Die Schweizer Museen bleiben trotz Coronakrise geöffnet. In Ascona bringt eine Ausstellung derzeit das fatale Künstlerpaar Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky zusammen
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04.11.2020
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WELTKUNST Nr. 163
Der Brief trug das Datum vom 9. Mai 1922. Es war der letzte, den Alexej von Jawlensky an die Frau schrieb, der er so viel zu verdanken hatte: „Ich kehre nicht mehr zu Dir zurück. Nach allem, allem, was vorgegangen war – kann man nicht mehr zusammen leben. Dort, wo so ein Hass und solch eine Verachtung herrscht – kann keine Liebe sein, und ohne Liebe kann es kein gemeinsames Leben geben.“ Heftig gestritten hatten die beiden schon früher, doch diesmal schien die Trennung endgültig. Marianne von Werefkin berichtete bereits anderthalb Jahre davor aus der Schweiz an ihre gemeinsamen Freunde Paul und Lily Klee: „Nun liegt unser 27-jähriges Leben auf der Piazza von Ascona in Staub und Dreck.“
Dabei kannten die zwei auch ganz andere Zeiten, glamouröse Zeiten, in München und auf den Landsitzen ihrer adligen Familien in Russland, Zeiten, in denen sie die Kunst revolutionierten und damit in die Geschichte eingingen. Künstlerpaare hatte es auch zuvor gegeben, Auguste Rodin und Camille Claudel zum Beispiel. Doch wo bei Rodin und Claudel die Rollen klar verteilt waren – er der Lehrer, sie die Schülerin, er ein gefeierter Bildhauer, sie, obwohl Rodin als Künstlerin ebenbürtig, die exaltierte, wankelmütige, seelisch instabile Geliebte –, so waren die Verhältnisse bei Werefkin und Jawlensky, wenn man so will: viel moderner. Sie war die bereits allgemein anerkannte Malerin, die das „junge Talent“ Jawlensky unterstützte und förderte – und dies auch durchaus nicht ganz uneigennützig.
Die verschlungenen, von Migration, Flucht und Exil geprägten Biografien der beiden wollten es, dass zwei Museen in Deutschland über besonders umfangreiche Werkbestände verfügen. Das Museum Wiesbaden, das Lenbachhaus in München und das Museo Comunale d’Arte Moderna haben sich nun zusammengetan, um die Kunst von Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky in einer gemeinsamen Ausstellung darzubieten, die nach München und Wiesbaden nun in Ascona zu sehen ist. Angesichts der Lebenswege der beiden Künstler mag man es kaum für möglich halten: Es ist die erste ihrer Art – noch nie wurden Arbeiten der zwei in ein und derselben Schau präsentiert. Deren Titel lautet nun passend „Lebensmenschen“, und sie umfasst an die 200 Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen. Zusätzlich zu den Werken aus eigenem Besitz konnten die Kuratoren Leihgaben aus den prominentesten deutschen Museen, von Privatsammlern und Stiftungen wie der Fondazione Marianne Werefkin, der Kulturstiftung Kurt und Barbara Alten am Museo Castello San Materno, beide aus Ascona, dem Zentrum Paul Klee, Bern, und dem Guggenheim Museum in New York zusammentragen.
Eines der ältesten Gemälde der Ausstellung stammt von Marianne von Werefkin. Es ist der „Mann im Pelz“ aus den Jahren um 1890. Die Künstlerin lernte damals bei dem wohl bedeutendsten Maler der Zeit im Zarenreich, dem Realisten Ilja Repin, der mit seinem Werk „Die Wolgatreidler“ eine Ikone der russischen Kunst geschaffen hatte. Auch von Repin ist in der Schau ein Gemälde zu sehen, ein Porträt der jungen Marianne, das sie fröhlich lachend nach einem Jagdunfall zeigt. Es fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass ihr rechter Arm bandagiert ist – sie durchschoss sich selbst die Hand, was ihre Karriere um ein Haar dramatisch und früh beendet hätte. Konfrontiert mit der Aussicht, nie wieder malen zu können, trainierte sie sich mit eiserner Disziplin wieder die Fähigkeit an, einen Pinsel zu halten.
