Ausstellungen

„Den Schweizer Kirchner zeigen“

Die Sammlungsschau von Eberhard Kornfeld im Berliner Brücke-Museum will die Davoser Jahre Ernst Ludwig Kirchners in Erinnerung rufen. Wir trafen den Auktionator und Forscher zum Interview

Von Lisa Zeitz
18.02.2019

Der Grandseigneur des Schweizer Auktionswesens ist zur Präsentation seiner Schätze im Brücke-Museum von Bern nach Berlin gereist. Munter und mitteilsam führt Eberhard Kornfeld durch die Ausstellungsräume in Dahlem, wo bis zum 31. März unter dem Titel „Ernst Ludwig Kirchner. Die Schweizer Jahre“ Meisterwerke aus seiner Sammlung gezeigt werden. Beim Rundgang blitzen immer wieder Kornfelds intime Kenntnisse zum Werk Kirchners auf, die der 95-Jährige sich durch seine wissenschaft­lichen Forschungen sowie persönliche Bekanntschaften erworben hat.

Sie sind 1923 in Basel geboren. Welche frühen Erfahrungen mit Kunst haben Sie als Kind geprägt?

Mein Vater war gelernter Möbelzeichner und künstlerisch sehr begabt. Er hat meinen Bruder und mich in jede Kirche und in jedes Schloss geschleppt, sodass wir früh stilkundig waren. Romanik, Gotik, die Renaissance, Biedermeier, alles hat er uns eingebläut. Das war eine gute Grundlage.

Wann hat sich Ihre Leidenschaft für die Kunst entwickelt?

Mein erstes großes Interesse war Archäologie. Schon als Schüler, bevor ich an der Universität in Basel ein paar Semester Archäologie studierte, durfte ich in den Ferien bei Ausgrabungen in der antiken Römerstadt Augusta Raurica in Augst mitmachen. Die guten Funde hat man der Wissenschaft zugeführt, und all der Antikschrott, der da zum Vorschein kam, wurde en bloc wieder in der Ausgrabungsstätte vergraben. Mir hatte man das Recht zugebilligt: „Bevor das wieder vergraben wird, kannst du alles rausnehmen was du haben willst.“ So hatte ich früh eine schöne Scherbensammlung von Terra sigillata und solchen Dingen.

Das war der Beginn Ihrer Sammlung.

Aus der Archäologie hat sich die Numismatik entwickelt. In der Münzhandlung von Erich und Herbert Cahn in Basel landete das Gros meines Taschengeldes. Meinem Ziel, von jedem römischen Kaiser eine Münze zu besitzen, bin ich recht nah gekommen, mit Ausnahme der Soldatenkaiser, die so kurz regiert haben, dass sie gar keine Möglichkeit hatten, Münzen zu prägen.

Wie kamen Sie zum Auktionswesen?

Im Grunde genommen war es ein wahnsinniger Zufall. 1938 hat die – kritisch eingestellte – bekennende Kirche von Deutschland in Basel ein Treffen veranstaltet. Bei uns war ein Pfarrer untergebracht, der von seinem Jugendfreund August Klipstein erzählte, der in Bern Kunsthändler sei. Ich solle ihm doch bitte bei nächster Gelegenheit Grüße ausrichten.

Die Firma Gutekunst & Klipstein hatte schon eine lange Tradition.

Die Basis des Hauses ist 1864 in Stuttgart gelegt worden, als H. G. Gutekunst seine Kunsthandlung eröffnete, bald die wichtigste Kunsthandlung für alte Grafik und Zeichnung. Sein Sohn Richard hat zusammen mit August Klipstein 1919 Gutekunst & Klipstein in Bern installiert.

Also haben Sie sich als Teenager vorgestellt?

1938 oder 1939 bin ich nach Bern gefahren. Klipstein hat mir schachtelweise Dürer- und Rembrandt-Grafiken vorgelegt. Ich war begeistert. Um Gottes Willen, all diese Originale! Das war sensationell. Seitdem hielt ich den Kontakt mit ihm aufrecht. Im Herbst 1944 sagte er: „Hören Sie sich doch mal bei Ihren Kommilitonen um, ich suche einen Mitarbeiter …“ – die Formulierung habe ich noch genau im Kopf – „… der soll was von Kunstgeschichte verstehen und kaufmännisch nicht auf den Kopf gefallen sein.“ Ich habe gedacht, das ist doch eigentlich etwas für mich. Ab Januar 1945 hatte ich einen dreijährigen Volontariatsvertrag, allerdings immer mit der Möglichkeit, im Sommer in Kupferstichkabinetten zu arbeiten, sodass ich das Auge für die Qualität erst in Basel, 1946 in Paris, später im British Museum in London und im Rijksprentenkabinet in Amsterdam schulen konnte.

Bei Klipstein hatten Sie dann viel Umgang mit alter Grafik?

