Ausstellungen

Es gibt noch viel zu tun

Das Mémorial de la Shoah skizziert den Kunstmarkt in Paris während der deutschen Besatzung 1940 bis 1944

Von J. Emil Sennewald
30.09.2019

Als der Druck immer größer wird, beschließt Pierre Loeb (1897 – 1964), die Stadt zu verlassen. Er kauft – weil die USA ein Visum verweigern – für sich und seine Familie eine Überfahrt nach Havanna, Kuba. Sein Geschäft muss er zurücklassen. Vertrieben vom französischen Berufsverband der Kunsthändler, der ihn – in Gestalt des Galeristen Serge Roche – zur Übergabe der „Galerie Pierre“ im eleganten Pariser Viertel Saint-Germain drängt, in der er seit fast 20 Jahren erfolgreich moderne Kunst verkaufte.

Der Galerist Pierre Loeb

Loeb hatte sich auf die Surrealisten konzentriert, 1925 deren erste Gemeinschaftsausstellung präsentiert: mit Werken von Hans Arp, Paul Klee, Man Ray, Max Ernst und auch Pablo Picasso, mit dem er sich 1926 – als die Galerie in die angesehene Rue des Beaux-Arts umgezogen war – befreundete. Loeb war auch der Erste, der 1936 Arbeiten von Balthus zeigte. Zwischen 1927 und 1939 organisierte er zudem elf Ausstellungen Joan Mirós, den er verehrte. Jetzt, im Frühjahr 1941, drohte all das zu zerfallen. 

Rückzug als Selbstschutz

Loeb war nicht nur Jude, sondern engagierte sich auch für genau die Kunst, die von den deutschen Besatzern seit 1937 als „entartet“ gebrandmarkt wurde. Loeb sah, wie die verfemten Werke gestohlen und gehortet wurden, ahnte, was die Nationalsozialisten für Juden vorsahen. Und er bemerkte auch, dass viele seiner französischen Kollegen unter dem Vichy-Regime nach deutschem Vorbild eine „Arisierung“ französischer Unternehmen betrieben. Noch bevor im Juli 1941 jüdische Eigentümer per Gesetz systematisch durch französische Kollegen ersetzt wurden, setzte Loeb seinen Kollegen Georges Aubry als Verwalter ein. Dank seines Weitblicks sollte er schließlich einer der wenigen sein, die mit dem Leben davonkamen.

1945, nach der Befreiung, kehrte er dann nach Paris zurück. Sein erster Weg führte ihn in seine frühere Galerie – doch Aubry wollte seinen Platz nicht räumen. Verzweifelt wandte sich Loeb daraufhin an seinen Freund Picasso, der zu dieser Zeit bereits ein einflussreicher Akteur in der Kunstwelt war. Und der schrieb ganz unmissverständlich an Aubrey: „Pierre Loeb ist zurück in Paris. Er wird seine Galerie wieder übernehmen“ – Aubry gab sofort nach.

Kein Einzelschicksal

Dies ist eine von insgesamt vier Fallgeschichten, anhand derer eine Ausstellung im Mémorial de la Shoah den „Kunstmarkt während der Besatzung 1940 – 1944“ rekonstruiert. Und bei allem Schrecken, den diese Zeit der Kollaboration und Korruption, der Niedertracht und Gewinnsucht bereithält, erzählt die Schau doch vor allem von mutigen, weitblickenden Menschen, von wichtigen Protagonisten der Avantgarde – und von großer Solidarität für die Kunst. Berthe Weill, der das nationalsozialistische Propagandablatt Les cahiers jaune 1943 „den der jüdischen Rasse eigenen absoluten Mangel jeglichen ästhetischen Sinns“ bescheinigte, überschrieb ihre Galerie einem Freund, bevor sie von den Zwangsverwaltern vereinnahmt werden konnte – so blieb ihr bedeutender Schauraum für Moderne bis 1941 geöffnet. Weill überlebte in Paris die Besatzung und fand dank ihrer Künstler, die 1946 für sie eine Benefiz-Auktion veranstalteten, wieder eine bescheidene Lebensgrundlage. 

Auch der große Kunsthändler Paul Rosenberg sah rechtzeitig die Bedrohung und floh am 17. Juni 1940 – am Tag, an dem Marschall Pétain mit Deutschland den Waffenstillstand verhandelte – in die USA. 162 seiner wertvollsten Werke hatte er in einem Banksafe in Libourne verschlossen. Die Nazis brachen ihn auf, verbrachten die meisten Werke ins Jeu de Paume. Rosenberg konnte bis zu seinem Tod 1959 nicht alle Werke wiederfinden – bis heute fehlen rund 50 Arbeiten.

