Am 4. Juni eröffnet ein neues Museum für die Kunst der Gegenwart: das Kunsthaus Göttingen. Es verdankt seine Existenz dem berühmten Verleger Gerhard Steidl. Ein Interview mit dem Gründungsdirektor
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27.05.2021
Herr Steidl, wie ist die Idee zum Kunsthaus Göttingen geboren?
In Wahrheit im Jahr 1970 – ich muss ein bisschen ausholen – da gab es einen Kulturdezernenten, Konrad Schilling. Mit ihm zusammen hatte ich die Idee, ein Haus für zeitgenössische Kunst im Stadtzentrum zu bauen, denn zu der Zeit gab es eine Innenstadtkrise, die Stadtverwaltung begann in der Innenstadt alte Häuser abzureißen und dafür Betonklötze hinzusetzen, in denen Karstadt Sport oder später dann ein H&M war. Dagegen haben wir uns gewehrt und gefragt: Warum muss in der Innenstadt eigentlich alles für Konsumtempel reserviert sein? Kann man nicht auch ein Ausstellungsgebäude mitten im Stadtzentrum haben? Göttingen hatte zu dem Zeitpunkt kein Ausstellungshaus, weder eine Galerie für bildenden Kunst, nur ein Heimatmuseum, ein Stadtmuseum. Wenn man Kunst zeigen wollte, musste man ins alte Rathaus gehen und bekam dann ein paar krumme Räume mit krummen Decken. Da hatten wir diese Idee. Wir veranstalteten dafür 1971 einen Kongress mit dem kühnen Titel „Die Kunst eine Stadt zu bauen“ und luden Stadtplaner aus der ganzen Bundesrepublik ein, ich im zarten Alter von 21 Jahren, und Konrad Schilling war schon etwas älter.
Aus dieser Initiative hat sich das Museum entwickelt?
Es hat tatsächlich fünfzig Jahre gedauert, bis das Haus realisiert werden konnte. Dazwischen haben wir mit wechselnden Mehrheiten gekämpft, mal mit dem SPD-Stadtrat, mal mit dem CDU-Stadtrat und verschiedenen Koalitionen, eine war dafür, eine war dagegen. Vor ungefähr zwölf Jahren hat es dann bei einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister gefunkt, der sagte, das sei wirklich eine fantastische Idee. Wenn ich heute die Einkaufsstraßen in der Innenstadt entlanggehe, dann sind ungefähr dreißig Prozent der Läden kaputt. Die Idee, die wir damals hatten, mit einer Kultureinrichtung ins Stadtzentrum zu gehen, ist so neu und aktuell wie eh und je.
Welche Qualitäten schätzen sie an einem Museum?
Funktionalität. Das beginnt damit, dass das Einbringen von Ausstellungsgütern ganz einfach sein muss. Bei uns ist es so, dass wir von der Straße nur fünf Meter bis zu einem sehr großen Fahrstuhl haben, in dem tatsächlich alle Formate, die wir jemals aufhängen können, hereinpassen. Das ganz Ausstellungsgut, das man braucht, um es zu hängen, ist in 1 ½ Stunden im Haus. Außerdem Klima und Ventilation. Wir haben eine hochmoderne und energiesparende Klimatechnik. Die Klimaanlage bläst keine kalte Luft in die Räume, sondern es ist ein Kälte-Akkusystem, das ohne jegliche Ventilation arbeitet. Die sehr exakte Luftreinigung ist in Corona-Zeiten besonders wichtig. Und ein hervorragendes Licht. Es ist das mordernste, was im Moment am Markt ist. Man kann alle Scheinwerfer einzeln anfahren, dimmen, in der Farbtemperatur ändern, und das Ganze von einem IPad aus, man muss nicht mehr kriechen um das einzustellen.
Welchen Medien werden sich die geplanten Ausstellungen widmen?
Das Haus heißt Kunsthaus Göttingen. Der Untertitel ist „Arbeiten auf Papier“, Works on Paper. Das ist definiert: Fotografie, Zeichnungen, Plakate, Druckgrafik, Bücher und neue Medien – Projektionen, Videos und weiter. Definitiv keine Skulpturen, wir wollen auch keine Malerei hereinbringen, weil wir die Versicherungswerte nicht bezahlen wollen und können, und die Arbeiten auf Papier in diesem Spektrum so spannend sind, da kommen wir an beste Qualitäten von Künstlern aus aller Welt heran. Durch meine Kontakte können wir über zehn Jahre mindestens ein erstklassiges Ausstellungsprogramm machen.
Entspricht die Architektur Ihrer Vision?
Bauherrin dieses Gebäudes ist die Stadtverwaltung, die einen Architekturwettbewerb ausgeschrieben hat. Die Ideen dazu habe ich gegeben, und ein sehr sensibler Architekt aus Leipzig hat das umgesetzt, das Architekturstudio Atelier ST. Der Entwurf hat den zweiten Preis gewonnen, der erste war zwar von der Fassade interessanter, aber dieser Entwurf ging sehr effizient mit dem Grundstück um. Es liegt zwischen zwei alten Häusern, rechts das Haus mit dem Günter-Grass-Archiv stammt aus dem Jahr 1307, und das Haus links daneben wurde 1514 gebaut. Dazwischen war eine Baulücke, die mir mal gehörte. Dahinein haben wir dieses Gebäude gequetscht und sehr sensibel Zitate aufgegriffen. Das Grundstück ist zu 100 % bebaut, so haben wir aus einem kleinen Grundstück eine Ausstellungsfläche von 450 Quadratmeter auf drei Etagen gezogen, hinzu kommt ein Veranstaltungsraum mit 100 Quadratmetern.
