Seine Bilder von der französischen Riviera zeigen diese noch wild und unberührt, wecken aber zugleich touristische Sehnsüchte. Mit einer großen Schau in Potsdam wird der Neoimpressionist Henri-Edmond Cross der Vergessenheit entrissen
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19.12.2018
Als der Zug am Bahnhof von Bormes hielt, war niemand da, der auf sie wartete. Im Dorf gelang es den beiden Reisenden, einen Kutscher ausfindig zu machen. Auf einem sandigen Weg ging es dann die Hügel hinauf und hinunter, vorbei an Pinien und Felsen und durch die Macchia, bis Henri-Edmond Cross und seine Lebensgefährtin Irma Clare das Haus erreichten, das sie gemietet hatten. Cross nannte es später „la maison perdue“, das „verlorene Haus“. Sie hatten ihr Ziel erreicht: das Paradies. „Ich möchte das Glück malen“, schrieb Cross im Juni 1893 an seinen Freund und Malerkollegen Paul Signac, der in Paris zurückgeblieben war, „die glücklichen Wesen, die die Menschen in einigen Jahrhunderten (…) werden sein können, wenn die reine Anarchie verwirklicht ist.“
Cross und Signac gehörten zur Gruppe der Neoimpressionisten, die zu dieser Zeit die Pariser Kunstszene aufmischten. Anders als der Name ihrer Gruppe nahelegt, hatten sie mit den Impressionisten aus der Generation vor ihnen nicht viel zu tun. Im Gegenteil: Sie grenzten sich heftig dagegen ab und empfanden die Malerei der Monets, Renoirs und wie sie alle hießen als „zu romantisch“. Woher die Ablehnung kam, ist im Nachhinein nicht recht klar, aber auch unerheblich, wenn man, wie die Neoimpressionisten, im Begriff war, ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der modernen Kunst zu schreiben.
Es war in der Vergangenheit anders, aber heute kennen Henri-Edmond Cross in Deutschland nur noch wenige Spezialisten. Dem Museum Barberini in Potsdam kommt das Verdienst zu, diese eklatante Bildungslücke mit einer im wahrsten Sinne epochalen Schau zu schließen: Es ist, 108 Jahre nach seinem Tod, die erste Einzelausstellung dieses Künstlers hierzulande. Und das wiederum versetzt einen schon deshalb in Erstaunen, weil zu Cross’ Lebzeiten Sammler aus Deutschland seine größten Bewunderer waren und ihn ausgiebig gefördert hatten.
Etwa 100 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen haben die Organisatoren um Museumsdirektorin Ortrud Westheider und Ausstellungskurator Daniel Zamani zusammengetragen. Das ist eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass Cross im Lauf seines Lebens überhaupt nur ungefähr 200 Bilder malte, von denen eine erhebliche Zahl als verschollen gilt. Die in Potsdam präsentierten Arbeiten stammen aus sämtlichen Werkphasen des Künstlers. Sie kommen als Leihgaben aus internationalen Privatsammlungen und so renommierten Institutionen wie dem Pariser Musée d’Orsay, der National Gallery of Art in Washington, dem Museum of Fine Arts in Houston, dem Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid sowie der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen.
Das Ganze ist eine Kooperation mit dem Musée des impressionnismes Giverny, wo die Ausstellung zuvor zu sehen war. Doch Giverny, jenes Örtchen eine gute Autostunde nordwestlich von Paris, das in erster Linie durch den Garten und das Spätwerk Claude Monets bekannt wurde, ist deutlich abgelegener als Potsdam, das man von der Metropole Berlin aus bequem mit der S-Bahn erreichen kann – wovon sich die Ausstellungsmacher zu Recht höhere Besucherzahlen versprechen.
Henri-Edmond Cross wird 1856 geboren. An den Écoles Académiques de Dessin et d’Architecture in Lille und in den Ateliers verschiedener traditionell orientierter Maler erhält er früh eine akademische Ausbildung. Anfang der 1880er-Jahre stellt er auf dem Salon des Artistes Français in Paris zwei Stillleben in dunklen, erdigen Farben aus. In dieser Zeit interessieren ihn Künstler des Realismus wie der wenige Jahre zuvor verstorbene Gustave Courbet.
