Beuys 2021

Konstante Veränderung

Der große Ausstellungsreigen zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys hat begonnen. Dabei wird schnell offensichtlich: Sein größtes Kunstwerk war er selbst

Von Ulrich Clewing
09.04.2021

Er war der König und der Hofnarr, Schamane und Scharlatan, gesetzestreu und gesetzlos, Professor und Student, Redner und Taubstummer, Prophet und Hanswurst – alles in einer Person. Und diese Liste, die der belgische, heute in New York lebende Kunst­theoretiker Thierry de Duve vor mehr als 30 Jahren in seinem Aufsatz „Der letzte Proletarier“ veröffentlichte, ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Sie zeigt vor allem eines: Joseph Beuys, 1921 in Krefeld geboren, 1986 in Düsseldorf gestorben, war schwer zu fassen.

Im Rheinland, wo man ihm so viel verdankte, nannte man ihn – und das nur halb im Scherz – irgendwann bloß noch „den heiligen Jupp“. Andere hielten ihn eher für den Antichristen. Bei einer seiner Aktionen schlug ihm ein Zuschauer auf der Bühne die Nase blutig. Mit seiner Kunst brachte er die Volksseele, vertreten durch die Boulevardpresse, regelmäßig zum Kochen. Und die Reaktionen in den Feuilletons der angesehenen, überregionalen Zeitungen fielen lange nur unwesentlich freundlicher aus. Als in seinem alten Atelier in der Düsseldorfer Kunstakademie, das Beuys auf Anordnung des damaligen Wissenschaftsministers und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau 1972 hatte räumen müssen, beim Großreinemachen ein paar Jahre danach eine der seinerzeit noch nicht ganz so berühmten Fettecken verschwand: Da setzte es Häme und Schadenfreude von allen Seiten.

Die Unfassbarkeit des Joseph Beuys – es scheint, als habe sie in einem übertragenen, elementaren Sinn zu ihm und seiner Kunst gehört, und das ganz grundsätzlich. Das fängt schon damit an, dass man nicht so genau sagen kann, wann seine künstlerische Karriere eigentlich begonnen hat. Beuys selbst verlegte diesen Anfang auf den Zeitpunkt, als er als junger Jagdflieger am Ende des Zweiten Weltkrieges über der Krim abgeschossen wird und sich zu nomadisierenden Tataren retten kann. Die Tataren pflegten ihn gesund, indem sie ihn mit Fett einrieben und in wärmende Filzdecken wickelten. Fett und Filz sollten in seinem Schaffen als Ma­terialien noch eine große Rolle spielen. Das Problem ist nur, dass die Geschichte mit den Tataren nicht stimmt. Beuys wurde 1944 nicht „abgeschossen“, der Pilot legte eine Bruchlandung hin, und er – der Bordfunker – wurde in ein normales Lazarett eingeliefert.

Als dies Jahre nach seinem Tod allmählich herauskam, war der nächste Skandal fällig. Übersehen wurde dabei, dass diese erfundene biografische Erzählung Teil einer Selbstermächtigung und Neuerfindung war, die untrennbar mit seinem Schaffen verknüpft ist und ihn zu dem einflussreichsten deutschen Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte. Auf einer theoretischen Ebene ging es Beuys um konstante Veränderung, Umdeutung, Reflexion und Neujustierung von Ideen. Dieses prozesshafte Fortschreiten und sich Entwickeln war eines der zentralen Merkmale der Kunst von Joseph Beuys.

Um sich damit in der gesellschaftlich erstarrten, die eigene Schuld an den Gräueln der NS-Herrschaft leugnenden Nach­kriegszeit Gehör zu verschaffen, musste er fast zwangsläufig zum Agitator und Geschichtenerzähler werden, das war ihm schon früh klar geworden. Warum sollte er, quasi als lebendes Beispiel dafür, dass ein Umdenken und Abschied von alten zerstörerischen Ideologien möglich war, dann eine solch wundersame Wendung als Erweckungserlebnis nicht auch in die eigene Biografie einführen?

In der Praxis bedeutete es, dass Beuys unablässig Grenzen überschritt. Auf der Documenta 5 lieferte er sich mit Abraham David Christian-Moebuss einen öffentlichen Boxkampf „für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“. Für seine Installationen und Environments benutzte er neben dem schon erwähnten Fett und Filz alle möglichen Gegenstände und Artefakte: von Konservendosen, Margarine, Bernburger Salz und anderen DDR-Produkten (für seine Installation „Wirtschaftswerte“) über Tische, Stühle, Autos bis hin zu Eisenbahnschienen (in dem Environment „Straßenbahnhaltestelle“).

