Österreich hat mit der Albertina modern ein neues Museum für Gegenwartskunst bekommen. Die erste Ausstellung ist ein großer Wurf: Sie erzählt vom radikalen Neubeginn der Avantgarden nach 1945
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05.06.2020
Am 1. Juni 1962 steigen drei junge Künstler in ein Kelleratelier in der Wiener Perinetgasse Nr. 1 hinab. Sie haben Ungewöhnliches vor. Sie wollen sich einmauern lassen, um zu erkunden, was das mit ihnen und ihrer Kunst macht. Drei Tage verbringen Adolf Frohner, Otto Muehl und Hermann Nitsch in dem dunklen Gewölbe, ohne zu essen, zu schlafen oder ihren Körper zu pflegen. „Schrankenlose Enthemmung, Befreiung von aller Brunst“ streben sie an und künstlerische „Transponierung derselben in Blech, Schrott, verwesende Abfälle, Fleisch, Blut, Gerümpel usw.“ Das Finale dieses Selbstversuchs, die „Ausmauerung“, ist als befreiende Kulthandlung gedacht: Vor handverlesenem Publikum soll ein Lamm zerrissen und gekreuzigt werden. Doch dazu kommt es nicht, die Polizei schreitet ein.
Die radikale Performance der drei jungen Wüteriche gilt als Geburtsstunde des Wiener Aktionismus. Mit seinen orgiastischen Ausschüttungen von Blut und Eingeweiden, seinen sadomasochistischen Inszenierungen, den Bemalungen und Selbstverstümmelungen sendet er schon bald Schockwellen durch die brave Republik Österreich. Gerade erst hatte man es sich wieder gemütlich eingerichtet zwischen langsamem Wohlstandszuwachs und Burgtheater-Abonnement, und nun so was. Ekelerregend. Gefährlich. Wegsperren, die Bande.
Was damals von vielen Bürgern als öffentliches Ärgernis empfunden wurde, ist heute ein bemerkenswertes Kapitel Kunstgeschichte. Es erzählt von einer ungeheuren, absichtlich herbeigeführten Provokation, vom Suchen nach Aufmerksamkeit und Scheinwerferlicht (bzw. Polizeisirenen). Aber auch vom Wunsch junger Künstler, die Grenzen des Bildes zu überwinden, die Kunst zu entmaterialisieren und in einen rituellen, körperlichen Akt zu verwandeln. Zugleich ist es eine Kampfansage an alles Schöne und Gesittete, das die Mehrheit so schätzt, das man selbst aber für verlogen und durch die Nazi-Ästhetik obsolet geworden hält.
Der Wiener Aktionismus ist eine der Strömungen der österreichischen Nachkriegskunst, die in der Albertina modern, Österreichs neuem Museum für moderne Kunst im umgebauten Wiener Künstlerhaus von 1865 am Karlsplatz, nun endgültig in den Kanon überführt werden. In der Eröffnungsausstellung „The Beginning. Kunst in Österreich 1940 bis 1980“ geht es nicht um eine Gesamtschau nationalen künstlerischen Schaffens, sondern um das Herausstellen der wirklich innovativen Gruppen und Personen, die den Anschluss der Alpenrepublik an die internationale Moderne überhaupt erst ermöglichten. Denn seit dem Tode Klimts und Schieles im Jahr 1918 hatte sich Mehltau über Österreichs Kunst gelegt. Stagnation und Provinzialisierung herrschten vor, während im Nachbarland Deutschland zumindest in den Zwanzigerjahren noch künstlerisch die Post abging.