1883 verbringt Cross zum ersten Mal einen längeren Aufenthalt an der Riviera in Südfrankreich. Danach verändert er seinen Malstil radikal. Zurück in Paris, gründet er mit anderen jungen Malern die Société des Artistes Indépendants und stellt das großformatige Gemälde „Monaco“ aus, für das er – anders als bisher – frische, helle, intensive Farben verwendet. An dieser ersten Werkschau der Indépendants nehmen auch die Künstler Paul Signac und Georges Seurat teil. In einer Besprechung der Indépendants von 1886 erfindet der Kritiker Félix Fénéon zwei Jahre später den Begriff „neoimpressionistisch“.
Die Malerei der Neoimpressionisten lässt sich aus heutiger Sicht mit dem Impressionismus zwar äußerlich vergleichen, sie weicht allerdings in einigen wichtigen Aspekten davon ab. Wie bei Monet, Pissarro oder Renoir setzen sich die Gemälde der Neoimpressionisten aus einer Vielzahl einzelner, mit dem bloßen Auge gut erkennbarer Pinselstriche zusammen. Nur sind diese Pinselstriche bei Cross und den anderen eigentlich keine Striche mehr, sondern nur noch Punkte. Und diese Punkte bestehen auch nicht mehr aus Mischtönen, sondern aus reinen Farben.
Theoretisch fußt dies auf den damals neuen Erkenntnissen zum optischen Phänomen des Komplementärkontrastes von Forschern wie dem französischen Chemiker Eugène Chevreul oder dem Mathematiker Charles Henry, dessen Vorlesungen an der Pariser Sorbonne die Neoimpressionisten um 1890 regelmäßig besuchten. In der Praxis wollten die Maler mit dieser Technik die Leuchtkraft der Gemälde steigern. Und dies sollte ihnen auf geradezu spektakuläre Weise gelingen.
1891/92 malt Cross die Landschaften „Calanque des Antibois“ und „Plage de Baigne-Cul“. Zwölf Jahre später, 1904, entsteht „Nachmittag im Garten“, das bereits kurz darauf an das Städel in Frankfurt geht, wo es seitdem zu den Höhepunkten der ständigen Sammlung zählt – und auf jedem einzelnen dieser Bilder explodieren die Farben in einer bis dahin nie da gewesenen Intensität. Da ist nichts Dunkles, Verhangenes, Abgetöntes mehr wie noch zu Cross’ Pariser Lehrjahren. Im Süden scheint er alles Niedergedrückte, Vorsichtige, Düstere abzustreifen und lässt die Farben auf den Leinwänden frei und frisch sein. Wenn man vor einem Gemälde wie „Landschaft der Provence“ von 1898 steht, dann ist darauf ein visuelles Flirren zu sehen, als hätte Cross das Zirpen sämtlicher Zikaden Südfrankreichs auf der Leinwand in pure Pigmente verwandelt.
Dass sich Cross den Neoimpressionisten erst anschließt, als Georges Seurat gestorben ist, darf man als ein Rätsel zwischenmenschlicher Psychologie verbuchen. Das Entscheidende ist: Er, sein Freund Signac und Seurat beschließen in diesen Jahren, dass die Farben nicht mehr dazu dienen sollten, Gegenstände oder Personen möglichst naturgetreu abzubilden. Sie verstehen sie als einen Wert an sich, das ist das eigentlich Revolutionäre an ihrer Kunst. Henri-Edmond Cross, geboren als Sohn einer Engländerin und eines Franzosen in der alten flämisch-gotischen Handelsstadt Douai, gehört damit zu der Handvoll von Pionieren, die vor rund 140 Jahren anfingen so zu malen, wie wir es heute noch als modern empfinden: unrealistisch, abstrakt, exaltiert. Und vor allem: mit einer Idee dahinter.