Beuys studierte ab 1946 Bildhauerei an der Kunstaka­demie Düsseldorf und wurde dort 1951 Meisterschüler von Ewald Mataré, einem gemäßigten Modernen zwischen Figürlichkeit und Abstraktion, der sich vor allem im Bereich der religiösen Kunst Verdienste erworben hatte. Mitte der Fünfzigerjahre erleidet Beuys künstlerisch und persönlich eine Krise. Sie gipfelt in einem Selbstmordversuch, der scheitert, danach kommt er eine

Zeit lang bei den Brüdern Hans und Franz Joseph van der Grinten unter, den Söhnen eines Großbauern aus Kranenburg in der Nähe von Kleve, die zu bedeutenden Sammlern seiner Werke werden sollten. 1957 beteiligt er sich vergeblich an dem Wettbewerb für ein Mahnmal für Auschwitz, und erste Zeichnungen und Aqua­relle entstehen: bezaubernde, aber auch rätselhafte kleine Arbeiten sind das, die Teile von Umrissen menschlicher Figuren zeigen und Tiere, vor allem Hirsche, oft versehrt, zum Beispiel mit nur drei Läufen anstatt vieren. So fügen sich nach und nach die Dinge. Gegen den Widerstand seines einstigen Förderers Mataré erhält er 1961 eine Professur an der Kunst­akademie, ironischer­weise den Lehrstuhl für „Monumentale Bildhauerei“. Die Ironie liegt darin, dass Beuys sich zwar als engagierter Lehrer erweist, aber bald alles andere macht als klassische Bildhauerei. 1962 hatten in Wiesbaden die „Festspiele neuester Musik“ stattgefunden, die seitdem als Initialzün­dung der Fluxus-Bewegung auf europäischem Boden gelten. Mit dem Medienkunst-Pionier Nam June Paik und Georges Maciunas, dem New Yorker Fluxus-Begründer, organisierte Beuys im Februar 1963 in der Aula der Düsseldorfer Aka­demie deren Nachfolge-Veranstaltung, das „Festum Fluxorum Fluxus“, zu dem er selber erste Aktionen beisteuert.

Im Jahr darauf wird er zum ersten Mal auf die Documenta nach Kassel eingeladen, eine der wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der westlichen Welt. Noch weitere fünf Male wird er daran teilnehmen, so oft wie keine andere Künstlerin, kein anderer Künstler. Gut zwei Jahre später kommt es dann in der Avantgarde-Galerie von Alfred Schmela in Düsseldorf bei der Eröffnung seiner ersten Schau in einer kommerziellen Galerie am 26. November 1965 zu einem denkwürdigen Auftritt. Beuys befindet sich allein in dem abgeschlossenen Raum und schreitet langsam, das Gesicht vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, mit einem toten Hasen auf dem Arm von Werk zu Werk, während die Vernissage-Besucher draußen vor dem Schaufenster warten.

Die Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ ist als Kritik am Unverständnis des Publikums gegenüber der zeitgenössischen Kunst im Allgemeinen und Beuys’ Schaffen im Speziellen gedacht – und natürlich eine Provokation. Sie ist aber auch Teil dessen, was ein paar Jahre später als Beuys’scher „Erweiterter Kunstbegriff“ die Runde machen wird. Es geht ihm, wie jedem Menschen und vor allem jedem Künstler, um Anerkennung. Ihm geht es aber auch um geistige Bewegung, das Zusammenleben in einer von ihm als zu statisch empfundenen bürgerlichen Gesellschaft, um Veränderung und Fortschritt. Im Erweiterten Kunstbegriff nimmt die Vorstellung von der „sozialen Plastik“ eine zentrale Funktion ein, der sensationelle, positive, Aufbruch verheißende und so oft missverstandene Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ fällt.

Dahinter verbirgt sich die Idee, dass es für ihn des Zusammenwirkens aller bedarf, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Beuys will als Künstler nicht nur Entertainer sein oder Lieferant von Gemälden und Skulpturen, die, von einem Genie geschaffen, den minder begabten Betrachterinnen und Betrachtern zur gefälligen Adoration anheimgegeben werden. Beuys will, als Mann von Mitte vierzig, was die weniger als halb so alten Studentinnen und Studenten von 1968 wollen: Die Menschen aufwecken.

