Wo einst Mönche Bier brauten, ist jetzt Kunst zu erleben: In Susch im Engadin erbaute die polnische Sammlerin Grażyna Kulczyk ein traumhaftes Museum
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29.03.2019
Zeitgenössische Kunst erwartet man hier nicht unbedingt. In Susch im Unterengadin, einem 200-Seelen-Dorf auf 1400 Meter Höhe, dort wo der Flüelapass ins Inntal mündet. Der Warenverkehr, die Poststation und der Pferdewechsel brachten dem Ort einst Wohlstand. Doch heute strömen die Autos ohne Halt hindurch, denn Zuoz, St. Moritz, Sils Maria und all die anderen beliebten Urlaubsorte im oberen Engadin sind nicht mehr weit. Vom großen Reiseboom des 20. Jahrhunderts bekam Susch nicht viel ab. Dabei ist der Ort seit der Eröffnung des nahe gelegenen Vereinatunnels 1999 bequem angebunden. Schnell ist man in Klosters auf der Nordseite der Graubündner Alpen, von dort sind es nur noch zwei Stunden nach Zürich.
Jetzt aber bringt die Kunst internationale Beachtung, denn die polnische Sammlerin Grażyna Kulczyk hat hier das Muzeum Susch eröffnet. Das „z“ im Namen des Kunsthauses ist kein Druckfehler, so wird Museum auf Polnisch geschrieben. Visionäre Unternehmerin, reichste Frau Polens, die größte Kunstsammlerin des Landes und eine engagierte Mäzenin: Was diese zarte Frau anpackt, setzt sie mit großer Energie und Perfektion durch. Das hat Kulczyk in ihrer Heimatstadt Posen bewiesen, wo sie ebenfalls eine alte, dort aber gewaltig dimensionierte Brauerei umbaute: zu einem charaktervollen Einkaufszentrum, in dem auch die Künste eine wichtige Rolle spielen.
Seit Jahren schon haben Kulczyk und ihr Lebensgefährte Maciej Chorążak in Tschlin talabwärts ein Anwesen; so stießen sie auf die verlassene Brauerei in Susch. Sie reicht bis zurück ins Mittelalter, als der Bau noch ein Benediktinerkloster war. Spätere Besitzer übernahmen die Bierherstellung von den Mönchen, bis 1917 lief der Betrieb. Als wir Kulczyk 2013 in Posen besuchten und sie in einer Titelgeschichte der WELTKUNST erstmals den deutschen Lesern vorstellten, hatte sie das Gebäude in Susch gerade erworben. Ihr Vorhaben, in Posen ein Museum nach Plänen von Tadao Ando zu erbauen, war da bereits am Unwillen der Stadtregierung gescheitert. Danach vereitelte auch in Warschau die Administration ein ähnliches Projekt (zum Teil noch vor der nationalpopulistischen Regierung). „Es hat also auch politische Gründe, weshalb ich jetzt hier in der Schweiz mit meinem Museum bin“, erklärt sie bei unserem Wiedersehen.
Den Zürcher Architekten Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy ist ein Meisterwerk gelungen, das seine Qualitäten vor allem aus dem sensiblen Umgang mit der Geschichte der Brauerei und den natürlichen Gegebenheiten im Engadin bezieht. Zwei historische Gebäude gehören zum Museum, dazwischen zwängt sich die alte Dorfstraße durch. Der Eingang in der „Bieraria Veglia“ am Hochufer des Inns führt zu den ältesten Kellern aus dem 12. Jahrhundert. „Schicht für Schicht haben wir die Geschichte der beiden Häuser freigelegt und uns immer wieder neu überlegt, wie wir vorgehen“, erzählt Kulczyk. In einem tiefgelegenen Gewölbe fanden die archaischen, kopflosen Figuren von Magdalena Abakanowicz eine dauerhafte Heimat, in einem anderen Verließ hat der Argentinier Adrián Villar Rojas eine erdige Riesenstele aus vielerlei Fundstücken eingebaut.
Zwei Räume weiter ein ganz anderer Eindruck: Im ehemaligen Pferdestall sind Teile des Archivs von Jarosław Kozłowski als permanente Kraftzelle des Museums ausgebreitet. Schon in den Siebzigerjahren kommunizierte der Posener Konzeptkünstler mit gleichgesinnten Kollegen aus aller Welt – diese Szene prägte damals übrigens auch die junge Jurastudentin Grażyna Kulczyk.
