöpfung in Gewalt umschlägt.
Die Ausstellung versammelt zahlreiche Höhepunkte
Wer sich an den mitunter extremen Zeitsprüngen nicht stößt, kann sich an 230 Werken in dieser programmatisch enthemmten Schau erfreuen. Liebhaber der dionysischen Antike werden bei expliziter Erotik auf griechischen Vasen fündig. Und Berninis heilige Theresa ist nur eine von vielen Frauenfiguren, die ganz ohne toxische Substanzen auskommt und dennoch verzückt ihren Blick Richtung Himmel wendet. Damit nimmt sie eine Körperhaltung ein, die nicht weit entfernt vom Liebesrausch liegt.
Was wiederum zu Hedy Lamarr führt: Die spätere Filmgöttin gab 1933 in Gustav Machatýs Ehedrama „Ekstase“ ihre sexuelle Erregung in einer Nahaufnahme skandalträchtig zum Besten. Für Gender-Balance in dieser Disziplin sorgt Aura Rosenberg mit ihren „Head Shots“ aus den 90er-Jahren, einer ganze Galerie männlicher Orgasmen.
Das Erlebnis der Entgrenzung
Auch der Schamanismus kommt nicht zu kurz – auffällig oft in Überschneidung mit Drogen. Ohne psychedelische Pflanzen keine Trance. Doch Marina Abramović verausgabt sich lieber nackt in einer Performance und aktiviert so ihre körpereigenen Botenstoffe. Ayrson Heráclito hingegen zitiert nicht nur den Schamanismus. Als Priester der afrobrasilianischen Candomblé-Religion kennt er deren Rituale.
Seine Fotoserie „Bori“ zeigt Götterbeschwörungen, die Augen der Gläubigen geschlossen, die Körper in Popcorn und gemahlenen Gewürzen gebettet. Die Nahrung vertreibt Krankheiten. Und wo bleibt der Rausch? Er schlummert sich gesund, damit der nächste Kontrollverlust umso besser gelingt.
„Ekstase“
Kunstmuseum Stuttgart
bis 24. Februar
Weltkunst Nr. 150/2018