Umso radikaler vollzog sich im Jahr 1945 der Neuanfang. Er war nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch eine Stunde Null. Die vielfältigen Kriegstraumata, ob Bombennächte oder verstörende Erlebnisse an der Front, harrten der Bearbeitung. Und diese brauchte neue Ausdrucksformen, da das bürgerliche Bildungs- und Kunstideal durch den Nationalsozialismus nachhaltig kontaminiert worden war. Einen Ausweg boten die internationalen Avantgarden, deren Formsprachen man sich wissbegierig aneignete. „Die Nazis hatten ja alles vernichtet“, erinnerte sich der Schriftsteller und Künstler Oswald Wiener. „In den öffentlichen Bibliotheken konnte man nichts zu Surrealismus, Dadaismus und ähnlichen Kunstrichtungen finden. Wenn man trotzdem einmal zufällig in einem Antiquariat beispielsweise auf ein Buch von André Breton stieß, dann wurde das im Freundeskreis herumgereicht wie ein Schatz.“
Der Surrealismus gab den ersten wichtigen Anknüpfungspunkt. Mit seiner Intention auf das Unbewusste stieß er in der Stadt, in der Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelt hatte, auf lebhaften Zuspruch. Auch sein Hang zum Fantastischen und ornamental Wuchernden baute Brücken zum Jugendstil, dem letzten großen Wurf der österreichischen Kunst. Junge Künstler wie Arik Brauer, Ernst Fuchs oder Rudolf Hausner versuchten sich im surrealistischen Vokabular, gaben ihm aber ein spezifisches Wiener Idiom. Ihr Zugriff auf die Wirklichkeit erscheint der Vernunft zugewandter als der ihrer Pariser Malerkollegen, er ist logisch entschlüsselbarer und weniger absurd. Schon bald bürgerte sich deshalb eine eigene Bezeichnung für diese Künstlergruppe ein: Wiener Schule des Phantastischen Realismus.
Der älteste Künstler dieser Gruppe war der 1914 geborene Rudolf Hausner, der 1941 zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Hierbei hatte er ein Erlebnis, das sein Schaffen maßgeblich prägte. Vier Tage lang war Hausner in einem Blockhaus in der Hohen Tatra eingeschneit. Beim Starren auf die Maserung der Holzwand überkam ihn plötzlich das Gefühl, diese sei eine Art Landschaft, durch die er mit seinem Geist einfach nach draußen spazieren könne. Hausner nannte das später seinen „Tatra-Blick“, der ihm einen persönlichen Zugang zum Unterbewusstsein ermöglichte. Die von dort geholten Bildsequenzen arrangierte er in psychologisch verschlungenen Tableaus. In seinem frühen Hauptwerk „Forum der einwärts gewendeten Optik“ von 1948 ist er etwa als Junge im Matrosenanzug zu sehen, der vergeblich einen Ball zu fangen versucht, den eine seltsam abgewandte Mutterfigur mit Kugelbauch ihm zuwirft. Ein Bodybuilder, weitere rätselhafte Frauengestalten, Glasmurmeln, riesige Garnspulen, Pyramiden und Türen, die ins Nichts führen, bevölkern dieses aufgespaltene Selbstporträt, von dem Hausner später selbst sagte: „Es ist für mich eine echte Bilanz meines Lebens, es zeigt die Grundfiguren, aus denen ich zusammengesetzt bin.“
