Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmet sich der Documenta im 20. Jahrhundert – und zeigt die dunklen Flecken der Weltkunstschau
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30.07.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 188
Bernhard Heisig nannte es ein „Skandälchen“. Mit ungerührtem Gesicht und verschränkten Armen kommentiert er im Filminterview die Proteste rund um sein Bild „Festung Breslau“ in Kassel: dass so etwas wohl dazugehöre und ganz normal sei. Viel Lärm um nichts quasi. So als stamme er aus einem Land, in dem aufgeregte Diskussionen und politischer Streit um eine Kunstausstellung an der Tagesordnung wären. Dabei war das Gegenteil der Fall. Er kam aus einem Land, das unbequeme Frager in der Regel mundtot machte. Dass Heisig in Kassel saß und zu seiner Kunst befragt wurde, war etwas absolut Außergewöhnliches. Sein Versuch, das hinter einer Fassade von Sachlichkeit herunterzuspielen, änderte daran nichts.
Der Leiter der Documenta, Manfred Schneckenburger, hatte für die sechste Ausgabe der Weltkunstschau 1977 entschieden, erstmals Maler aus der DDR einzuladen. Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte, Werner Tübke und Bernhard Heisig sollten die realistische Kunstauffassung des sozialistischen Nachbarlandes der westlichen Weltöffentlichkeit nahebringen. Damit gab die d6 zeitlich versetzt eine Antwort auf den politischen Zeitgeist der neuen Ostpolitik Willy Brandts, die unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ eine Art Normalisierung im Verhältnis der beiden deutschen Staaten eingeleitet hatte. Dass die politische Wirklichkeit dennoch spannungsvoll und unversöhnt blieb, zeigte auch die Documenta. Die Künstler Markus Lüpertz und Georg Baselitz, beide in Gebieten des späteren Ostblocks geboren, zogen ihre eigenen Werke aus Protest gegen die Einladung der DDR-Staatskünstler zurück, die aus ihrer Sicht „Vertreter traditioneller deutscher Intoleranz“ waren. Auch die Nähe der Bilder des Dresdner Dissidenten A. R. Penck zu denen des Präsidenten des Verbands bildender Künstler der DDR, Willi Sitte, wurde vom Künstler wie von seinem Galeristen Wolfgang Werner als inakzeptabel empfunden.
Die Documenta als Austragungsort politischer Konflikte, Spielball politischer Interessen ist das Thema einer großen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Ein mehrköpfiges Team aus Kuratorinnen und Kuratoren untersuchte dabei die Documenta 1 bis 10, also die Jahre 1955 bis 1997. Schon 2019 widmete das Museum auf Initiative des Direktors Raphael Gross dem Thema ein Symposium, dessen Ergebnisse in die aktuelle Ausstellung einflossen. Die größte Sprengkraft der Schau liegt in den Anfangsjahren, dem Gründungsmythos von Kassel. Alle Konflikte des Kalten Krieges erscheinen vor diesem Hintergrund wie ein Nachhall.
Die Kuratorin Julia Voss, die den ersten Teil über die Anfangsjahre in Kassel betreut, hat dabei Erstaunliches und auch Erschütterndes über einen der beiden Väter der Documenta, Werner Haftmann, ausgebreitet. Der Antikommunist Haftmann war nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern während des Krieges an Folter und Erschießungen von Partisanen beteiligt. Voss konnte dabei auf neue Erkenntnisse des Historikers Carlo Gentile zurückgreifen, der unter anderem herausfand, dass Haftmann in Italien als Kriegsverbrecher gesucht wurde, sich einem Gerichtsprozess aber erfolgreich entziehen konnte.
Wie dies mit dem modernen, emanzipatorischen Anspruch der Documenta zu vereinbaren oder eben auch nicht zu vereinbaren ist, wird zur zentralen Fragestellung der Ausstellung im DHM. Haftmann, der als Biograf von Emil Nolde dessen geistige Nähe zum NS-Regime kaschierte und so wesentlich zu dessen Weißwaschung in der BRD beitrug, schrieb mit der Documenta, so Julia Voss, eine „Kunstgeschichte der Überlebenden“. Jüdische Künstlerinnen und Künstler wurden nicht gezeigt, genauer gesagt keine, die der Verfolgung und Ermordung durch die Nazis zum Opfer gefallen sind. Ihr Platz in der Moderne blieb gelöscht. In der Berliner Ausstellung sind einige ihrer Werke zu sehen, etwa von Rudolf Levy, den Haftmann in Italien sogar kennengelernt hatte und der 1944 auf einem Transport nach Auschwitz starb. Dies steht in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass Haftmann wie sein politisch unbelasteter Mitstreiter Arnold Bode Künstlerinnen und Künstler in den ersten Documentas präsentierten, die im „Dritten Reich“ verfemt waren, und so zu deren Rehabilitierung beitrugen. Der russische Jude Marc Chagall etwa wurde auf der Documenta 1 umfassend gewürdigt, und im Café der Documenta hingen 1955 Grafiken von Picasso – vor einem Publikum, das sich nur zehn Jahre zuvor noch als Teil des völkischen Nazideutschlands verstanden hatte. Vor allem die Abstraktion hatte es Haftmann in der Folge angetan, ihr konnte er seine Vorstellung einer „reinen“, von allem Politisch-Gesellschaftlichen unbelasteten Kunstvorstellung überstülpen. Der Siegeszug des Informel in den 1950er-Jahren ist somit auch ihm zu verdanken.
Die Ausstellung berührt zentrale Fragen zur Kunst- und Kulturgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegszeit, zumal Haftmann später für viele Jahre Direktor der Neuen Nationalgalerie in Westberlin war. Dieses Unterfangen ist komplex und sprengt den Rahmen einer einzelnen Ausstellung. So wäre der von Lars Bang Larsen kuratierte Teil über die Rolle der Documenta als Brückenkopf im Kalten Krieg eine eigene Schau wert gewesen, auch wenn ihn die Fragen nach dem Verhältnis zwischen der abstrakten Kunst und dem kulturellen Hegemonialanspruch der westlichen Welt durchaus mit Julia Voss’ Arbeit zur Gründungsgeschichte verbindet. Eher unverbunden dazu ist das Kapitel der Historikerin Dorothee Wierling, die sich mit dem Bildungsanspruch der Documenta auseinandergesetzt hat. Die Ausstellung im DHM will zu viel. Eines jedoch wird überdeutlich und macht die Schau in jedem Fall sehenswert: wie politisch die vermeintlich unpolitische Kulturinstitution Documenta von Beginn an war, wie sehr sie die Widersprüche der Bundesrepublik, zwischen freiheitlichem Aufbruch einerseits und Kontinuität der Täter andererseits, gespiegelt hat. Eine Kunstgeschichte Deutschlands nach 1945 kommt an ihren Erkenntnissen nicht mehr vorbei.
„Documenta. Politik und Kunst“,
Deutsches Historisches Museum, Berlin,
bis 9. Januar 2022