Dazu arbeitet er sich ab, an der Gegenwart und an der Vergangenheit. Und er arbeitet sich auf dabei. Eine seiner wichtigsten Installationen, bestehend aus einem Krankenhausbett und einer Schultafel mit Schrift darauf, die im Lenbachhaus in München verwahrt wird, heißt „Zeige deine Wunde“. Beuys kann und will nicht vergessen. Und genauso wenig will er, dass es die anderen können.

Ein alter VW-Bus, der zwei Dutzend Holzschlitten mit Filzmatten und Scheinwerfern hinter sich herzuziehen scheint, trägt den Titel „Das Rudel“. Er setzt sich für Basisdemokratie ein, 1972 startet er nach den traditionellen 1.-Mai-Demonstrationen auf dem Karl-Marx-Platz in Berlin-Neukölln die Aktion „Ausfegen“ und sammelt, was als Müll von der Demo übrig ist, in Plastiksäcken. Der Film, der dazu gedreht wurde, ist 26 Minuten lang und gehört inzwischen zur Sammlung des Centre Pompidou in Paris. Bloß neue Symbole zu finden und in den Kunstkanon einzuführen interessiert ihn nicht. Er möchte die Menschen tatsächlich zum Nachdenken bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, redet Beuys, so scheint es, unablässig. Hält Vorträge. Gehört zu den Begründern der Partei Die Grünen. Spricht sogar mit Rechten, Rechtsradikalen und Alt-Nazis, was ihm später etliche vorwerfen, zuletzt der Autor und Schüler des Malers Jörg Immendorff (der seinerseits ein Beuys-Schüler war) Hans Peter Riegel in seiner viel beachteten Beuys-Biografie von 2013. Doch für ihn ist das im Gespräch sein, im Gespräch bleiben nur ein weiteres Merk­mal seines Erweiterten Kunstbegriffs.

Im selben Jahr, als die Aktion „Ausfegen“ in Berlin über die Bühne ging, wird er aus seiner Professur an der Kunstakademie Düsseldorf entlassen. Zuvor hatte er allen, deren Bewerbung um einen Studienplatz abgewiesen worden war, garantiert, dass er sie in seiner Klasse aufnehme. Das waren mehr als 400 junge Leute, und als die Hochschulleitung einschritt, besetzte er mit ein paar von ihnen das Sekretariat. Damit macht man sich selbstverständlich nicht nur Freunde. Ein Prozess vor dem Arbeitsgericht folgte, er dauerte acht Jahre. Irgendwann einmal sagte Beuys, sein ganzes Leben sei „Werbung“ gewesen, „aber man sollte sich einmal dafür interessieren, wofür ich geworben habe“ – das klingt nicht nach Rechtfertigung, sondern nach Resignation. Joseph Beuys, der heilige Jupp und Schmerzensmann.

Es ist die Zeit, in der auch die Bild-Zeitung, gesteigerter Nachdenklichkeit traditionell eher unverdächtig, über Beuys berichtet. Nicht immer schmeichelhaft, schließlich gilt er selbst bei so manchen Künstlerkollegen als Großmaul, Heuchler und Betrüger. In den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren ist er bekannter als Andy Warhol, mit dem er sich öfter trifft, ein Popstar der Kunst, im immergleichen Outfit mit Hut und Anglerweste und bodenlangen, innen pelzgefütterten Mänteln sein eigenes Markenzeichen.

Seine Aktionen und Installationen werden nun immer größer, ihr Ton schriller, auch dräu­ender: „Blitzschlag mit Hirsch“ nennt sich eine, „Richtkräfte“ eine andere. Für die Arbeit „I like America and America likes me“ verbrachte er, in einen Filz-Umhang gewickelt, 1974 mehrere Tage allein mit dem Kojoten Little John – Sinnbild für die verdrängte Geschichte des Landes vor der Kolonialisierung durch die Weißen – in der New Yorker Galerie von René Block. Für den Weg vom und zurück zum Flughafen benutzte er, wieder vollständig in Filz gehüllt, einen Ambulanzwagen, damit er nichts vom heutigen Amerika zu sehen bekam außer den Steppenwolf. Später pries er die „spirituelle Erfahrung“, die er bei seiner Begegnung mit Little John in der Galerie gemacht habe.