Figuren sind allerdings etwas, das man anderswo bereits hinter sich gelassen hat. Im Jahr 1951 reisen Maria Lassnig und Arnulf Rainer nach Paris. Ihre Absicht ist, den Surrealismus-Papst André Breton zu treffen und davon geistig beflügelt zu werden. Doch die persönliche Begegnung verläuft enttäuschend, Breton kommt dem jungen Künstlerpaar ziemlich spießig vor. Wesentlich ergiebiger sind die Galeriespaziergänge in Saint-Germain-de-Prés, wo gerade die neueste Avantgarde gezeigt wird: gegenstandslose Kunst aus Amerika und Europa. Noch ist der Begriff Informel nicht etabliert, aber Lassnig und Rainer spüren, dass in der gestisch-abstrakten Malerei die Zukunft liegt. Sie sind so begeistert, dass sie in Österreich etwas Ähnliches auf die Beine stellen wollen. Noch im November 1951 wird im Künstlerhaus in Klagenfurt eine Schau mit dem Titel „Unfigurative Malerei“ eröffnet, die sich bei Publikum und Presse als großer Flop erweist. „Man wurde angefeindet und angepöbelt, mit dem Verprügeln bedroht“, erinnert sich Lassnig später. „Und auch in Wien wurden diese Bilder, wenn man sie eingereicht hat, ausjuriert.“
Der Siegeszug der abstrakten Malerei ist dennoch nicht aufzuhalten. Zu stark ist der Rückenwind aus Paris und New York. Das Abstrakte steht in den 1950er-Jahren für die Freiheit, das Figürliche für den Totalitarismus. Maria Lassnig, eine der wenigen Frauen mit Zutritt zum Männerklub Kunstwelt, experimentiert mehrere Jahre mit dem Informel. Doch bald empfindet sie es als zu „steril“ und wendet sich ihren Körpergefühlsbildern zu. Arnulf Rainer, der große Existenzialist unter Österreichs Künstlern, entscheidet sich ebenfalls gegen die Dynamik des gestischen Strichs und arbeitet mit seinen auf die Proportionen von Farben und Flächen konzentrierten Übermalungen an der Auslöschung aller herkömmlichen Inhalte und Gestaltungsprinzipien. 1955 hat er seine erste Einzelausstellung in der von Monsignore Otto Mauer geleiteten Galerie St. Stephan (die unter dem Namen Galerie nächst St. Stephan noch immer existiert). Der Kirchenmann Mauer lehnt Dada und Surrealismus ab, ist aber sehr aufgeschlossen gegenüber abstrakter Kunst. Er sieht sie als Ausdruck der Offenbarung und einer höheren Wahrheit. In den Folgejahren wird seine Galerie zum Epizentrum der Avantgarde in Wien, wo neben Arnulf Rainer auch Wolfgang Hollegha, Josef Mikl und Markus Prachensky ihre künstlerische Laufbahn starten. Die „Stephanboys“ gelten als die Hochsensiblen, deren Jugend von den inneren Verletzungen aus Krieg und Nachkriegszeit bestimmt war. Mit ihrer Malerei wollen sie ihre inneren Ängste überwinden. Monsignore Mauer sorgt dafür, dass ihre Arbeiten gemeinsam mit internationalen Positionen gezeigt werden und macht sie so auch im Ausland bekannt.
Wolfgang Hollegha, Jahrgang 1929, ist wohl der bedeutendste Maler aus diesem Kreis. Ausgangspunkt für seine Abstraktionen sind reale Gegenstände, meist aus der Natur, deren Form er langsam in transparente, lichtdurchflutete Farbkörper aufgehen lässt. Seine Arbeiten (wie „Bild auf weißem Grund II“) entstehen durch das Schütten von Farbe auf die am Boden liegende Leinwand, anschließend wischt er sie mit der Hand oder einem Tuch wieder ab, bis die Farbe ganz dünnflüssig wird. Als er 1958 mit dem Guggenheim-Preis ausgezeichnet wird, erhält er die Gelegenheit, seine Bilder in Amerika zu zeigen. Clement Greenberg, der führende US-Kunstkritiker, reagiert enthusiastisch. Und so wird Hollegha Teil des internationalen Netzwerks der abstrakten Expressionisten, ein Jahr später stellt er gemeinsam mit Sam Francis in New York aus.
