Ausstellungen

La Grande Bellezza

Die Münchner Sammlung Goetz präsentiert mit der Ausstellung „Tutto“ die Vielfalt der italienischen Nachkriegskunst

Von Roberta De Righi
09.03.2020

Die Leinwand war nicht totzukriegen – obwohl sie aufgeschlitzt (Lucio Fontana), über Nägel gespannt (Enrico Castellani), durchlöchert und weitgehend ausgeschnitten (Dadamaino, Paolo Scheggi) wurde. Immer entstand dabei am Ende dennoch ein bildähnliches Objekt. Die Erweiterung der Malerei in den Raum – die Sprengung der Genregrenzen – war in der italienischen Nachkriegskunst Programm. Das kann man in der Münchner Sammlung Goetz momentan gut beobachten, die „Perspektiven italienischer Kunst“ aufzeigt. 

Breites Spektrum italienischer Kunst

Die gemeinsam mit dem Museion in Bozen und der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne konzipierte Präsentation mit rund 120 Exponaten kann auf die umfassenden eigenen Bestände zurückgreifen, die mit einigen Werken aus Südtirol kombiniert werden, wo die Schau bereits zu sehen war. Die Ausstellung fächert ein breites Spektrum italienischer Kunst bis in die Achtzigerjahre auf. Darüber hinaus werden Schlaglichter in den Bereich „Design“ gesetzt – unter anderem auf ein Sideboard von Ettore Sottsass, auf Gaetano Pesces tiefroten „La Donna“-Sessel und diverse Murano-Vasen verschiedener namhafter Gestalter. Dabei bietet „Tutto“ dennoch kein vollständiges Panorama, wie auch der einschränkende Untertitel andeutet: Denn während die Arte povera ein Sammlungsschwerpunkt von Ingvild Goetz ist, sucht man etwa nach den Künstlern der „Transavanguardia“ wie Enzo Cucchi oder Mimmo Paladino vergeblich.

Die Grenzen der Leinwand austesten

Der Titel „Tutto“ bezieht sich auf ein gleichnamiges Werk Alighiero Boettis von 1988. Die nach seinem Entwurf von afghanischen Textilhandwerkern geschaffene, kleinteilige Stickarbeit wirkt ebenso verdichtet wie dynamisch – die totale Entropie. Noch eindrucksvoller im ersten Raum des noblen Obergeschosses ist Boettis ebenso großformatige wie feinnervige Kugelschreiberzeichnung „Vedere i laterali“ – daneben finden sich Lucio Fontanas frühe „Concetti spaziali“. Anschließend kommt die 1959 / 60 von Piero Manzoni und Enrico Castellani in Mailand betriebene Galerie Azimut zu Ehren, in der die Avantgarde damals ein Zuhause fand: Zu sehen ist Manzoni allerdings nicht mit seiner berühmten „Merda d’Artista“, sondern mit Wattebäuschen-Tableaux. Gegenüber stehen Agostino Bonalumis gewölbte Wand-Objekte und die subkutan mit Nägeln strukturierten „Superficie“ von Castellani. Im letzten oberen Saal dann die „Volume“ von Dadamaino, der einzigen Frau in der Truppe, die die Leinwand weitestgehend ausschnitt und die Ebene dahinter sichtbar machte. Sogar noch weiter gingen hier Paolo Scheggi, der mehrere Öffnungen hintereinander schichtete, und Salvatore Scarpitta, der den Bildträger gleich durch Bandagen ersetzte, die er vielfach um die Keilrahmen wickelte.

Nicht in erster Linie formal, sondern konzeptuell und inhaltlich grenzüberschreitend sind viele Werke im Untergeschoss. Für Carla Accardi und Achille Perilli – Gründungsmitglieder der marxistisch-formalistischen Gruppe „Forma 1“ – war Abstraktion auch ein gesellschaftliches Desiderat. Accardis ornamentale Cutouts und arabesk anmutenden Schriftbilder sind hochästhetisch und wirken sehr modern. Auch Fabio Mauri und Maurizio Nannucci führten die Dekonstruktion und Neuinterpretation der Leinwand weiter fort. Bei beiden tauchen Buchstaben auf – in Mauris „Schermi“ (Leinwände, Bildschirme) als Lettern, in Nannuccis „Deep blue“ als Neonschriftzug auf monochromem Blau.

Aufeinandertreffen verschiedenster Strömungen

Im großen Saal folgt das Spektakuläre und das Großformatige, die italienische Variante der Pop-Art: Zu sehen ist hier Mario Schifano, der Markenzeichen dekonstruierte und sich mit der US-amerikanischen Konsum-Kultur (und Warhol) auseinandersetzte. Und Michelangelo Pistolettos höchst plastisch-realistische Malerei auf Spiegelflächen, die den Betrachter mit ins Bild holt.

Übervoll und ein wenig durcheinander wirkt zuletzt das Base2. Hier treffen teils sehr gegensätzliche Konzepte aufeinander, die zu einer Zeit entstanden, die auch in Italien als „bleiern“ galt und von Extremismus und (Links-)Terrorismus geprägt war. Das akkurat geschminkte weibliche Auge in Luciano Fabros „L’occhio di dio“ – inmitten des göttlichen Strahlendreiecks (1969) – dürfte damals noch fast als Gotteslästerung gegolten haben. Inhaltlich liegen Elio Marianis surreale Körper-Kompositionen (1969) und Plinio Martellis Tattoo-Studien (1975) weit voneinander entfernt. Ebenso Giorgio Ciams Retuschen des eigenen Konterfeis (1972), die an Fahndungsbilder erinnern, und die Foto-Inszenierungen von Michele Zaza (1975). Die Künstler arbeiteten entweder mit Elementen der Fotografie oder der Typografie, einige nähern sich fotografisch der Body-Art an – etwa Ketty La Rocca, eine weitere rare Frau unter lauter Männern. Während in Luigi Ghirris urbanen Impressionen das Atmosphärische im Mittelpunkt steht, erzeugen Stello Maria Martinis Text-Bild-Collagen ein Narrativ. Franco Vaccari indes untersuchte den Wirklichkeitsgehalt der Fotografie. „Tutto“ bietet hier tatsächlich vielfältige Perspektiven, deren Fokus allerdings am Ende etwas unscharf wird.

Service

Ausstellung

„Tutto. Perspektiven italienischer Kunst“

Sammlung Goetz, München
bis 28. März

Dieser Beitrag erschien in

KUNST UND AUKTIONEN Nr. 2/2020

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