Vier Arbeiten des flämischen Künstlers Jan Fabre ergänzen die reiche Ausstattung einer neapolitanischen Kirche um zeitgenössische Positionen
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09.01.2020
Neapel ist eine Stadt, die ihre Glaubensfreude immerzu ausstellt, zu Weihnachten in Gestalt zahlloser Krippen, das ganze Jahr über im heftig verehrten Stadtheiligen San Gennaro. Dessen Name verweist auf den Monat Januar, doch sein Blutwunder wird tatsächlich in drei anderen Monaten erwartet und gefeiert. Eine vatikanisch-kirchenoffizielle Anerkennung dafür gibt es nicht, aber was macht’s – Neapel folgt seinen eigenen Glaubensregeln.
Ihrer Tradition folgen auch die Oberen des Pio Monte della Misericordia, einer frommen Vereinigung, die sich die Ausübung der sieben Kardinaltugenden zur Aufgabe gemacht hat. Sie wurde 1601 von wohlhabenden jungen Männern, den Erben großer Familienvermögen, gegründet. Eine eigene Kirche, genauer ein Oratorium wurde in der Altstadt gebaut, an der geschäftigen Via dei Tribunali, und 1607 ein Altarbild bei einem gewissen Michelangelo Merisi bestellt, der gerade in der Stadt weilte: Der, bekannt unter dem Namen seines Geburtsortes Caravaggio, schuf das Meisterwerk der „Sieben Kardinaltugenden“, das seither über dem Hauptaltar hängt, auch nach dem prächtigen Neubau des Oratoriums Mitte des 17. Jahrhunderts. Niemals, so bestimmen es die Statuten der Vereinigung, darf das Gemälde abgenommen oder gar ausgeliehen werden, so dass keine der mittlerweile sehr zahlreichen Caravaggio-Ausstellungen es jemals vorführen konnte. Man muss schon nach Neapel reisen, um dieses Meisterwerk zu sehen.
Mehr als das ist in dem kuppelbekrönten Zentralbau zu bewundern – neben Caravaggios Gemälde sechs weitere Altarbilder von gleichfalls bedeutenden Meistern wie Luca Giordano. Seit neuestem sind auch vier Arbeiten des flämischen Künstlers Jan Fabre zu sehen. Über fünf Monate des vergangenen Jahres war bereits eine Skulptur Fabres in der Mitte der Kirche aufgestellt, „Der Mann, der das Kreuz trägt“, Aug‘ in Auge mit dem gekreuzigten Christus auf dem Hochaltar, über dem Caravaggios Darstellung der Tugend-Taten zu sehen ist. Aus dieser temporären Zusammenarbeit resultierte der Wunsch, Fabre mit vier Arbeiten zu beauftragen, die in vorhandenen Nischen der das Kirchenrund füllenden Seitenkapellen unterzubringen waren. Fabre entschied sich für Skulpturen aus roter Koralle, einem im Golf von Neapel gewonnenen – „gefischten“, wenn man so will – und in der Stadt selbst seit Jahrhunderten beliebten Schmuckmaterial, und gespendet wurde das kostbare Material denn auch von den beiden führenden Korallenhändlern der Stadt.
Fabre machte Anleihen bei vier der sieben Altarbilder. Immer bildet ein Herz den Mittelpunkt seiner jeweils ein Meter zehn hohen Skulpturen, deren Kern aus belgischem Granit besteht. Mit Abertausenden von roten Korallen in Form von runden und länglichen Perlen sowie Rosenknospen sind die Skulpturen bedeckt, ja „bestickt“. „Die Reinheit der Gnade“ bezieht sich auf die Gottesmutter, die auf Caravaggios Gemälde, von zwei Engeln geleitet, die guten Taten auf dem irdisch-allzuirdischen Grund besieht, und so zeigt diese Skulptur eine stilisierte, weitverzweigte Lilie als Symbol der Reinheit. „Die Freiheit des Mitleidens“ gibt sich in der Taube zu erkennen, die ihre Flügel breitet und auf den Heiligen Geist deutet, der in Bernardino Azzolinos Altarbild „Paulus befreit einen Sklaven“ wirkmächtig wird. „Die Auferstehung des Lebens“ wird versinnbildlicht im immergrünen Efeu, der sich um ein Kreuz rankt und auf die „Grablegung Christi“ von Luca Giordano verweist. „Die Befreiung der Leidenschaft“ schließlich ist in dem Schlüssel Petri dargestellt, der hier das Herz der Skulptur aufschließt und sich auf das 1611 geschaffene Gemälde „Petrus erweckt Tabitha“ des von den Misericordia-Mannen hochgeschätzten und mehrfach beauftragten Fabrizio Santafede bezieht.
Jan Fabre, Jahrgang 1958, hat eine bewegte Künstler-Vita vorzuweisen, er ist Schriftsteller, Dramatiker, Performance-Künstler und Choreograf und eben auch bildender Künstler mit immerhin zweimaliger documenta-Teilnahme. Seine Arbeit dreht sich thematisch vor allem um den menschlichen Körper, in künstlerischer Hinsicht um die Aufhebung oder Verschleifung der Gattungsgrenzen. So sagt er von sich, dass sein Schreiben immer auch Zeichnen sei, und in Vorbereitung seiner Neapolitaner Skulpturen habe er an die 7000 Zeichnungen angefertigt, als Arbeitsmaterial, von denen er lediglich ein Dutzend aufbewahrt. Als religiös will er sich nicht bezeichnen, als wir uns in einem Palazzo zum Gespräch treffen, seine Mutter sei katholisch, sein Vater Kommunist gewesen. Wohl aber schwärmt er geradezu von der „spirituellen Kraft“ von Kirchenbauten, die er in seiner Antwerpener Heimat schon früh aufgesucht hat. Seine Auftraggeber vom Pio Monte rühmt er wegen ihrer Toleranz, sie hätten ihm „absolute Freiheit“ für die Gestaltung des Auftrags gelassen – und diese Werke seien immerhin „für die Ewigkeit“: „Für einen Künstler ist es wunderschön zu wissen, dass es für immer ist.“ Als Flame weist Fabre auf die künstlerischen Beziehungen, die seit jeher zwischen seiner Heimat und Neapel bestanden haben, und Rubens sei stark von Caravaggio beeinflusst worden.
Nun also ließ sich Jan Fabre von den Neapolitaner Malern des Frühbarock beeinflussen – zu vier Skulpturen, die sich unaufdringlich, aber doch unübersehbar in den künstlerischen Kosmos des Pio Monte della Misericordia einfügen. Und die so gar nichts davon verraten, wann genau sie entstanden sind. Sie ruhen glühendrot in ihren Nischen, als ob sie schon immer da gewesen wären – und für immer bleiben.
Neapel, Pio Monte della Misericordia, Via dei Tribunali, auf Dauer. Katalog bei Electa (ital./engl.), 22 €.