Olaf Thormann ist Direktor des Grassimuseums in Leipzig. Wir trafen ihn zum Gespräch über eine seiner Passionen – die Studiokeramik
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19.08.2019
Liebhaber der Studiokeramik kommen derzeit in Leipzig voll auf ihre Kosten. Denn dort zeigt das Grassimuseum, dieses agile und wunderschön eingerichtete Schatzhaus der angewandten Kunst, rund 270 Objekte aus gebranntem Ton. Die Ausstellung „Gefäß / Skulptur“ findet nach 2008 und 2013 schon zum dritten Mal statt. Wie zu den Vorgängerschauen erschien ein opulenter Katalog. So entstand ein dreibändiges Standardwerk zur deutschen und internationalen Entwicklung von 1946 bis heute. Der Boom der Studiokeramik in den Siebzigern und Achtzigern ist längst Geschichte, die einst lebendige Sammlerszene ausgedünnt. Mit seiner Ausstellungsfolge stellt sich das Museum optimistisch und lustvoll der Krise dieser Kunstgattung entgegen. Dankbar über das Leipziger Engagement haben viele Besitzer ihre getöpferten Schätze dem Grassi geschenkt, allein nach der letzten Überblicksschau kamen 2000 Werke hinzu. So lässt sich in der Ausstellung auf hohem Niveau verfolgen, wie die Keramiker immer wieder neu das Verhältnis von Gefäß und Skulptur ausloteten und dabei herrliche Kunstwerke schufen. Ein Gespräch mit dem Museumsdirektor Olaf Thormann, der die erfolgreiche Reihe seit Beginn kuratiert.
Herr Thormann, lassen Sie uns mit einer These anfangen: Große Museumsdirektoren sind selbst leidenschaftliche Sammler, wie einst etwa Justus Brinckmann im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Sammeln Sie privat?
Ja, wenn auch in beschränktem Umfang. Bei mir zu Hause gibt es räumliche Grenzen. Ich sammele weiter, trenne mich aber auch von Stücken. Dinge zu entdecken und auch haben zu wollen ist mir sehr wichtig. Durch den eigenen Besitz ist mir immer wieder klar geworden, dass sich Kunstwerke nicht erschöpfen, dass ich auch nach Jahren Neues an ihnen entdecken kann. Etwa wenn ich eine Vase in ein anderes Zimmer stelle oder auf einer anderen Höhe präsentiere und feststelle, wie anders sie dort wirkt. Genauso durch die Nachbarschaft mit anderen Stücken oder bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Man begreift, dass den Dingen ein eigenes Leben innewohnt. Das sind Prozesse, die auch im Museum wichtig sind. Wer nicht besessen ist, kann das nur schwer auf eine öffentliche Sammlung übertragen.
Gerade zeigen Sie den dritten Teil von „Keramik seit 1946“, der wieder fast ausschließlich aus Schenkungen besteht. Andere Museen klagen über quasi nicht existente Ankaufsetats – doch von Sammlern hört man, dass dieselben Häuser bei Schenkungsangeboten nur müde abwinken. Woran liegt dieses Desinteresse?
Ich kann diese Reserviertheit zum Teil nachvollziehen. Sie müssen jedes einzelne Stück auf seine museale Qualität prüfen, es inventarisieren, fotografieren und so weiter. Kurz, Sie brauchen dafür Manpower und müssen auch die eine oder andere Überstunde dranhängen. Es geht um die Frage, inwieweit Sie als Museumsmensch Verwaltungsbeamter sind oder das auch leben. Die Kontakte zu den Sammlern erschöpfen sich ja auch nicht darin, dass man mal zwei Briefe austauscht und dann sagt, wir kommen vorbei und holen alles ab, sondern es sind oft über viele Schritte hinweg Beziehungen aufgebaut worden. Mit manchen Sammlern stehe ich seit zwanzig Jahren in Kontakt, da entstehen auch persönliche Freundschaften. Das ist etwas, wo Kraft und Zeit hineinfließt. Ein zweiter Punkt ist: Wenn Sammlungen wachsen, braucht man mehr Räume. Das kann dazu führen, dass man irgendwann sagen muss: Jetzt geht nichts mehr, sofern der Träger einen nicht entsprechend unterstützt.