Ja, aber er hatte auch sehr gute Beziehungen zur Moderne und war einer der großen Unterstützer von Käthe Kollwitz. Als 1933 die große Kirchner-Ausstellung in der Kunsthalle Bern mit Malerei und Skulpturen stattfand, hat er Kirchners Druckgrafik in seiner Galerie gezeigt. Ausgehend von dem großartigen Kirchner-Bestand bei Klipstein ist meine eigene Begeisterung für Kirchner erwachsen. Ich habe 1948 selbst angefangen, Kirchner zu sammeln.

Als Kirchner sich im Juni 1938 in Davos das Leben nahm, waren Sie fast noch ein Kind.

Theoretisch hätte ich ihn noch treffen können, denn im Winter 1937/38 war ich zum Skilaufen in Davos, aber wir sind uns nicht begegnet. Später kam aus meiner Kirchner-Sammlung heraus der Bedarf, in Davos die Stätten seines Wirkens kennenzulernen, also Stafelalp, Wildboden und das Lärchenhaus. Der Verkehrsdirektor von Davos wandte sich an mich: „Wir müssen was machen. In Davos geht die Erinnerung an Kirchner verloren.“ Sein Wohnhaus auf dem Wildboden wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr als Bauernhaus genutzt und baulich in sehr schlechtem Zustand. Ich habe es als Ferienhaus für Familie und Freunde gekauft, vor allem aber, seit 1964, als erste Ernst-Ludwig-Kirchner-Gedenkstätte mit originalen Werken des Künstlers an den Wänden eingerichtet. Das war die Urzelle der Davoser Museen.

Zu dieser Zeit waren Sie schon zum Chef des Unternehmens Klipstein aufgestiegen?

Klipstein ist am 2. April 1951 ganz überraschend gestorben. Ich war damals 28 Jahre alt. Zusammen mit seiner sehr guten Assistentin Frida Schuh führten wir noch im selben Jahr die ersten Auktionen durch.

Wie entwickelten Sie das Programm weiter?

Traditionell lag das Hauptgewicht auf alter Grafik und Handzeichnungen. Mein Verdienst war einfach, dass ich die Malerei mit einbezogen habe. Das ist heute die Hauptstütze des Hauses. So ist Bern ein Zentrum für die Wiederbelebung des Expressionismus geworden.

 

Sie kannten viele Leute, die Kirchner selbst erlebt hatten, zum Beispiel den Psychiater Ludwig Binswanger.

Mit ihm hatte ich ein gutes Verhältnis. Die ganze Mappe erotischer Zeichnungen und Grafikblätter, die er von Kirchner hatte, hat er mir gegeben, und Ölbilder, weil er fand, ich sei der Einzige, der derartig begeistert von Kirchner sei. Okay, ich musste sie teuer bezahlen, aber trotzdem.

Auch die Weberin Lise Gujer, von der jetzt eindrucksvolle Wandbehänge nach Kirchners Entwürfen zu sehen sind, kannten Sie.

Von Lise Gujer habe ich die schönsten Zeichnungen aus den Skizzenbüchern bekommen. Immer wenn sie Geld brauchte, hat sie angerufen: „Komm, lös dir ein paar Blätter raus“ – für 30 oder 40 Franken. Von ihr weiß ich, dass Erna Kirchner immer gesagt hat, die einzige Möglichkeit, Kirchner zu stoppen, wenn er wieder einmal im Haus herumtobte, sei mit dem Satz gewesen: „Ernst, du sächselst.“

Kirchner war sicher kein unkomplizierter Lebenspartner.

Erna hatte in ihrer letzten Lebensphase eine gewisse Trennungstendenz vom Leben mit Kirchner. Sie hatte Lise Gujer 1942 alles verkauft, weil sie sich neu einrichten wollte, die wichtigen geschnitzten Möbel, das Bett, das Relief, die sogenannte Ateliertüre, die Stühle, den großen Spiegel. Zum ersten Mal sind jetzt die Stühle wieder vereint, die er in Davos für eine Sitzgruppe aus Lärchenholz geschnitzt hat. In der Auktion 1968 haben wir sie aufgeteilt, einen hat das Brücke-Museum gekauft, einen ich. Es ist auch das Skizzenbuch ausgestellt, das er bei seinem Selbstmord bei sich hatte. Links und rechts hat es noch Blutspuren. Erna hat es beschriftet: „Skizzenbuch, welches Ernst auf sich trug am 15. Juni 1938.“

Warum nimmt man ein Skizzenbuch mit, wenn man sich umbringen will?

Er hatte das Skizzenbuch, wie immer wahrscheinlich, in der Tasche. Und im Portemonnaie hat er 8000 Franken gehabt, ein Vermögen damals. Im Polizeibericht stand auch, dass er Spritzen dabei hatte, wegen seiner Drogensucht.

Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens war er in der Schweiz, doch man kennt die Werke aus dieser Zeit in Deutschland weniger.

Es ist so, als ob Kirchner für Berlin schon 1917 gestorben wäre. Das ist die Idee der Schau: den Schweizer Kirchner zu zeigen.

Kirchner hatte zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach wenigen Monaten Ausbildung beim Militär einen Nervenzusammenbruch.

Er ist im Januar 1917 zum ersten Mal nach Davos gegangen. Es gab damals eine Kältewelle, es waren 20 Grad unter Null, und nach zehn Tagen sagte er: „Unmöglich, ich geh wieder zurück nach Berlin.“ Im Mai kam er wieder nach Davos. Nun liefen dort 1200 deutsche Soldaten, die Lungenschüsse und dergleichen erlitten hatten, in Uniform herum. Zu seinem großen Entsetzen – er hatte ja eine Uniform-Phobie und wollte mit dem deutschen Militär nichts zu tun haben. Wahrscheinlich ist Kirchner aus dem Grund für den Sommer auf die Stafelalp hinaufgezogen. Die nächsten drei Sommer verbrachte er da oben in engem Kontakt mit den Bergbauern. Er war ein Großstadtmensch, hat in Chemnitz, Dresden und Berlin gelebt. Nun ist er aus der Großstadt plötzlich in diese Alphütten entlassen worden, eine komplett bäuerliche Umgebung. Dort kam es zum vollkommenen Stilwechsel. Die wahnsinnige Überraschung ist, dass er es vermochte, sofort künstlerisch umzuschalten.

Er hat gezeichnet, gemalt, aber auch eine Reihe großer Holzschnitte angefertigt.

Angeblich war er gelähmt an Händen und Füßen, aber er machte 1917 auf der Stafelalp die schönsten Holzschnitte. So gelähmt kann er nicht gewesen sein! Er dramatisierte seinen Gesundheitszustand natürlich, denn er hatte Angst, wieder zum Militär eingezogen zu werden. Im Herbst 1918 mietete er das „Haus in den Lärchen“, das war der endgültige Entschluss, in der Schweiz zu bleiben. Wobei er stets mit Berlin geliebäugelt hat, aber das Atelier dort hat Erna 1923 geräumt. Das „Haus in den Lärchen“ habe ich in den Achtzigerjahren auch gekauft.

 

Die Ausstellung zeigt darüber hinaus von Kirchner gestaltete Plakate und Bücher.

Kirchner war ein großer Grafiker, er hat Bücher, Einbände und Titelseiten entworfen. Und er hat unter dem Namen Louis de Marsalle sogar seine eigenen Kritiken geschrieben. Dieses Pseudonym hat er aufrechterhalten bis 1933. Da durfte er den Katalog seiner Ausstellung in der Berner Kunsthalle selbst gestalten und drückte auch ein Vorwort von Louis de Marsalle durch. Der Konservator der Kunsthalle hat sehr insistiert: „Den Marsalle will ich wirklich kennenlernen, der schreibt sehr gut über Sie.“ Da hat Kirchner einfach die Geschichte erfunden, der Kritiker sei eigentlich ein Arzt in der Fremdenlegion. Als er in die Enge getrieben wurde, behauptete er, er hätte gerade die Nachricht erhalten, Louis de Marsalle sei gestorben. Im Berner Katalog figuriert das Vorwort noch von de Marsalle, aber mit einem Kreuz.

Haben Sie Pläne dafür, was mit Ihrer Sammlung einmal geschehen soll?

Wenn Sie Sammlungen an Museen geben wollen, müssen Sie wissen, wo Lücken sind. Meine schöne Sammlung von Rembrandt-Grafik habe ich dem Basler Kupferstichkabinett schon geschenkt, aber darf sie bis zum meinem Tod zu Hause behalten. Auch mein bedeutendstes Kirchner-Gemälde, die „Rückkehr der Tiere von der Stafelalp“, habe ich dem Basler Museum geschenkt, von dort ist es jetzt nach Berlin für die Ausstellung ans Brücke-Museum ausgeliehen.

Haben Sie für alle Ihre Werke passende Museen ausgesucht?

Das Berner Museum bekommt jetzt einen anständigen Sam Francis und einen anständigen Giacometti. Der Rest meiner Sammlung soll nach meinem Tode wieder in den Kunsthandel gehen. Es gibt schließlich auch jetzt wichtige Sammler, die sich freuen, wenn sie die Gelegenheit haben, ein schönes Einzelstück zu kaufen.

Service

Ausstellung

Ernst Ludwig Kirchner. Meisterwerke aus der Sammlung E. W. Kornfeld

Brücke-Museum, Berlin
bis 31. März

www.brueckemuseum.de

Dieser Beitrag erschien in

Weltkunst Nr. 153/2019

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