Neue Perspektiven auf Kollaboration

Damit Kunst in der Besatzungszeit verkauft werden konnte, brauchte es natürlich mehr als nur brutale Nazi-Schergen: nämlich kenntnisreiche Kollaborateure, die Werke zusammenrafften, schätzten, mit Expertisen versahen und auf den Markt brachten. Die Ausstellung zeigt – und damit ist sie in Frankreich ebenso innovativ wie provokativ – den Umfang dieser Kollaborationen anhand von Fotos, Dokumenten, Dekreten, Amtsschreiben. Sie zeigt die Maschinerie des Kunstraubs, der unter dem Schein der Normalität vonstattenging.

Besonders gelungen sind zwei Säle, die wie Auktionsräume eingerichtet sind. In einem roten Raum wird das Tagesgeschäft des Hôtel Drouot dargestellt, das während der Besatzung heiß lief. Zum einen, weil viele versuchten, ihren Besitz zu Geld zu machen. Zum anderen, weil die den Juden geraubten Güter auf diesem Weg weitergereicht wurden. Im anderen, weiß gehaltenen Raum kann man sich auf einen Stuhl setzen und wie bei einer Auktion die Werke aus der Sammlung des Anwalts Armand Isaac Dorville ansehen. Vom 24. bis zum 27. Juni 1942 rief das Auktionshaus „Savoy-Palace“ in Nizza Hunderte seiner Arbeiten auf – der Louvre hat nun einige Werke, die damals ins Haus kamen, für die Ausstellung bereitgestellt. „Es gibt da immer noch Kunst, die restituiert werden muss, daran werde ich mit Hochdruck arbeiten“, sagt Emmanuelle Polack, wissenschaftliche Kuratorin der Schau. Mit der Ausstellung wolle sie weniger der Restitutions-Debatte ein weiteres Kapitel hinzufügen, als vielmehr eine bisher kaum erzählte Geschichte erzählen: jene der französischen Kollaboration.

Fehlendes Fazit

Insgesamt hat die Historikerin, die zu diesem Thema 2018 ihre Promotionsschrift veröffentlichte, eine Schau ins Leben gerufen, die faktenreich ist, aber wenig Schlüsse zieht. So fehlt neben einer klaren Benennung der Täter (diese erscheinen eher implizit) und einer Darstellung ihrer Vorgehensweise auch eine Einschätzung, in welchem Umfang der Kunstraub und die Vichy-Arisierungen das Fundament der heutigen Galerienszene bilden. Offen bleibt also, inwieweit sich das heutige Saint-Germain vom Blut der ermordeten und vertriebenen Kunsthändler nährt – ob (und wenn ja: inwiefern) der Pariser Kunstmarkt strukturell von der Vichy-Schuld abhängig ist. Auch bleiben aktuelle künstlerische Arbeiten zum Thema – wie das „Rose Valland Institut“ der Schweizer Künstlerin Maria Eichhorn – ungenutzt: „Das wäre eine andere Ausstellung“, erklärt Polack. „Hier ging es zuerst um die historischen Fakten.“ Und so erhält man vor allem Einblick in eine Auswahl von Einzelschicksalen – im Sinne des „Mémorial“ will Polack also „erinnern, heilen, erzählen“.

Aufarbeitung steht noch aus

In Frankreich wird noch immer kaum über die Vichy-Zeit debattiert. Noch immer gibt es – trotz jüngster Fortschritte in Bezug auf Objekte aus Afrika – kein französisches Raubkunst-Verzeichnis. Immerhin: Premierminister Édouard Philippe hat vor etwa einem Jahr eine deutliche Steigerung des staatlichen Engagements für Opfer von antisemitischem Raub angekündigt. Eine öffentliche Diskussion darüber in Gang zu bringen, könnte das Verdienst dieses wichtigen historischen Aufrisses sein.

Service

Ausstellung

„Kunstmarkt während der Besatzung 1940 – 1944“

Mémorial de la Shoah, Paris
bis 3. November

www.memorialdelashoah.org

Dieser Beitrag erschien in

KUNST UND AUKTIONEN Nr. 15/2019

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