Und der sagt im Zweifelsfall: Nimm nichts an, dann brauchst du kein neues Depot.
Ein Museum wird nur lebendig bleiben, wenn es mit der Zeit und ihren Möglichkeiten wächst. Und wenn es Chancen nutzt. Wir befinden uns ja derzeit in einer einmaligen Situation: Es gibt geradezu eine Schwemme an privatem Kunstbesitz und zugleich eine große Bereitschaft, die Werke weiterzugeben an die öffentliche Hand. So eine Situation hat es historisch kaum je gegeben! Man muss sich klarmachen: Die Entwicklung kann und wird in fünf oder zehn Jahren schon wieder ganz anders aussehen. Da muss man einfach bereit sein, Schenkungen anzunehmen.
Einige Kunstgewerbemuseen scheinen sich auch nicht mehr als Museum der Dinge zu verstehen, sondern als Museum der Ideen, als pädagogische Anstalt. Spielt Habenwollen da keine Rolle mehr?
Solche Aspekte spielen durchaus mit hinein. Wenn – was zunehmend der Fall ist – Vertragszeiten für Museumsleitungen limitiert werden auf fünf Jahre, dann schafft man eine Situation, wo innerhalb eines relativ kleinen Zeitfensters nach außen gepunktet werden muss. Und dieses Aufmerksamkeit-Erzielen verlagert den Schwerpunkt weg von der Arbeit mit der Sammlung zu einem möglichst spektakulären Auftritt. Das kann durchaus zu erfrischenden, neuen Blickwinkeln führen, aber ich beharre darauf: Es stellt ein Defizit dar, wenn das Verständnis für die Sammlung schwindet. Museen müssen ihren Bestand immer wieder aktivieren, und ich kann mit ihm nur umgehen, wenn ich den kenne, wenn ich ihn respektiere, pflege und versuche, ihn sinnvoll zu erweitern.
Gab es Widerstände, als Sie die erste große Keramikschau von 2008 planten?
Nein, so etwas wird ja im Team diskutiert und entschieden. Ich hätte mir aber damals nicht träumen lassen, dass eine Art Schneeballprinzip entstehen und sich durch die erste Ausstellung so viele Türen zu immer wieder neuen Sammlern öffnen würden. So kam es zur zweiten und jetzt schon dritten Ausgabe von „Gefäß / Skulptur“.
Wie sah denn der keramische Bestand des Grassimuseums nach der Wende aus?
Er hatte eine starke Ausrichtung auf die DDR. Bis 1989 konnte das Museum nur sammeln, was in diesem kleinen, abgezirkelten Land passierte – das hat man einigermaßen gut gemacht. Bedauerlich ist, dass man nichts aus den anderen Ostblockländern erwarb, was wohl möglich gewesen wäre. Aber es gab einen Bestand von westdeutscher Keramik. Dank einer Solidaritätsaktion Anfang der Sechziger, initiiert von Peter Hagenah …
… dem legendären Galeristen der Kunst-Krypta in Bremen.
Genau. Nach dem Mauerbau hat Hagenah Künstler wie Jan Bontjes van Beek oder Otto Meier angesprochen, für die unser Museum seit den Grassimessen der Vorkriegszeit für einen hohen Qualitätsanspruch stand. Als die westdeutschen Keramiker längst auf der Frankfurter Messe ausstellten, hießen die abendlichen Zusammenkünfte noch immer „Grassi-Abende“, in Erinnerung an die Zeit der Dreißigerjahre. So hat sich die Legende von den historischen Grassimessen auch im Kreis derer fortgeschrieben, die sie gar nicht aus eigener Anschauung kannten und die dann ihrerseits zwei oder drei Stücke nach Leipzig gaben. Bis in die späten Achtziger konnte diese Sammlung nur unwesentlich ergänzt werden, aber als ich den Bestand Anfang der Neunziger erstmals sah, stellte ich mir die Frage: Darf man das abbrechen lassen? Wie ging es weiter mit der westdeutschen und internationalen Keramik?