Der „Mann mit dem Pelz“ macht deutlich, was verloren gegangen wäre, hätte sie stattdessen nach ihrem Unfall entmutigt die Kunst sein gelassen. Es ist eines der Bilder, denen sie, gerade 30-jährig, den Ehrentitel des „russischen Rembrandt“ verdankte: Meisterhaft in der Malweise verlieh sie darauf dem Pelzkragen des Mantels, den der grauhaarige Mann trägt, seinem dichten, langen Bart und seinem Inkarnat eine stoffliche Lebendigkeit, die tatsächlich an die großen Bilder des holländischen „Goldenen Zeitalters“ gut 200 Jahre davor erinnert. 1893 malt Werefkin dann das „Selbstporträt mit Matrosenbluse“, das im Museo Comunale d’Arte Moderna in Ascona verwahrt wird. Es beweist, dass die Malerin nach dem tragischen Jagdunfall ihre virtuose Lockerheit der Pinselführung vollständig wiedererlangt hatte.
Im Jahr davor, 1892, waren sie und Alexej von Jawlensky sich auf Vermittlung von Ilja Repin zum ersten Mal begegnet. Auch von Jawlensky haben die Kuratoren ein Bild aus jenen frühen Jahren in die Ausstellung aufgenommen, ebenfalls ein Selbstporträt. Es präsentiert, ähnlich wie Werefkins „Mann im Pelz“ und das „Selbstbildnis in Matrosenbluse“, den Künstler als einen Maler, der Anfang der Neunzigerjahre zur gemäßigten Avantgarde gehört.
Im Oktober 1896 ziehen die beiden, inzwischen ein Paar, nach München. Die Gründe klingen nach einer klassischen Künstlerexistenz. „Das Leben“, so der befreundete Maler und spätere Museumswissenschaftler Igor Grabar, „war nicht teuer, und man ließ es sich gut gehen.“ In der Giselastraße in der Nähe des Englischen Gartens mietete Marianne von Werefkin eine große Wohnung, sie konnte es sich leisten, da der Zar ihrem Vater eine großzügige Pension gewährt hatte, die nach dessen Tod auf sie übergegangen war. In dem Salon, den sie ins Leben rief, genossen die Gäste „alle möglichen Pasteten, Blinis und Buchweizengrütze und tranken Tee“. Dazu gab es „endlose Gespräche über die Kunst, immer die neuesten Kunstzeitschriften und immer irgendeine neue Mode, die die gerade eben noch kultivierte ablöste“.
In den folgenden knapp zwei Jahrzehnten kamen in Werefkins Salon der Giselisten junge, fortschrittlich gesinnte Künstler wie Jan Verkade, Adolf Erbslöh, Paul Klee und Franz Marc zusammen. Auch Wassily Kandinsky und Gabriele Münter lernten Werefkin und Jawlensky kennen – sie fuhren später zu viert nach Murnau zum Malen, wo es beinahe zum Zerwürfnis zwischen den Paaren kam. Die Ausflüge hatten aber auch etwas Gutes. Denn dort begegneten Werefkin und Jawlensky der Volkskunst: Vor allem faszinierten sie die leuchtenden Farben der Hinterglasmalerei – dies sollte noch ungeahnte Folgen haben.
Während sich die Münchner Wohnung zum Treffpunkt der Kunstszene entwickelte, ordnete sich das Leben der beiden neu. Man könnte auch sagen: Die Dinge wurden kompliziert. Eine Heirat kam für Werefkin nicht infrage, da ihre Familie den aus dem niederen Adel stammenden Jawlensky nicht als standesgemäß erachtete und sie sich dagegen nicht auflehnen wollte. In der Zeit begann jener eine Beziehung mit Helene Nesnakomoff, dem empörend jungen Dienstmädchen Werefkins, das mit sechzehn Jawlenskys Sohn Andreas gebar. Aus der Zweierbeziehung wurde ein Dreieck, denn Helene war für Jawlensky nicht nur eine Affäre, sondern der zweite „Lebensmensch“, der ihn bis zu seinem Tod begleitete.