Was ist das für ein Pavillon hinter dem Kunsthaus?
Jim Dines „House of Words.“ Den Pavillon haben wir in einem Gartengrundstück gebaut, das ein kleiner Park werden wird, für Eltern und Kinder, die dort in der Innenstadt spielen wollen, oder um einen Kaffee oder ein Bier zu trinken. Da gibt es auch einen Buchladen, der uns gehört. Im vergangenen August war Jim Dine für vierzehn Tage hier und hat die Wandmalereien angebracht und die Skulpturen positioniert, die er aus 400 Jahre altem Red Oak-Holz geschnitzt hat. Auf Englisch heißt es site-specific installation, speziell für diesen Raum gemacht und fest mit dem Raum verbunden. Das Ganze ist eine Schenkung an die Stadt Göttingen.
Wenn das Kunsthaus Göttingen öffnet, wird es auch erstmals die Gelegenheit geben, den Pavillon zu besuchen?
Eigentlich hätten wir schon im Mai eröffnen wollen, aber jetzt planen wir wegen Covid mit Anfang Juni. Es macht keinen Sinn eine Eröffnung zu machen, wenn dann nur drei Leute rein können.
Wie würden Sie die Verbindung zwischen Ihrem Verlag und dem Kunsthaus Göttingen beschreiben?
Ganz sicherlich ist es keine Zweigstelle des Verlags. Mein Verlag ist ein Geschäft, und das Kunsthaus Göttingen ist eine gemeinnützige GmbH. Das Gebäude gehört der Stadt Göttingen, und eine Gruppe von Kunstbegeisterten sind die Betreiber. Die einzige Verbindung, die besteht, ist natürlich, dass in meinem Verlag Künstler aus aller Welt sind, die tagtäglich anreisen und hier arbeiten, und die haben, wie man weiß, stundenlange, manchmal auch tagelange Wartezeiten, bis ich mich wieder dem Projekt widmen kann. Da war meine Idee, dass man sie dann ins Kunsthaus rüberscheucht und dann eine Ausstellung macht. Das haben wir auch mit dem amerikanischen Fotografen Gilles Peress so gemacht, der im vergangenen Jahr für vier Monate in Göttingen war und mit dem ich ein sehr aufwendiges Buchprojekt realisiert habe. Nur so zum Spaß für Gilles und mich entstand die Ausstellung „Testlauf 1: Vom Buch an die Wand“. Wir haben hier ein Buch gedruckt, gedruckte Buchseiten an die Wand gepinnt, collagiert, diese Buchseiten reproduziert, in Acryl-Inkjet auf Riesenleinwandformate gebracht, und eigentlich so ausprobiert, wie man aus einem Buch eine Ausstellung konzipieren kann. Die Idee, dass Künstler sowieso nach Göttingen kommen, um mit mir zu arbeiten und dann zeitgleich und parallel eine Ausstellung zu machen, war eine Initialzündung. Roni Horn – die erste große Ausstellung – zeigt als Multimediakünstlerin programmatisch auf einer Etage Fotografie, auf einer Etage Zeichnungen und auf einer Etage Bücher. Das sind im wesentlichen Steidl-Bücher, weil ich seit 26 Jahren mit ihr zusammenarbeite. Im Moment habe ich drei neue Bücher mit ihr in Arbeit, die dann im Juni zur Ausstellung fertig sind.
Wieviel Einfluss nehmen Sie auf das Programm im Kunsthaus Göttingen?
Ich bin in erster Linie Büchermacher und Drucker und Verleger. Und ein Hobby-Kurator. Mittlerweile mache ich jedes Jahr weltweit ungefähr fünfzig Ausstellungen, mit Lagerfeld-Fotos, mit Robert Frank und so weiter. Das Haus soll ein breiteres Spektrum haben: Die Gründungskuratorin Ute Eskildsen, zuvor stellvertretende Direktorin des Folkwang Museums in Essen, wird in Göttingen pro Jahr ungefähr drei Ausstellungen kuratieren. Als Gastkurator haben wir außerdem Joshua Chuang gewonnen, den Direktor der fotografischen Buchsammlung der New York Public Library, zu deren Schätzen wir mit diesem kleinen Trick also auch Zugang haben.
Sie sind der Göttinger Kunstmagnet.
Man darf nicht vergessen, dass Göttingen nach München die wichtigste Verlagsstadt ist. Es gibt hier sehr viele renommierte Verlage. Wenn man nur an Wallstein denkt, Literatur, das ist eine der ersten Adressen in Deutschland, dann all die wissenschaftlichen Fachverlage. Denken Sie an das Symphonieorchester, die Händel-Festspiele – in Göttingen kommt eine Menge zusammen. Ja, bei bildender Kunst, in aller Bescheidenheit, sind wir vielleicht der Türöffner.