Anna Ahrens, Expertin für die Kunst des 19. Jahrhunderts beim Auktionshaus Grisebach, entdeckte auf einem Dresdner Dachboden ein verschollen geglaubtes Hauptwerk des Malers Max Pietschmann
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09.09.2020
Der Künstler Max Pietschmann! Dresdens Kunst und Kunstgeschichte hat seit Jahren mein Augenmerk. Es ist beeindruckend, wie sich die Talente hier über Generationen die Klinke in die Hand gegeben haben. Von Pietschmann hielt ich bereits das ein oder andere Stück in den Händen. Dann entdeckte ich sein Frühwerk. Das Porträt eines Afrikaners, das noch zu Studienzeiten an der Dresdner Akademie entstand: diese Qualität der Malerei, diese einfühlsame Darstellung einer starken Persönlichkeit! Endlich fand ich sein Meisterstück, ein Mammutwerk auf einer Leinwand von 3,8 x 2,6 m. „Der Fischzug des Polyphem“ zeigt einen einäugigen Riesen vor dem blendend-blauem Himmel der sizilianischen Riviera, rosa-weiße Wolkenberge, so licht wie das strahlende Inkarnat der verängstigten Wasserschönheiten, deren physische Präsenz mich umhaute – Pietschmanns Nymphen sind keine entrückten Meerwesen, sondern Frauen im Hier und Jetzt. Ihr Playground: eine irritierend flirrende, rhythmisch abstrahierte Wasserlandschaft vor sonnenglühenden Zyklopenfelsen.
Um die Dresdner Künstler der 1880er- bis Nullerjahre des 20. Jahrhunderts war es lange verhältnismäßig ruhig. Was erstaunt, wenn man diese progressive Malerei entdeckt, die so selbstbewusst, so kraftvoll und avantgardistisch ist wie die internationalen Avangardebewegungen jener Umbruchzeit. Nicht nur Künstler wie Arnold Böcklin, Max Klinger oder Franz von Stuck erhitzten damals die deutschen Gemüter über die eigensinnige „neue Richtung in der Malerei“. In Dresden bildeten Oskar Zwintscher, Richard Müller, Hans Unger, Sascha Schneider und nicht zuletzt Max Pietschmann eine „Phalanx der Starken, die um die Jahrhundertwende Dresdens Kunst bedeutete“ (Kuno v. Hardenberg, 1928). Das bestätigt die Wiederentdeckung dieses frühen Hauptwerks des Dresdner Symbolismus, das man nur noch aus alten Abbildungen kannte. Pietschmann malte es 1890-92 in Italien, vollendete es in Dresden und schickte es 1893 zur Weltausstellung nach Chicago, wo es sogar eine Medaille gewann. Das Besondere ist, das sich nicht nur das Werk, sondern auch sämtliche Studien in Öl und auf Papier, diverse Fotos seiner überwiegend italienischen Modelle planschend im Wasser oder in teils artistischen Posen, Postkarten, Briefe und Künstlerbücher erhalten haben. Das ist sehr ungewöhnlich und von ungeheurem Wert, sowohl für das Werk als auch für die Forschung.
Letzten Sommer, in Dresdner Privatbesitz. Dort sah ich zuerst die Reihe der unverschämt jetztzeitig aufgefaßten, recht großformatigen Aktstudien in Öl. Auf dem Dachboden lag sorgfältig aufgerollt und aufgebockt eine riesige Leinwand. Das Augenfest beim Ausrollen der farbgewaltigen Stoffbahn im Atelier einer befreundeten Berliner Restauratorin übertraf dann allerdings jede Erwartung: Vor uns baute sich – Zentimeter für Zentimeter – dieser einäugige Riese auf, die Frauen schauten uns an, Wasser, Himmel und Felsen glühten, die leuchtende Ölfarbe hatte über die vielen Jahrzehnte kaum an Frische und Brillanz verloren, es war überwältigend.
Es war mein und unser aller großer Wunsch, dieses Hauptwerk mit all seinen vorbereitenden Studien und Fotos der Öffentlichkeit zu präsentieren. Am 1. September haben wir eine Ausstellung in der Villa Grisebach, Fasanenstraße. 25, in Berlin eröffnet. Sie läuft noch bis zum 3. Oktober. Das Werk steht zum Verkauf. Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn wir die gezeigten Arbeiten und Dokumente komplett vermitteln könnten – gern an eine öffentliche Institution, ein Museum oder einen Sammler, der sie bewahrt und im besten Fall als Leihgabe wiederum für Ausstellungen verfügbar hält.
Meine Begeisterung für die Dresdner Malerei ist weiter geschürt, ebenso meine Lust und Neugier, Qualitätvolles, Aufregendes und Überraschendes im buntgefächerten Kunstschaffen des langen 19. Jahrhunderts aufzuspüren und vorzustellen. Pietschmann hat mir erneut gezeigt, dass es sie noch gibt, diese guten Überraschungen, die wiederentdeckt werden wollen. Dazu kommt eine besondere Freude, die mein Wissenschaftlerin-Herz zum Tanzen bringt: ein bedeutendes Konvolut an schriftlichen und Fotodokumenten des Künstlers insbesondere aus seiner Dresdner Zeit wird dem Archiv der Staatlichen Dresdner Kunstsammlungen übergeben. Die Schenkung, die wir vermitteln konnten, wird gerade vorbereitet. Dafür an dieser Stelle noch einmal mein Dank an die Dresdner KollegInnen für die tolle und unkomplizierte Unterstützung! Ein erster Teil des künstlerischen wie schriftlichen Nachlasses wird dort bereits verwahrt. Ich habe selbst einmal den Nachlass – in meinem Fall eines Kunsthändlers aus dem 19. Jahrhundert – aufgearbeitet und weiß, wie wertvoll solche Zeitdokumente sein können. Ein wenig habe ich schon reingelesen, ein tolles, ein fruchtbares Feld, das hoffentlich bald von einer Forscherin oder einem Forscher in Augenschein genommen und uns noch viel mehr erzählen wird über die spannende Kunstszene in Dresden während dieser aufregenden Umbruchzeit.
Oh, da gibt es so viel! Mein Herz schlägt nicht nur für das späte 19. Jahrhundert, sondern auch die Anfänge, Romantik und realistische Aufbrüche, die Kreise um Friedrich, Blechen, Menzel. Immer aufregend finde ich neben dem Blick auf Italien den künstlerischen Austausch mit Frankreich, insbesondere natürlich mit Paris, aber auch mit England und den anderen europäischen Ländern. Das ist mein Forschungsfeld und ich bin überzeugt, es gibt hier noch einiges zu entdecken und zu erzählen!
Die eigene Lust zu sehen und eine gute Portion detektivische Neugier auf die Kunst, die Künstler und ihre Geschichten
„King Kong kommt aus Dresden. Die Wiederentdeckung des Malers Max Pietschmann“
Grisebach, Berlin
bis 24. Oktober