Warum der Fokus auf die Zeit ab 1946?
Die Grassimessen liefen bis 1941, dann gab es die Unterbrechung durch den Krieg. Seit 1946 bemühte man sich hier in Leipzig, die eigene Tradition nicht brachliegen zu lassen und wieder die ersten neuen Keramiken zu erwerben. Die Stücke von 1946 waren also da – damit war das gewissermaßen ein magisches Jahr. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war aber auch zu beobachten, dass sich die Möglichkeiten in der Keramik multiplizierten, alles wurde freier. Durch die Unterbrechung des Kriegs mussten viele Leute neu starten, sie experimentierten aber auch. Es gab eine große Aufweitung der Szenerie. Dieser Neubeginn spielte vor allem in unserer ersten Ausstellung von 2008 eine wichtige Rolle. Die Herausforderung besteht jetzt darin, auch die Entwicklung bis in die unmittelbare Gegenwart einzubinden. Eine zweite Setzung ist die Dichotomie „Gefäß / Skulptur“.
Inzwischen hat es das Gefäß schwer. Die Fachhochschulen haben die Töpferscheiben verschrottet, eine Koryphäe wie Lutz Könecke schildert, wie er schon in den Neunzigern in Kassel vorsichtshalber lange verschwieg, dass er vor allem drehen wollte. Ist das Gefäß überholt?
Nein, mit Sicherheit nicht! Das Gefäß ist nicht langweilig geworden, einige der allerbesten Stücke in der aktuellen Ausstellung beweisen das. Die beiden Pole können antipodisch stehen, sich aber auch überlagern. Ein gutes Gefäß ist immer auch eine gute Skulptur. Ich glaube, es ist ein Irrweg – auch in der Ausbildung der Hochschulen –, diesen handwerklichen Fähigkeiten weniger Beachtung zu schenken. Viele der wirklich überzeugenden Künstler haben das Handwerk von der Pike auf gelernt, selbst wenn sie vielleicht irgendwann sagen: Jetzt habe ich eine Freiheit erlangt, wo ich auch anders mit dem Material umgehen kann. Aber gerade diese Keramiker sagen auch: Ich hätte nie darauf verzichten wollen, den Umgang mit dem Material und dessen Eigenleben so intensiv kennenzulernen.
Zugleich verlegen sich zunehmend Kunstschulabsolventen auf den scheinbar leicht zu beherrschenden Werkstoff Keramik.
Durch die vielen Quereinsteiger aus der bildenden Kunst entstehen schöne, wichtige Sachen. Doch gibt es auch vieles, das technisch nicht standhält oder schlicht dilettantisch ist. Das kann nicht der Weg sein. Das Material erfordert eine bestimmte Beherrschung, die kann man sich durchaus auch als Quereinsteiger beibringen.
Aber wenn schon die Keramiker selbst vormachen, dass ihnen die Hochschulen kein Basiswissen vermitteln, wird es schwer, das von Akademieabsolventen zu verlangen.
Ja, das ist ein Problem und führt zu der Kernfrage, in der wir uns auch als Museum befinden, schon von der Terminologie her. Kunsthandwerk klingt immer ein bisschen nach Schweiß und nach diesem dienenden Moment. Natürlich ist es erst einmal hipper und schicker, die Kunst frei sehen zu wollen. Das ist die Vorstellung, die mit auf den Weg gegeben wird. Und da liegt das Grundübel. Es gibt gute Töpfe, schlechte Töpfe, gute Bilder, schlechte Bilder. Das ist keine Frage des Materials, sondern der künstlerischen Idee, der Aussage und der Formkraft. Ist die stark genug oder ist sie’s nicht? Insofern würde ich mir wünschen, dass die Übergänge zwischen den Kunstsparten fließender wären.
