Der rekonstruierte Bildatlas Mnemosyne des legendären Kulturwissenschaftlers Aby Warburg ist in einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt erstmals zu sehen
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02.09.2020
Als Aby Warburg 1926 im heimatlichen Hamburg ein eigenes Gebäude für seine immer weiter anwachsende Bibliothek errichtete, ließ er über der Tür zum ovalen Lesesaal das Wort „Mnemosyne“ einmeißeln. Es war für ihn, den Begründer einer bildgestützten Kulturwissenschaft, das Schlüsselwort. In der antiken Mythologie ist Mnemosyne die Göttin der Erinnerung und die Mutter der neun Musen, denen sie also vorausgeht. Warburg verstand das im übertragenen Sinne: Sein ganzes Werk kreist um die Erinnerung, und dies vor allem in ihrer unbewussten Form. Um die „Wanderung“ von bestimmten symbolischen Formen durch die Zeiten und die Kulturen zu demonstrieren, erfand er den „Bilderatlas“, dem er den programmatischen Namen eben der Mnemosyne gab.
Dieser Bilderatlas blieb unvollendet; Warburg starb 1929 im Alter von 63 Jahren an einem Herzschlag. Seine Bibliothek konnte noch Ende 1933 nach London verlagert und damit vor der drohenden Zerstörung durch die Nazis gerettet werden. Im Exil fand die Arbeit am Bilderatlas keine Fortsetzung mehr. So wird von diesem heute nur auf Grundlage von Fotografien gesprochen, die von den Tafeln des Atlas erhalten blieben. In seiner originalen, bei Warburgs Tod vorhandenen Form hat ihn seither niemand gesehen. Es ist also eine ziemliche Sensation für die Kunstwissenschaft, dass das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin nun erstmals den rekonstruierten Bilderatlas zeigt.
Auf 63 schwarzen Tafeln ordnete Warburg fotografische Reproduktionen von Kunstwerken der Renaissance sowie der europäischen und vorderasiatischen Antike gemeinsam mit Zeitungsausschnitten und Werbeanzeigen an. Der Atlas hatte keine feste Form, denn Warburg nutzte die Reproduktionen, um durch Neuanordnungen immer weitere und vertiefte Verwandtschaften zwischen scheinbar fernliegenden Bildmotiven aufzuzeigen – ein Vorgehen, das auf den Tafeln mit ihren angehefteten Papierbildern nur in begrenztem Umfang möglich war. Ursprünglich zur Publikation vorgesehen, fand der Bilderatlas aus diesem Grund auch kein abschließendes Aussehen.
Axel Heil und Roberto Ohrt, die Kuratoren der Ausstellung „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne“ im HKW, haben sich im Londoner Warburg Institute auf die Suche begeben und unter den 400 000 dort bewahrten Fotografien und Reproduktionen den größten Teil jener 971 Abbildungen ausfindig gemacht, die der Bilderatlas im Zustand letzter Hand versammelte. In Warburgs Forschung stand die italienische Renaissance im Vordergrund, an ihren Kunstwerken konnte er zeigen, wie sich mythologische Szenen der Antike verwandelt hatten und „weiterlebten“. Solches „Nachleben“ setzt sich bis in die Gegenwart fort, sodass Warburg gerne Fotos aus Illustrierten hinzufügte, ebenso wie Briefmarken oder Werbeanzeigen, in denen er dem unbewussten, aber eben vorhandenen Bildervorrat nachspürte. Insbesondere ging es ihm um die seiner Meinung nach universelle Bedeutung von Gesten und Mimik, die er als „Pathosformeln“ kenntlich machte.
Die Schau des HKW wird durch eine Übersicht der Berliner Gemäldegalerie unter dem Titel „Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne“ ergänzt. In fünfzig Werken aus zehn Sammlungen der Staatlichen Museen lassen sich die Querverbindungen anhand von Originalen nachvollziehen. Warburg hatte all diese Werke vor seinem inneren Auge, er konnte, lange bevor heutige Computertechnik es jedem ermöglichte, Bilder vergleichen und geheime Bezüge entdecken. Für Warburg war Mnemosyne der bewusste Akt der Erinnerung und Vergegenwärtigung dessen, was uns Heutige mit der Antike und den frühesten Kulturen verbindet.
„Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne“
Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 4. September bis 30. November