Cross ist Anarchist, aber einer von der friedlichen Sorte. Er erträumt sich eine Gesellschaft, in der jeder unbedrängt von äußeren Zwängen mit spielerischer Leichtigkeit macht, was ihm gemäß und angenehm ist. Das Paradies auf Erden, das er in der Wirklichkeit für sich und seine Frau in der Abgeschiedenheit der Côte d’Azur gefunden hat, dieses Paradies erträumt er sich in einer unbestimmten Zukunft für alle. So wird Cross, der die Malerei der Impressionisten als „zu romantisch“ abgelehnt hatte, selber zum Romantiker. Wenn Cross Badende am Meer malt, dann hat das mit dem traditionellen Motiv der „Badenden“ nichts mehr zu tun. Seine unbekleideten, Kopf über ins Wasser springenden jungen Frauen auf „La Joyeuse Baignade“, „Das fröhliche Bad“, von 1899/1902 sind ein gemaltes Manifest, eine Aufforderung. Ein Programm, in dem steht, dass es den Menschen seiner Meinung nach erlaubt sein soll, dies zu tun. Und es ist auch kein Widerspruch, dass er auf dem wunderbaren, in lauter winzige Leuchtpunkte aus Blau, Grün, Violett und Gelb schier zerspringenden „Nachmittag im Garten“ eine durch und durch saturierte, bürgerliche Familie darstellt.
An die 20 Jahre verbrachte Cross an der französischen Riviera. Er und seine Freunde gaben in dieser Zeit nicht nur den Startschuss für den Tourismus in einer Gegend, die damals noch wild und unberührt war. Es war einfach alles Aufbruch, ein Feuerwerk der Malerei und der Gedanken, dessen helles Licht bald am Himmel über den Kunsthauptstädten Europas strahlte. In dieser Konstellation, in einem der entlegensten Winkel der französischen Provinz, waren eine Zeit lang alle Momente bedeutende Momente. Wie der, als Henri Matisse, welcher Cross häufig im Süden besuchte und sich später in Nizza niederließ, bei seinem Gastgeber dessen Gemälde „Abendlied“ sah und es zum Vorbild für ein eigenes nahm. Seitdem gilt Matisse’ „Luxe, Calme et Volupté“ aus dem Musée d’Orsay in Paris als das erste expressionistische Werk der Kunstgeschichte.
Mit seiner Schau entfaltet das Museum Barberini das ganze Spektrum dieser revolutionären Epoche. Dazu gehört auch die Darstellung der Rolle, die deutsche Sammler und Museumsleute wie Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen und Karl Ernst Osthaus, der Gründer des Folkwang Museum, bei der Verbreitung des Neoimpressionismus spielten. Dabei bietet das Begleitbuch zur Ausstellung mit etlichen ergänzenden Texten weit mehr als nur einen Überblick über die gezeigten Arbeiten.
Einfach nur Beiwerk sind auch keinesfalls die Zeichnungen, die für die Schau zusammengetragen wurden. Einige davon sind so modern, dass man glauben könnte, ein Künstler von heute habe sie heimlich in die Ausstellungsräume geschmuggelt. Besonders glücklich ist Ausstellungskurator Daniel Zamani über eine Serie von fast einfarbigen Zeichnungen, die Cross „Paysages nocturnes“, „nächtliche Landschaften“, nannte und die er – anders als seine durch ihre leuchtenden Farben faszinierenden Gemälde – in einem tiefen Blau, einem Grauschwarz oder einem beinahe schwarzen Purpurton gehalten hat. Sie sind undatiert, doch müssen sie spätestens 1910, in Henri-Edmond Cross’ Todesjahr, entstanden sein. Betrachtet man sie heute, würde es niemanden erstaunen, wenn man auf ihnen die Jahreszahl 2010 entdecken würde.
„Farbe und Licht. Der Neo-impressionist Henri-Edmond Cross“
Museum Barberini, Potsdam
bis 17. Februar 2019
Im Gespräch mit Museumsdirektorin Ortrud Westheider und Kurator Daniel Zamani ergründet WELTKUNST-Chefredakteurin Lisa Zeitz am 9. Januar 2019 ab 19 Uhr im Museum-Barberini das Verhältnis von Henri-Edmond Cross und der französischen Moderne.
Anmeldung hier