In Europa sorgt unterdessen ein anderer junger Österreicher für Aufsehen, dessen Werk so eigenbrötlerisch ist, dass es in keine Avantgarde-Schublade passt. Friedensreich Hundertwasser ist ein manischer Schöpfer, der seine Inspirationen aus ganz unterschiedlichen Quellen bezieht. Er ist viel auf Reisen, studiert in Ravenna die Farbigkeit der Mosaiken, lässt sich vom Licht des französischen Mittelmeers zu neuen Pigmentmischungen anregen, dreht sich in Marrakesch und Tunis wie ein Derwisch zu arabischer Musik. Spiralen und Häuser sind seine Lieblingsmotive, er malt sie praktisch überall, nur nicht im Atelier. Seine Ausbildung an der Akademie in Wien hat er nach drei Monaten abgebrochen, lieber ist er unterwegs, in Sandalen und selbst gefertigter Kleidung. Er ist eine auffällige Erscheinung und macht sich das zunutze. Wo es nur geht, knüpft er Kontakte. Mit Yves Klein ist er befreundet, er steht im Austausch mit der CoBrA-Gruppe um Asger Jorn, ja sogar bis nach Japan streckt er seine Fühler aus. Sein rasant wachsendes Werk findet ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre Eingang in die Museen, doch die progressiven Kritiker sind nicht ganz so überzeugt: Ihnen sind die Arbeiten zu dekorativ. An Hundertwassers Größenwahn kann das nicht rütteln, in einem Manifest erklärt er sich selbst zum Endpunkt aller Kunst: „Meine Malerei ist, glaube ich, deshalb völlig anders, weil es eine vegetative Malerei ist. Ein Grund, warum die anderen Leute nicht vegetativ malen oder eine vegetative Lebenshaltung einschlagen wollen, ist, weil sie zu unscheinbar beginnt, weil sie keinen Eklat hat und keinen Paukenschlag, sondern weil sie ganz langsam und unscheinbar wächst.“ Mit seiner vegetativen Malerei bleibt er ein großer, wenngleich äußerst populärer Einzelgänger in der österreichischen Kunst, mit seinem Bewusstsein für ökologische Fragen (er aß nicht einmal Kirschen, weil er sonst die Kerne hätte wegwerfen müssen) war er seiner Zeit weit voraus und wird vielleicht demnächst von der Fridays-for-Future-Generation wiederentdeckt.
In Wien geht es jetzt aber, in den 1960er-Jahren, um genau das andere: um Paukenschläge und Eklats. Die Aktionisten beherrschen mit ihrem Körpereinsatz und ihrer Radikalität die Szene so umfassend, dass Maria Lassnig lieber das Weite sucht. Sie übersiedelt nach Paris. „Damals haben die Aktionisten schon angefangen. Das ging mir auf die Nerven, dieses Männlichkeitsgetue. Ich war auch als Frau tief enttäuscht, weil ich dauernd betrogen worden bin … Ich wollte einfach nicht mehr hier sein.“
Tabubrüche, Grenzerfahrungen, der provokante Umgang mit Themen wie Sexualität und Tod: Aus der Rückschau wirkt es wie ein Überbietungswettkampf im Machismo, den diese Gruppe von unangepassten Künstlern, unter den Argusaugen der Staatsmacht, im öffentlichen Raum führt. Heute sind es weniger die Gruppenaktionen, sondern die Einzelporträts, die den größten Eindruck hinterlassen, am tiefsten unter die Haut gehen. Selbstversuche mit Rasierklingen, Nägeln, Verbandmaterial erscheinen wie Besuche in individuellen Folterkellern, wo man kahlgeschorenen Köpfen und vor Schmerz gekrümmten Körpern begegnet. Unwillkürlich denkt man an Bilder aus Konzentrationslagern, den Orten größtmöglicher menschlicher Demütigung im 20. Jahrhundert. In der Rezeption ist das fotografische Dokument dabei längst an die Stelle der eigentlichen Aktion getreten. Es zeigt – etwa bei Günter Brus’ „Selbstbemalung II“ von 1965 – mit welcher Präzision, welchem ästhetischen Formwillen diese Extremsituationen herbeigeführt wurden. Das ist noch mal eine andere Nummer als Happening oder Fluxus, die gerade international für Furore sorgen.