In Kassel erregt er 1982 auf der Documenta 7 Aufsehen mit dem Werk „7000 Eichen/Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“. 7000 Bäume sollen dafür gepflanzt werden, auf dem Platz vor dem Fridericianum hat Beuys zusätzlich dieselbe Anzahl Basaltblöcke aufschütten lassen, in Form eines monumentalen Keils. Jeder, der 500 Mark spendet, erhält dafür das Recht, einen dieser Steine zu entfer­nen, an anderer Stelle in der Stadt wieder in den Boden zu rammen und daneben einen Baum zu pflanzen.

Um dafür zu werben, werden großformatige Plakate geklebt, Beuys selber macht in Japan Werbung für Whisky und nimmt damit 400.000 Mark ein, die er in die Aktion steckt. Und er kann auch nerven, nennt die Bäume „entrechtete Subjekte“, die „genau wissen, dass sie entrechtet sind“. In einem Interview sagt er: „Tiere, Bäume, alles ist entrechtet. Ich will diese Tiere und diese Bäume rechtsfähig machen.“ Fünf Jahre gehen ins Land, bis die Aktion für erfolgreich abgeschlossen erklärt wird – 1987, pünktlich zur Eröffnung der nächsten Documenta, der Documenta 8. Am Ende war sie mit Kosten in Höhe von 4,3 Millionen D-Mark nicht nur eine der bis dahin teuersten, sondern auch umfangreichsten Kunstaktionen in Deutschland. Beuys erlebt dies nicht mehr, er stirbt am 23. Januar 1986 in Düsseldorf an den Folgen einer Lungenentzündung. Zu den besten Kennern von Beuys’ Werk zählen Catherine Nichols und Eugen Blume, beide lange Jahre Kuratoren am Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof in Berlin. Sie sind die künstlerischen Leiter von „Beuys 2021“, einer großangelegten Veranstaltungsreihe mit gut einem Dutzend Ausstellungen, Theateraufführungen, Gesprächsrunden und Podcasts, die im kommenden Jahr anlässlich dessen 100. Geburtstags im gesamten Bundesland Nordrhein-Westfalen geplant sind. Bei dem noch immer stetig wachsenden Programm soll es laut Nichols und Blume in erster Linie darum gehen, ob und wenn ja wie aktuell Beuys heute noch immer ist.

Die zwei Wissenschaftler sind überzeugt, dass Beuys einer der letzten Künstler war, die es „nach dem Scheitern der großen Utopien“ gewagt hatten, Vorstellungen zu entwickeln, „wie man die Gesellschaft im Ganzen verändern“ könne. Deshalb wird bei „Beuys 2021“ nicht die kunstgeschichtliche Einordnung seines Werkes im Vordergrund stehen, die Organisatoren wollen sich auf das „viel gewagtere Gebiet seiner Ideen“ begeben. „Indem er in seinem Schaffen Themen wie Ökologie, Feminismus und das Verhältnis von Kapital und Kapitalismus ansprach, hat er auf jeden Fall die richtigen Fragen gestellt“, sagt Nichols. „Das Ganze ist nicht als Hagiografie gedacht“, ergänzt Eugen Blume, „wir gehören nicht zu den Leuten, die aus Beuys einen Heiligen machen möchten.“ So sollen neben den Befürwortern auch Kritiker von Joseph Beuys zu Wort kommen, unter anderem ist ein Podcast in Vor­bereitung, der sich „100 Stimmen zu Beuys“ nennt. Das ist nur fair: Schließlich war Beuys auf der Documenta 5 nicht nur mit Abraham David Christian-Moebuss in den Boxring gestiegen. Er hatte auch 100 Tage lang geredet – er war damals während der gesamten Laufzeit der Ausstellung in Kassel zugegen, um mit den Besuchern zu disku­tieren und sich den Fragen des Publikums zu stellen.

Service

BEUYS 2021

Staatsgalerie Stuttgart
Joseph Beuys. Der Raumkurator
26. März bis 18. Juli 2021

K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
„Jeder Mensch ist ein Künstler“ Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys
27. März bis 15. August 2021

Museum Morsbroich
Der Katalysator. Joseph Beuys und Demokratie heute
2. Mai bis 29. August 2021

Einen Überblick über alle Ausstellungen und Veranstaltungen zu Beuys 2021 gibt es hier

Zur Startseite