Dazu kam, dass Marianne von Werefkin für etwa zehn Jahre mit dem Malen aufhörte, um sich ganz der Aufgabe zu widmen, die sich als fixe, wenn auch vage formulierte Idee in ihr gebildet hatte: Sie wollte „die neue Kunst“ in die Welt setzen, und da sie Zweifel hegte, ob ihr dies als Frau in der damaligen Gesellschaft gelingen würde, sollte Alexej von Jawlensky ihr Werkzeug sein. Im Vertrauen auf seine Weiterentwicklung stellte sie ihr eigenes Schaffen zurück und blieb doch die treibende Kraft. Tatsächlich machte der Freund in München eine fundamentale Veränderung im Zeitraffer durch. Die Ausstellung zeichnet den Weg nach, der ihn von seinen spätimpressionistischen Anfängen über immer expressivere, betont gestische Formen bis hin zur völligen Freiheit bei der Wahl seiner Farben führte.
Die Porträts, die Jawlensky von Helene Nesnakomoff um das Jahr 1900 anfertigt, sind noch ganz in ihrer Zeit verankert. Doch dann beschleunigte sich seine Metamorphose. Auf Reisen nach Frankreich begegnet er in Paris der Malerei der Neoimpressionisten – sie findet ihren Niederschlag in Werken wie dem „Selbstbildnis mit Zylinder“ von 1904. Im Jahr darauf nehmen er und Kandinsky am kurz zuvor neu gegründeten Salon d’Automne teil, wo sie besonders die fauvistischen Bilder von Henri Matisse faszinieren. Die Auswirkungen auf Jawlenskys Malerei sind groß, und auch Marianne von Werefkin greift die Anregungen begierig auf.
Sie hatte in der Zwischenzeit erkannt, dass ihr „Schützling“ nicht zum künstlerischen Homunkulus taugt. Deshalb begann sie, wieder selber zu malen. Allerdings fing sie nicht da an, wo sie aufgehört hatte, sie überbrückte die mehr als 15 Jahre, die seit ihrem „Selbstbildnis mit Matrosenbluse“ vergangen waren, in einem großen Sprung. Eines der Bilder, die nun sie zur Protagonistin der „neuen Kunst“ werden lassen, ist die Nummer eins im Katalog zur Ausstellung, das intensive, farblich irrlichternde Selbstbildnis aus dem Lenbachhaus. Wer es betrachtet, den verwundert es nicht, dass die Künstler in Werefkins „rosafarbenem Salon“ sich für die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Chemie begeisterten, da sie darin die Chance sahen, die Leuchtkraft der Farben zu erhöhen. In dem um 1910 entstandenen Selbstporträt malt Werefkin ihr Antlitz und den nackten Hals in den Farben des Regenbogens, ihre Augäpfel sind nicht weiß, sondern hellblau und die Iris strahlend orange.