Die Weltöffentlichkeit registriert das erstmals 1965, als Günter Brus, Otto Muehl und Hermann Nitsch am Destruction in Art Symposium (DIAS) in London teilnahmen, das der Holocaust-Überlebende und Konzeptkünstler Gustav Metzger organisiert hatte. Das Time Magazine berichtete auf einer ganzen Seite, sieben Jahre später war es die legendäre, von Harald Szeemann kuratierte Documenta, die den inzwischen teilweise ins Exil gegangenen oder aufs Land geflüchteten bösen Buben aus Wien künstlerischen Weltruhm sicherte. Er hält noch immer an, für heute gefeierte Performancekünstler wie Paul McCarthy oder Mike Kelley sind die Wiener Aktionisten das, was Marcel Duchamp für die Moderne war.
Das Gegenprogramm zum Wiener Aktionismus ist die Pop-Art. Sie trieb damals auch in Österreich zarte Blüten, ohne eine ähnliche Wirkungskraft zu entfalten. Standen die Wiener Aktionisten künstlerisch für Hochprozentiges, so stand Christian Ludwig Attersee für Zucker. „Das Süßeste vom Süßen“ nannte der Pop-Art-Künstler, der sich nach einem See im Salzkammergut benannt hatte, 1965 eines seiner pastellfarbenen Acrylbilder, das barocke Putten mit blauer Schleife in einem Wolkenmeer aus Baiserschaum zeigte. Diese Konditorkunst war eigentlich auch radikal, weil sie sich um Nazi-Kitsch, psychoanalytische Tiefenbohrungen und existenzialistisches Berserkertum keine Gedanken mehr machte. Doch in der sozialdemokratisch verfassten Republik, die tief in ihrem Innern die Konsum- und Massenkultur verachtete, hatte die Pop-Art wenig Fürsprecher. Kiki Kogelnik, die Anfang der 1960er-Jahre nach New York gegangen war, ist die bedeutendste Protagonistin dieser Strömung. Gerade weil sie nicht mehr in Kärnten oder Wien malte, zeichnen ihre Bilder eine Unbeschwertheit und Leichtigkeit aus, verbunden mit einem auffälligen Interesse am Körper. Die Pop-Art-Künstler bildeten keine Gruppe, sie traten für sich auf. Mit dem aus Rappoltschlag stammenden Robert Klemmer hatten sie ein außerordentliches Talent in ihren Reihen. Bilder wie „Die Hochzeit des Klemmers“, das ein junges Paar parodistisch im Layout einer Boulevardzeitung zeigt, oder „Laufender Klemmer“, eine Rückenansicht im grell gestreiften Anzug, lassen diesen mit nur 33 Jahren verstorbenen Künstler wie einen Propheten unseres Selfie- und Instagram-Zeitalters erscheinen.
In der Spätphase der Pop-Art entfaltet sich in Österreich – parallel zu den USA – ein Fotorealismus, dessen wichtigste Protagonisten Franz Zadrazil und Gottfried Helnwein sind. Während Zadrazil melancholische Häuserfassaden abbildet, interessiert sich Helnwein für die Gewalt dahinter, der zum Beispiel Kinder ausgesetzt sind. Auch gesellschaftspolitische Themen rücken in Helnweins Fokus, etwa die neuerliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit oder die unhaltbaren Zustände in der Psychiatrie. Sein Bild „Der höhnische Arzt“ von 1973 zeigt diesen Berufsstand, der eigentlich zum Helfen bestimmt ist, in einer wenig vertrauenswürdigen Pose.
