Marc Brandenburg im Palais Populaire

Ansichten eines Punks

Das Palais Populaire in Berlin präsentiert in der Ausstellung „Hirnsturm II“ die positiv-negativ-verkehrten Motive von Marc Brandenburg

Von Tim Ackermann
09.07.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 186

Mit der Bedeutung von „Positiv“ und „Negativ“ und ihrer Verkehrung ins Gegenteil machen wir gerade alle unsere Erfahrungen. Das nur vorausgeschickt, weil man diese beiden Wörter derzeit häufig hört. Wenn aber Marc Brandenburg seine Motivfotos am Computer durch Invertieren vom Positiven zum Negativen wandelt und freihändig abzeichnet, wenn dadurch schwarze Flächen weiß erscheinen und weiße Partien schwarz, dann hat das selbstverständlich nichts mit der Pandemie zu tun. Vielmehr beweisen seine Werke, dass der Künstler schon immer eines wusste: Nichts steht im Leben fest, und mit dem gewohnheitsmäßigen Wegsortieren der Dinge in Schubladen geraten wir auf den Holzweg. Stattdessen bietet Brandenburg uns eine alternative Sicht auf die Welt an, die uns vielleicht zuerst verunsichert, dann aber unseren Blick extrem öffnet. Da zudem Soziologen den schwulen, schwarzen Künstler gleich zwei Minoritäten zuordnen würden, macht man leicht den Fehler, seine Zeichnungen als Lebensbilderbuch misszuverstehen. Doch Brandenburg erklärt, dass seine Arbeiten kaum direkte biografische Bezüge haben. Was also sieht man in seiner Schau?

Im zentralen Saal zeigt ein Blatt an der Eingangswand den Künstler vor einem Fenster. Die lange Nase eines Pinocchios wächst aus seinem Gesicht. Auf der kleineren Zeichnung darüber ist ein nackter Mann im Gebüsch zu sehen, lediglich mit Goldkettchen und Hasenmaske bekleidet. Vor einer anderen Wand blickt man auf eine Frau in Tracht. Ein Fußballfan ist in Deutschlandfahnen gehüllt. Dazu ein Bild von Michael Jackson, dem „King of Pop“ – ein schwarzer Musiker, dessen Haut hell wurde. Der Ausstellungssaal ist in Schwarzlicht getaucht, was allen Werken einen geisterhaft-bläulichen Farbton verleiht, aber auch die Bühnenhaftigkeit der Situation betont.

Marc Brandenburg Palais Populaire
Verkehrte Welt: Marc Brandenburg wendet seine Motive ins Negativ wie in seinem „Stress reliever 1“ (2018) und blockiert so das Schubladendenken. © Marc Brandenburg

Brandenburgs Kunst thematisiert das Maskenspiel, das Verbergen und Enthüllen, den kreativen Umgang mit Rollen. Diese zu begreifen und neu zu erfinden, dazu diente ihm das Zeichnen schon früh. „Die Feststellung, dass Persönlichkeit, Identität nichts Festes sind, dass man damit experimentieren kann, war eine Befreiung oder zumindest ein Freiheitsversprechen“, sagt der Künstler im Gespräch mit der Kuratorin Sara Bernshausen und dem Journalisten Oliver Koerner von Gustorf. Das Interview im exzellenten Ausstellungskatalog berichtet auch von der Gewalt, die der 1965 geborene Sohn einer weißen Berlinerin und eines GIs später durch seinen (schwarzen) Stiefvater erlitt. Aus diesen Erlebnissen heraus bezeichnet Brandenburg das Zeichnen als „Bannung“.

Die Berliner Punkszene der Siebziger- und Achtzigerjahre hat ihn geprägt. Punk ist die selbst gewählte Außenseiterrolle, aus der sich die Gesellschaft hervorragend beobachten lässt. Und wenige beobachten so genau wie Brandenburg. Die Bilder der Stadt brausen an zum „Hirnsturm“: Zeichnungen von schlafenden Obdachlosen, verborgen unter Decken, hängen kommentarlos neben Ansichten von bürgerlichen Interieurs der Jahre 1910 bis 1930. Hare-Krishna-Anhänger und Schüler-Demos ziehen vorbei. Tätowierte Hakenkreuze, homophobe Graffiti und die Labels von Luxusmarken blitzen auf. Feuerwerk explodiert. Der Künstler streift durch den Tiergarten, einen Cruising-Ort.

Seit immerhin fast 30 Jahren registriert Brandenburg solche Szenen der Stadt mit unermüdlichem Auge, klarem Kopf und sicherer Hand. Vielleicht haben wir seine Haltung des beharrlichen Hinterfragens nie so sehr gebraucht wie jetzt.

Service

AUSSTELLUNG

„Marc Brandenburg: Hirnsturm II“

Palais Populaire, Berlin

bis 23. August 2021

Zur Startseite