Seit Gründung der Kunstindustriemuseen im 19. Jahrhundert war es immer ein heikler Punkt, was in die klassischen Kunstmuseen gehört und was in die Museen für angewandte Kunst. Wäre es bei einer weiteren Verschiebung der Keramik in Richtung bildende Kunst nicht sogar angezeigt, Künstler, die Keramik nur als ein Material neben anderen benutzen, in einem Haus wie Ihrem selbstbewusst abzuweisen und zu den Häusern der Gegenwartskunst zu schicken?
Schwieriges Thema. Gefühlt würde ich sagen: eher nein. Es ist immer die Frage, wo man eine Trennlinie ziehen will. Oder muss. Ich bin eher Anhänger einer Verflechtung. Wenn Museen, wie in anderen Ländern üblich, stärker gattungsübergreifend angelegt sind, hält das die Hemmschwellen für die Besucher niedriger. Im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam zum Beispiel stehen die Kunstgattungen ganz selbstverständlich nebeneinander, und es gibt nicht dieses Hierarchiegefälle. Ich glaube, dass das für die Wahrnehmung sehr wichtig sein kann. Das hat Konsequenzen bis hin zur Marktsituation. In Ostasien erzielen Keramiker Preise, die in Europa undenkbar sind. Wenn Künstler von dort aus Gründen der Reputation im Westen präsent sein wollen, geschieht das oft zu dem Preis, dass sie hier billiger verkaufen müssen als daheim in Japan oder Südkorea.
Der Boom für deutsche Studiokeramik in den Siebzigern und Achtzigern ist längst verebbt, die Sammlergeneration von damals weitgehend abgetreten. Welchen Einfluss hat das auf die Szene der Töpferkunst?
Wer sammelt heute schon noch 900 keramische Objekte? Die meisten Jüngeren beschränken sich radikal – das hängt mit der gestiegenen Mobilität zusammen, vielleicht auch mit der Frage, wie ein Stück wirkungsvoll im Wohnraum präsentiert werden kann. Das bedeutet zugleich, dass die Umsätze der Künstler geringer werden. Wo früher eine lebendige Sammlerszene die Produktion angekurbelt und eine Aura geschaffen hat, die auch höchst anregend für die Künstler selbst war, haben wir heute die Situation, dass manche unserer besten Keramiker sagen müssen: Ich kann nicht das ganze Jahr über arbeiten. Ich kann nicht jeden Monat einen Ofen brennen und wüsste gar nicht, wohin mit den ganzen Stücken. Zugleich setzt ein Preisverfall ein, der aber wiederum dazu führt, dass mancher Sammler heute Studiokeramik zu günstigen Preisen erwerben kann, die vor zwanzig, dreißig Jahren undenkbar gewesen wären. Das ist auch eine Chance. Jeder Zahnarzt oder Rechtsanwalt ist bereit, für mittelprächtige Kunst relativ viel Geld in die Hand zu nehmen, um seine Praxis oder Kanzlei auszustatten. Dieselbe Summe würde er nie für Keramik aufbringen, obwohl er weit bessere Qualität dafür bekäme.
Wird die Studiokeramik womöglich demnächst einen neuen Aufschwung erleben?
Man kann die Krise nicht einfach kleinreden. Ich glaube aber, dass es für ein Museum unseres Zuschnitts wichtig ist aufzuzeigen, wo die Qualitäten in der angewandten Kunst unserer Zeit liegen. Wenn wir Museen es nicht tun, wer denn dann? Wenn keine lebendige Galerieszene für Keramik, wie es sie früher gab, mehr existiert, muss ein Museum auch die Rolle des Vermittlers übernehmen. Und das funktioniert ganz gut. Mittlerweile gibt es einen guten Rücklauf – nicht nur in Richtung des inneren Zirkels, sondern auch beim großen Publikum. Insofern werden wir unsere Reihe auch fortsetzen. Es wird also irgendwann einen folgenden, vierten Teil von „Gefäß / Skulptur“ geben.
„Gefäß / Skulptur. Deutsche und internationale Keramik seit 1946“
Grassimuseum für Angewandte Kunst, Leipzig
bis 13. Oktober