Um diese Zeit beginnt auch Franz West, seinen Platz in der Wiener Kunstszene einzufordern. Der Autodidakt mit dem Spitznamen „Zottel“ wird anfangs belächelt und wegen seines exzessiven Drogen- und Alkoholkonsums nicht für voll genommen. Beirren lässt er sich davon nicht. 25-jährig malt er 1972 eine „Hommage an die Elite progressiver Kulturschaffender“, der er sich zugehörig fühlt. Ideen hat er genug. Etwa die „Passstücke“ – tragbare Gebilde aus Pappmaschee und Gips, die wie Verlängerungen von Gliedmaßen wirken und Neurosen oder Prothesen darstellen sollen. Oder die „Namensbilder“, bei denen eine spezielle Eigenschaft die Porträtfunktion übernimmt. Eine Gitarre, auf der der Name Ronald steht, wird so zum Porträt des mit West befreundeten Gitarristen Ronald Fleischmann.
Der Kunstbetrieb in jenen Jahren ist eine Männerdomäne, Kunst von Frauen gelingt es kaum, öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Eine Ausnahme ist die 1940 in Linz geborene Valie Export. Ihren aggressiv in Großbuchstaben auftrumpfenden Künstlernamen hat sie von der bekanntesten österreichischen Zigarettenmarke Austria Export abgeleitet, ihre öffentlichen Auftritte sind Ende der 1960er-Jahre so gefürchtet, dass Polizisten in der Wiener Innenstadt ihr Foto bei sich tragen, um mögliche Aktionen im Keim zu ersticken. An einer Hundeleine auf allen Vieren kriechend führt sie ihren Partner Peter Weibel über den Stephansplatz, im „Tapp und Tastkino“ lässt sie männliche Passanten durch zwei Öffnungen eines umgeschnallten Kastens an ihren Brüsten tasten, in „Aktionshose: Genitalpanik“ porträtiert sie sich als Stadtguerillakämpferin mit entblößter Scham. Alle diese Aktionen werden gefilmt und den Medien zugespielt. Ihren Ursprung haben sie im Wiener Aktionismus, als feministische Konzeptkunst weisen sie aber über ihn hinaus. Die Selbstgefährdungen, in die sich Valie Exports schutzloser weiblicher Körper bringt, stehen zugleich exemplarisch für eine neue Art des selbstbewussten Auftretens einer Frau im öffentlichen Raum.
Deutlich introvertierter arbeitet in dieser aufgepeitschten Zeit Maria Lassnig an ihrer Kunst. Von Paris ist sie 1968 nach New York gezogen, wo sie Louise Bourgeois kennenlernt und beginnt, sich ebenfalls für feministische Themen zu interessieren. Ihre Körpergefühlsbilder haben es schwer auf dem amerikanischen Markt, besser gehen die Stillleben. Berühmte Arbeiten entstehen in diesen Jahren, etwa „Mit einem Tiger schlafen“, das sich mit der Fremdheit in Beziehungen auseinandersetzt, oder „Woman Power“, in dem Lassnig als riesenhafte Superfrau durch die Häuserschluchten von Manhattan spaziert. Den Erfolg gerade dieses Werks als Sinnbild des Feminismus betrachtet sie skeptisch, da es ohne das ihr so wichtige Körperbewusstsein entstanden ist.
Im Sommer 1980 – dem Jahr, in dem die Bestandsaufnahme österreichischer Nachkriegskunst in der Albertina modern endet – kommt es zu einem denkwürdigen Zusammentreffen der beiden wichtigsten Künstlerinnen des Landes. Valie Export und Maria Lassnig bespielen gemeinsam Österreichs Biennale-Pavillon in Venedig, der erstmals vollständig in Frauenhände gegeben ist. Valie Export präsentiert im linken Flügel eine Bilanz ihres filmischen und konzeptuellen Werks, Maria Lassnig zeigt im rechten Flügel ihre Gemälde. Berührungspunkte gibt es kaum, abgesehen von der Omnipräsenz des nackten weiblichen Körpers. Und doch manifestiert sich hier etwas über die eigentliche Ausstellung Hinausgehendes. Eine neue Ära kündigt sich an: das Zeitalter der Emanzipation und Gleichberechtigung in der Kunst.
„The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980“
Bis zum 8. November 2020 zu sehen in der ALBERTINA modern.