Von der „Bieraria Veglia“, in der noch die Büroräume und ein uriges Bistro mit alpiner Slow-Food-Küche untergebracht ist, führt ein unterirdischer Gang in das Hauptgebäude. Bald bei der Planung wurde klar, dass auch hier der Platz nicht reicht. So erweiterte sich das Raumprogramm immer mehr in den Berg. Tunnelerfahrene Ingenieure führten zahllose Mikrosprengungen durch, der Fels wurde ausgehöhlt, bis rund 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche gewonnen waren. Treppauf, treppab durchwandert man nun ein abwechslungsreiches Labyrinth, kommt durch erdhafte Gänge, echte Felshöhlen, rustikale Holzgemächer und moderne weiße Galeriesäle. Gänge und Treppenhäuser verengen und erweitern sich wie in einem lebendigen Organismus, krumme Wände verleugnen ihre Geschichte nicht. Immer wieder stößt man auf neue Überraschungen.
Kulczyk und den Architekten – Schmidlin stammt selbst aus dem Engadin und spricht auch Rätoromanisch – war es wichtig, dass das Museum örtliche Traditionen aufgreift und von einheimischen Firmen errichtet wurde. Grobkörniger, typisch Graubündner Rauputz bringt den Bau zum Atmen, alle Steine stammen aus der Umgebung, ebenso die Lärchenbalken, die an vielen Stellen verwendet wurden. So hat das Museum bei aller Gegenwärtigkeit etwas Erdiges. Es ist haptisch und sinnlich, sehr stimmungsvoll, fast ein wenig spirituell. Die Engadiner Handwerksarbeit und die organisch gewachsenen Formen tragen ihren Teil zum Kunsterlebnis bei.
Insgesamt zwölf Großskulpturen oder Werkgruppen wurden auf Dauer im Museum installiert, natürlich sind bedeutende polnische Künstler der Gegenwart dabei: Mirosław Bałka mit einem gewaltigen Edelstahlzylinder, der den direkt aus dem Fels gehauenen Raum, wo einst das Bier gekühlt wurde, in eine merkwürdige Meditationshöhle verwandelt. Monika Sosnowska, deren 14 Meter hohe, verformte und gestauchte Treppenskulptur im zentralen Lichtschacht zum ästhetischen Rückgrat des Museums wird. Oder Piotr Uklańskis verstörende Fotoinstallation „Real Nazis“, die auf der letzten Documenta für Aufsehen sorgte.
Doch die Hausherrin betont, dass es ihr nicht um ein Museum ihrer Sammlung geht, sondern um einen Ort, an dem die Gegenwartskunst facettenreich gezeigt, diskutiert und erforscht wird. Dafür hat sie junge Kuratoren um sich versammelt, eine Kunststiftung gegründet, die unter der Leitung der deutschen Kuratorin und Kritikerin Mareike Dittmer bereits mit Vorträgen, Tagungen und Forschungsprojekten begonnen hat. Auch Künstlerresidenzen und ein Performance-Programm wird es geben. Schwerpunkte sind unter anderem die Rolle von Künstlerinnen in der Nachkriegskunst, natürlich auch die polnische Avantgarde, von der Kulczyk so viele wichtige Werke besitzt.
Die Eröffnungsausstellung bringt genau dies zusammen. Sie zeigt, wie Künstlerinnen das Welt- und Frauenbild der Männer reflektierten. Die Schau fesselt mit Positionen, die man sonst selten sieht. Etwa die sexuell aufgeladenen Seventies-Bilder der Amerikanerinnen Judith Bernstein, Betty Tompkins oder Joan Semmel. Die Tschechin Mária Bartuszová mit poetisch-plastischen Werken, international noch viel zu wenig bekannte polnische Künstlerinnen wie die Surrealistin Erna Rosenstein oder die Farbvirtuosin Tersa Pągowska. Hier ist viel zu entdecken, und wenn es so weitergeht, wird sich das Muzeum Susch einen festen Platz in der anwachsenden Gruppe von Engadiner Kunstorten erobern. Die Neugier jedenfalls ist groß: Rund 200 bis 250 Besucher kommen derzeit pro Tag.
Museum Susch
Surpunt 78
CH-7542 Such
www.muzeumsusch.ch