Das Berliner Gallery Weekend startet mit einer hybriden Form aus offenen Galerien und digitaler Schau. Wir haben fünf Ausstellungen ausgewählt, die sich lohnen
Von
28.04.2021
Die neuen, großen Druckgrafiken von Julie Mehretu die nun beim Berliner Gallery Weekend in der Borch Gallery zu sehen sind, erinnern an Höhlenmalerei und an Graffiti – sie wirken gleichzeitig uralt und sehr gegenwärtig. 2019 und 2020 erlebte die New Yorker Künstlerin, die als kleines Kind von Äthiopien in die USA kam, Chaos und Zerfall, das Erstarken faschistischer Strömungen und die beginnende Pandemie. Verzerrte Nachrichtenbilder von Demonstrationen gegen Einwanderer kombiniert sie mit kalligrafisch anmutenden Zeichen. Wie es auch ihrer Technik, Heliogravüre und Tiefdruckverfahren, entspricht, kommen inhaltlich viele Schichten zusammen: „Slouching Towards Bethlehem“ heißt die Ausstellung. Das Zitat aus einem Gedicht von William Butler Yeats von 1919 über den Zerfall der Welt nach dem Ersten Weltkrieg wählte Joan Didion ein halbes Jahrhundert später für eine Sammlung von Aufsätzen aus, die sie in den späten Sechzigerjahren über die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen in San Francisco schrieb. Ein halbes Jahrhundert später greift Julie Mehretu es nun auf. Wie Yeats verweist sie auf die Bibel: In Anspielung auf das Buch mit sieben Siegeln in der Apokalypse heißen ihre Bilder „First Seal“, „Second Seal“ und so weiter: nervöse Tänze voller Schönheit, voll Dringlichkeit und dunkler Vorahnungen. Lisa Zeitz
Zum ersten Mal fiel Gerrit Frohne-Brinkmann während der Art Cologne 2016 auf. Der junge Künstler war Kandidat der „New Positions“-Sektion mit einer Soloschau. Und wer davor stand, der wähnte sich in einem Horrorfilm: An den Wänden seiner Koje lehnten vereinzelt oder in kleinen Gruppen lebensgroße Puppen, die wie Mumien aussahen. Still vertrocknet, die letzten Menschen auf diesem Planeten, dem das Wasser ausgegangen ist. Tatsächlich hat Frohne-Brinkmann, Jahrgang 1990 und bis 2015 Student an der Kunstakademie in Hamburg, ein Faible für Relikte wie für Requisiten. Was er daraus macht, wie er Archaisches mit Elementen der zeitgenössischen Unterhaltungskultur verlinkt, wird man in der Galerie Noah Klink sehen können. „I love you“, das klingt schon einmal vielversprechend. Der Ausstellungstitel erinnert sowohl an den Film „You’ve Got Mail“ von 1998, als elektronisches Liebesgeplänkel noch die Ausnahme war, als auch an den Virus selben Namens, der im Mai 2000 weltweit Windows-Rechner infizierte. Frohne-Brinkmann kehrt in jene Zeit zurück und konstruiert PC-Tower, die er noch einmal mit dem Wurm infiziert. Das Ergebnis ist ein schwer liebeskrankes System. Christiane Meixner
Die Arbeiten der 1980 in Seoul geborenen Künstlerin überwinden Grenzen: die zwischen Performance, Tanz und bildender Kunst, die zwischen Menschen und Maschinen. In ihrer großen Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel 2019 entfaltete Geumhyung Jeong ein seltsames, erotisches Spiel zwischen von ihr aus künstlichen Gliedern, Rollen und Metallstreben gebastelten Maschinen und ihrem eigenen, über den Boden kriechenden nackten Körper. „Die mit dem Roboter tanzt“ titelte damals die Badische Zeitung über ihr Gesamtkunstwerk aus Filmen, Happening und Installation. In der Galerie Klemm’s präsentiert sie nun eine Weiterentwicklung ihrer Mensch-Maschine-Schau, die den zunehmenden Einfluss von Technologie in unserem Alltag ebenso lustvoll bejaht, wie sie die dystopischen Aspekte reflektiert, die die Maschinenästhetik schon seit dem frühen 20. Jahrhundert begleiten. „Ich sehe mich selbst als Puppenspielerin“, sagt Geumhyung Jeong. Man darf gespannt sein. Simone Sondermann
Eine Einladung zu einer Reise will die Ausstellung bei Esther Schipper sein, die einen großen historischen und geografischen Bogen spannt und Malerei und Collagen aus fast hundert Jahren zeigt – ausschließlich von Künstlerinnen. Der Titel stammt von einem Gedicht aus Charles Baudelaires „Les fleurs du mal“ und verweist auf das Reich der Fantasie: Wir landen beim Betrachten unter einem üppigen Pfirsichbaum an einem grünen Ufer in Yeesookyung Malerei „Past Life Regression Painting – Two Different Possibilities“ von 2016, bei Isa Melsheimer in menschenleeren Räumen, die sie 2020 in einer Gouache festhielt, und treffen in Paula Regos vielfiguriger Szene „Caritas“ von 1993 auf wuselige menschliche Interaktionen. Wie im Traum erscheinen Almut Heises Schaufensterpuppe ohne Arme im Abendkleid und Leiko Ikemuras schlafende Wesen in bergiger Landschaft. Hannah Höch ist mit einer aquarellierten Collage vertreten: „Aus einem Ethnographischen Museum“ von 1926–29. Die zwei Kreaturen, zusammengesetzt aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte, scheinen die Grenzen zwischen Mann und Frau, Alt und Neu, Afrika und Europa spielerisch überwunden zu haben. Lisa Zeitz
Gilbert & George lieben die Stadt. Bei urbanen Streifzügen entdeckte Elemente wie Graffiti, Drogenkanülen oder Flyer tauchen häufig in ihren Bildern auf. Zudem schätzt das Londoner Künstlerduo die Annehmlichkeiten der Metropole wie gute Schneider oder Curryrestaurants. Man muss ein Kenner des Gesamtwerks sein, um zu wissen, dass sich Gilbert & George gelegentlich auch aufs Land gewagt haben („The Nature of Our Looking“, 1970), meist im Sinne einer absurden Exkursion in gebügelten Anzügen. Interessant dürfte die Ausstellung in der Galerie Sprüth Magers werden. Im Zyklus „Paradisical Pictures“ von 2019 gehen die beiden Künstler gänzlich in der Natur auf, tarnen sich in sattem Grün („Lichen Days“) oder lassen sich von Lianen umgarnen („Tender“). Überall sprießt es, Dattelkerne tauchen als phallisches Fruchtbarkeitssymbol auf, etwas ungelenk tänzeln Gilbert & George durch den libidinösen Dschungel. Am Ende sinken sie ermattet auf eine Bank („On the bench“). Die Verschnaufpause sei den distinguierten Kunsttabubrechern gegönnt. Tim Ackermann
Gallery Weekend Berlin,
30. April bis 2. Mai 2021
Das komplette, aktualisierte Programm gibt es unter