Mehr als 100 Jahre existierte die Künstlersiedlung in der Impasse Ronsin, eine Kreativoase mitten in Paris. Das Museum Tinguely in Basel erzählt ihre Geschichte
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11.02.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 181
Es war ein Bild, das die Impasse Ronsin auf einen Schlag berühmt machte. Kein sorgfältig ausgeführtes Gemälde, kein avantgardistischer Geniestreich, sondern eine schnell hingeworfene Illustration. Sie erschien am 14. Juni 1908 auf der Titelseite des Le Petit Parisien und zeigte eine Frau im Bett, umstellt von Polizisten. Unter der Überschrift „Die Tragödie in der Impasse Ronsin“ wurde von einem obskuren Mordfall berichtet, bei dem der Historienmaler Adolphe Steinheil sowie die Stiefmutter seiner Frau ums Leben gekommen waren. Überlebt hatte Madame Steinheil, eine Pariser Salonschönheit und Femme fatale, die schon bald ins Visier der Ermittler geriet. Erst wenige Jahre zuvor war sie als Mätresse des französischen Präsidenten Félix Faure auf anstößige Weise in dessen plötzlichen Herztod verwickelt gewesen. Begleitet von großer öffentlicher Schaulust wurde Marguerite Steinheil der Prozess gemacht, der überraschend mit einem Freispruch endete.
Die Steinheils hatten eine Villa am Ende der Impasse Ronsin bewohnt, obwohl die kleine Sackgasse nahe dem Montparnasse keine besonders gutbürgerliche Gegend war. Seit den 1870er-Jahren entstanden dort Künstlerquartiere meist ohne jeglichen Komfort. Als eigentlicher Gründer dieser noch lange Zeit sehr ländlich anmutenden Ateliersiedlung wird heute der 1900 auf der Weltausstellung mit einem „Grand Prix“ ausgezeichnete Bildhauer Alfred Boucher angesehen, der für seine monumentalen Skulpturen dort planmäßig Werkstätten und Hilfskräfte ansiedelte. Überschüssigen Raum vermietete er gern an junge Bohemiens wie den texanischen Salonmaler Stephen Seymour Thomas, der 1892 auf einem Gemälde hier sein „erstes Studio in Paris“ verewigte.
Die Ausstellung „Impasse Ronsin. Mord, Liebe und Kunst im Herzen von Paris“ im Museum Tinguely in Basel erzählt auf originelle Weise die Geschichte dieser Straße. Dabei geht man nicht chronologisch, sondern topologisch vor. Zwanzig Studioräume wurden eingerichtet, die sich an der tatsächlichen Anordnung und den jeweiligen Nutzern der Ateliers orientieren. Dadurch entstehen reizvolle Konstellationen. Werke von großen Namen der Kunstgeschichte treffen auf solche von längst vergessenen Künstlern, Stile mischen sich wild, Glanz und Elend liegen dicht beieinander.
Der bedeutendste Künstler der Impasse Ronsin war Constantin Brâncuși. Von 1916 bis zu seinem Tod 1957 hatte er sein Atelier in der Nummer 8. Dort schuf er seine archaisch-abstrakten, von der rumänischen Volkskunst inspirierten Skulpturen und seine glatt polierten Material-Essenzen. Es war das ländliche Leben in der Gasse, das Brâncuși anzog, und die vom handwerklichen Können abgeleitete Kunstproduktion. Sein Atelier inszenierte er als eine Mischung aus Arbeits- und Ausstellungsraum, was seine Sammler faszinierte, aber auch Bewunderer wie Isamu Noguchi, der extra nach Paris kam, um sein Schüler zu werden. Hier, bei diesem bärtigen Genie, war noch etwas von der Urkraft der Kunst zu spüren, sein Umgang mit Stein und Holz schien aus anderen Zeiten zu stammen und war zugleich extrem modern. Trotz seines Ruhms blieb Brâncuși in der Impasse künstlerisch ein Außenseiter. Die meisten Künstler waren keine Avantgardisten, sondern arbeiteten konventionell. Und manche taten beides, wie der Pole Henryk Berlewi, der seine Miete in den 1940er-Jahren mit gefälligen Porträts verdiente, mit seinen geometrischen Experimenten aber zugleich zum Mitbegründer der Op-Art wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte eine junge Generation die Impasse mit ihren billigen Lebensmöglichkeiten neu für sich. Jean Tinguely bezog 1955 mit seiner Frau Eva Aeppli ein Atelier und bildete mit Yves Klein und Niki de Saint Phalle, die hier mit ihren Schießbildern den Durchbruch feierte, schon bald ein eigenes Kraftzentrum. In ihrer Nachbarschaft begannen die Lalannes, an ihren hybriden Tierskulpturen zu arbeiten. Und selbst etablierte Künstler wie Max Ernst oder Jasper Johns verfielen, zumindest zeitweise, der Magie des kreativen Orts. Vielfältige Beziehungen ergaben sich auf diese Weise, Kollaborationen, Liebeleien, aber auch Konflikte, die die Ausstellung anschaulich erzählt.
Das Ende der Impasse Ronsin kam dann recht unspektakulär. Das benachbarte Necker-Hospital beanspruchte ab den 1960er-Jahren immer mehr Platz, 1971 räumte der letzte Künstler sein Quartier. Und so verschwand unwiederbringlich ein Stück Pariser Kunstgeschichte, das nun in Basel für kurze Zeit wiederauflebt.
„Impasse Ronsin“
Museum Tinguely, Basel
bis 29. August 2021
Tinguely@Home
Onlineführung durch die Ausstellung sowie viele weitere Videos zu Jean Tinguelys Kunst und der Sammlung des Museums