Seit den Siebzigerjahren macht Nil Yalter Kunst zum Thema Migration und Feminismus. Nun wird die fast vergessene Pionierin in Köln wiederentdeckt
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23.04.2019
Fast zwangsläufig kreist ein Gespräch mit Nil Yalter um die runde geschlossene Form: „Der Kreis fasziniert mich“, erklärt die türkische Künstlerin. „Er ist ein Symbol für die Frau, für die Gebärmutter. Aber in manchen afrikanischen Stämmen bedeutet er auch Harmonie.“ Perfekte, runde geschlossene Formen entdeckt man deshalb an vielen Stellen in Yalters Ausstellung im Museum Ludwig.
In den frühen, vom Konstruktivismus beeinflussten Gemälden wie „Circular Tension III“ etwa, die sie Ende der Sechzigerjahre nach ihren Umzug von Istanbul nach Paris schuf. Oder in ihrem Hauptwerk „Topak Ev“ von 1973: Der künstlerische Nachbau einer anatolischen Nomadenjurte markiert einen zentralen Platz in der Schau.
Doch auch die Ausstellung selbst führt die Biografie der Künstlerin im Kreis zurück zu ihrem Anfangspunkt. Denn 1974 nahm sie in Köln mit „Topak Ev“ beim „Projekt ’74″ und damit an ihrer allerersten Gruppenausstellung teil. Ein Jahr zuvor hatte sie das Zelt in ihrer ersten Solopräsentation im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris gezeigt. Das alles ist – man muss es sich vor Augen halten – über vier Jahrzehnte her. Wenn man ihre Kunst betrachtet, dann wundert man sich, warum die 81-Jährige heute kaum bekannt ist, sodass sie nicht als Geheimtipp, sondern eher als Entdeckung gelten muss.
„Topak Ev“ beispielsweise ist ein extrem vielschichtiges Werk: Ein kreisförmiges Gerüst (der türkische Werktitel bedeutet „rundes Haus“) hat die Künstlerin mit Filzbahnen und Lederstücken behängt, auf die sie Auszüge aus Yaşar Kemals „Das Lied der Tausend Stiere“ geschrieben hat, einem 1971 erschienenen Roman, der die Ungerechtigkeiten gegenüber einem nomadischen Bergstamm thematisiert. Zudem erforschte Yalter bei einem Besuch in Anatolien die Lebensweise der umherziehenden Hirten und hielt ihre Ergebnisse in Zeichnungen und Collagen fest.
Das Zelt selbst ist ein Symbol für die Macht der Stammesfrauen, wie die Künstlerin im Ausstellungskatalog erklärt: „In der Ehe besitzt der Mann nichts; er ist in der Jurte nicht zu Hause. Er ist der Gast, der für die Nacht hereingebeten werden muss, und wenn die Frau ihn nicht in der Jurte haben will, lässt sie ihn nicht herein.“ Gleichzeitig sei das Zelt für die Nomadin aber auch wie ein Gefängnis. Sie lebt und stirbt darin.
Politisches Engagement vermischt sich in Yalters Werken oft mit einem Interesse an der künstlerischen Form des Rituals: Am prägnantesten geschieht das im Video „The Headless Woman or the Belly Dance“ von 1974, in dem die Kamera auf den nackten Bauchnabel der Künstlerin gerichtet ist. Traditionelle türkische Musik erklingt, während Yalter ihre Haut mit Zeilen des Dichters René Nelli beschreibt, die von der Klitoris und weiblicher Lust handeln. Dann macht sie einen Bauchtanz. Und führt damit ein frühes Kabinettstück in Sachen Body-Art, Videokunst und Identitätspolitik auf. Aufregend, zu sehen, wie exakt dieses Werk den Geist seiner Zeit getroffen hat. Und wie es – aufgrund der fortwährenden Brisanz des Themas – auch 45 Jahre später noch zeitgemäß wirkt.
Spurensicherung, ethnologische Reportage, Video – die Methoden, die Nil Yalter in den Siebzigern angewandt hat, werden heute wieder regelmäßig von Künstlern eingesetzt. Das macht sie zu einer Ahnin des aktuellen Booms von Kunst zu Identitätsfragen. Und doch hatte Yalter lange Zeit Schwierigkeiten, mit ihren Arbeiten wahrgenommen zu werden.
„Mit manchen meiner Themen kam ich vielleicht einfach zu früh“, vermutet sie. „In den Siebzigern interessierte sich in der Kunstwelt zum Beispiel niemand für das Schicksal von Migranten.“ Betrachtet man dagegen heute ein Werk wie „Turkish Immigrants (Tower of Babel)“ – auf kreisförmig angeordneten Videomonitoren laufen Auszüge von Interviews, die Yalter 1977 mit türkischen Arbeitern in Paris gedreht hat –, dann wirkt die Arbeit aufgrund der geschilderten Erfahrungen von Integrationsschwierigkeiten und Alltagsrassismus geradezu prophetisch.
Dass Yalter weniger Beachtung fand als verdient, mag auch damit zu tun haben, dass Künstler in den Siebzigerjahren schnell unter Bourgeoisieverdacht gerieten. So eckte sie mit dem Video „La Roquette, Prison de Femmes“ (1974), das mithilfe der Interviewform die Zustände in einem Pariser Frauengefängnis kritisierte, ausgerechnet bei Feministinnen an. „Manche von ihnen sagten zu mir: ‚Das ist viel zu ästhetisch, du solltest besser in ein Gefängnis gehen und dort direkt mit den Frauen arbeiten!‘ Und wenn ich das Video in der Kunstwelt zeigte, hieß es: ‚Das ist viel zu politisch!’ Es gab damals eine Menge Missverständnisse: Ich war ja eine feministische Aktivistin. Aber ich habe in anderen Bereichen gekämpft, nicht in meiner Kunst!“
Heute sieht man die Dinge zum Glück weniger dogmatisch. Dass es dennoch so lange gedauert hat, bis sie nun in Köln ihre umfangreichste Einzelausstellung überhaupt bekommt, ist in gewisser Weise eine Schande. Andererseits freut man sich über die Gelegenheit, hier ein zu Unrecht vergessenes Kapitel Kunstgeschichte mit aller Neugier wieder aufschlagen zu dürfen.
Nil Yalter – Exile Is a Hard Job
Museum Ludwig
bis 2. Juni