Jawlensky hat zu der Zeit seinen eigenen Stil gefunden. Auf seinem kurz danach geschaffenen Selbstbildnis aus dem Museum Wiesbaden ist nur noch das Motiv traditionell. Alles andere, das Kolorit, der Realismus der Darstellung, die Komposition im Allgemeinen, macht klar, dass hier zwei Maler auf unterschiedlichen Wegen das gleiche Ziel verfolgen: die Abstraktion. Persönlich liegen die beiden da schon oft über Kreuz. Jawlensky und Werefkin sind einander so nahe, dass die Nähe unerträglich wird. Gleichzeitig verdeutlicht die Ausstellung, wie stark sie sich gegenseitig beeinflussten. Das regenbogenfarbige Antlitz, das Werefkin „um 1910“ malt, sieht man in beinahe identischer Form wieder in dem Porträt Jawlenskys, das er 1910 von seinem Neffen Nikita schafft. Wer wen mehr geprägt hat, ist in dieser Situation unmöglich zu bestimmen. In jedem Fall ist es eindrucksvoll zu sehen, wie Werefkin in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Farbe benutzt, um Atmosphären und Gefühle darzustellen. In ihrem in Tempera auf Karton ausgeführten Bild „Tragische Stimmung“ sind die beiden Figuren, die man darauf erkennt, nur noch Chiffren, während ein Duett aus Blau- und Rottönen das eigentliche Zentrum der Komposition formieren. Auch auf ihrem bereits 1907 entstandenen, grandiosen düsteren Gemälde „Biergarten“ dominiert der Expressionismus der Farben den großen Rest. Die vermeintliche Ruhe, welche die Gäste an ihren bläulich schimmernden Tischen hält, ist angesichts des glutroten Hintergrundes, vor dem sie sitzen, eine doch eher fragile Angelegenheit: Kein Zweifel, dieser Biergarten ist ein Biergarten direkt aus der Hölle.
Was die echte Hölle auf Erden für sie bereithält, sollten die beiden bald auch noch erleben. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelten sie als Russen in München mit einem Mal als „feindliche Ausländer“ und müssen die Stadt innerhalb von 24 Stunden verlassen. Sie fliehen in die Schweiz, wo sie sich zu viert zunächst am Genfer See, dann in Zürich und zu guter Letzt in Ascona im Tessin niederlassen. In der Schweiz beginnt Jawlensky seine berühmte Serie der Variationen – diese Landschaften und Köpfe nannte er einmal „Lieder ohne Worte“: Die Farben, so hat es den Anschein, sind nicht nur Spiegel innerer, geistiger Zustände, sie werden nun selber zu Gegenständen, womit er wesentliche Kunstströmungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt.
Die Gemälde, die Marianne von Werefkin in diesen Jahren im Exil malt, sind nur unwesentlich näher an der Realität – man hat den Eindruck, dass auch ihr die Figuren in Wahrheit nur ein Vorwand zur Wiedergabe von Komplementärkontrasten und anderen Dissonanzen sind. Zwischen den beiden stehen die Zeichen jetzt seit Langem in schmerzhafter Weise auf unwiderruflichen Abschied. Werefkin bleibt in Ascona, Jawlensky zieht mit Helene Nesnakomoff und Andreas nach Wiesbaden. Aus ihrem einstmals gehobenen Lebensstil sind prekäre Verhältnisse geworden. Aber auch aus der Distanz ziehen beide aus dem in 30 Jahren gemeinsam Erarbeiteten genug Kraft für ein Spätwerk, das bis zuletzt unerhörte Energie ausstrahlt. Sie schafft Bilder wie „Nachtschicht“ (1924), „Die Lebenden und die Toten“ (ebenfalls von 1924) oder „Ave Maria“ (1927), auf denen die Farben schillern, als ziehe sie in jedem einzelnen dieser Gemälde die Summe ihrer Lebenserfahrungen. Er arbeitet weiter an seinen „Variationen“, ohne sich dabei jemals auch nur im Ansatz zu wiederholen.
Als er 1938 vom Tod seiner früheren Lebensgefährtin hört, trifft es Jawlensky hart. Die Streits, die bösen Worte, das Hin und Her aus Liebe und Eifersucht, Bindung und offener Beziehung, das alles tritt zurück, und er ist am Boden zerstört. Noch im Jahr davor hatte er für seine „Lebenserinnerungen“ einen Satz diktiert, der seitdem oft zitiert wurde. Jawlensky erinnerte sich darin an 1892, das Jahr ihrer ersten Begegnung. „Die Bekanntschaft“, so der Maler, „sollte mein Leben ändern. Ich wurde der Freund von ihr, von dieser klugen, genial begabten Frau.“
Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin– Lebensmenschen
Museo Comunale d’Arte Moderna
bis 10. Januar 2021