Ein prallvoller Kunstsommer beginnt: Im Juli gibt es russische Impressionen, Tracey Emin im Dialog mit Edvard Munch und die wilde Fauna von Ilna Ewers-Wunderwald
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01.07.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 186
Die Glasbläserinsel Murano war vor Corona ebenso fest im Griff des Tourismus wie das größere Nachbareiland Venedig. Und doch ist originales Murano-Glas beileibe keine Massenware, sondern rar, kostspielig und daher etwas für Kenner. Einer der größten ist der deutsche Sammler Lutz H. Holz, dessen Kollektion bereits vor fünf Jahren in Museen in München und Berlin Furore machte. In Leipzig sind nun seine Stücke der Manufaktur Barovier & Toso aus dem 20. Jahrhundert zu sehen. Und wer Ercole Baroviers blaue Kanne „Effeso“ (1964) betrachtet, der begreift, dass Murano-Glaskunst auch dem fantasievollen, bunten Geist der Sixties auf kongeniale Weise entsprach.
Ende des 19. Jahrhunderts war Farbtüpfelei schwer en vogue – der Wirbel des französischen Impressionismus zog daher auch russische Künstlerinnen und Künstler an. Dass diese am Ende mit anderen Stilen zu Ruhm kamen, tut dem Reiz der Schau keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wer weiß, dass Ilja Repin 1879 Studien für monumentale Historiengemälde im Kopf hatte, spürt den Kontrast zu einem leichtherzigen Bild desselben Jahres, das Repins Familie beim Spaziergang am Feldrain festhält. In Alexej von Jawlenskys Doppelbildnis „Andrei und Katja“ (1905) dagegen deuten sich schon die Formenvereinfachungen an, die wenig später seine expressionistischen Porträts bestimmen.
In der Kunstgeschichte Italiens nimmt die 1939 auf der griechischen Insel Rhodos geborene Laura Grisi eine undefinierte, aber hochspannende Position ein. Bei Werken wie „Subway“ oder „East Village“ (beide 1967) überlagert sie figurativ gemalte Alltagsszenen zum Teil mit reliefartigen abstrakten Formen. Die Mischung aus Malerei und Plastik erinnert an die „Combine Paintings“ des Pop-Art-Künstlers Robert Rauschenberg – obwohl dieser Alltagsgegenstände auf abstrakte Bilder montierte. Das umgekehrte Prinzip also. Grisis Werke passen aber ebenso zur Minimal Art oder zu den seriellen Strukturen der Conceptual Artists.
Lange vor #MeToo gab es schon Tracey Emin. Eine Künstlerin, die Horrorerlebnisse wie eine Vergewaltigung oder durch Männer erlittene psychische Gewalt zur Sprache bringt. In zornigen, traurigen oder auch voll triumphaler Überlebensheiterkeit strahlenden Werken („It – didn’t stop – I didn’t stop“, 2019). Emins Gefühlsoffenheit wird von manchen in der Kunstwelt abgelehnt, die Künstlerin dafür angefeindet. Jetzt, neben Gemälden von Edvard Munch – einem weiteren Gefühlsmenschen – zeigt sich jedoch einmal mehr die pure Kraft ihrer Werke. Munch bewundere sie schon lange, sagt sie. Die Dialogschau gehört, selbst nur im Internet betrachtet, zum Eindrücklichsten, was die Museen gerade bieten.
So wie sich die Kunst beständig erneuert, kennt auch die Spiritualität kein Ablaufdatum. Gottesdienste mögen weniger besucht sein als früher, dafür verlagern sich transzendente Gedanken in andere Bereiche. In Werke der Gruppen Gutai und Zero zum Beispiel, die um die Ideen der Leere, des Nichts und des Beginns kreisen. Oder in Judi Harvests Skulptur „Honey“ (2015) aus Murano-Glas mit Blattgold, die überirdisch schimmert und zugleich auf alte Techniken der sakralen Kunst verweist. Solch zeitgenössische Werke, vor allem aus der Sammlung der Christiane Hackerodt Kunststiftung, konfrontieren nun die Exponate des Hildesheimer Dommuseums mit neuen Erzählungen: So hängt dem imposanten hellen Renaissance-Sandsteinlettner mit dem Bild des auferstandenen Christus ein dunkles und eher fatalistisches Gemälde von Gerd Winner gegenüber. Darauf steht ein Wort: „End“.
Schöner verschnörkelt hat man das Gehäuse eines Einsiedlerkrebses noch nie gesehen. Auch die Ranken der Wasserpflanzen sind herrlich verschlungen. Die Zeichnung „Einsiedlerkrebs“ von 1953 beweist, dass Ilna Ewers-Wunderwald der Ästhetik des Jugendstils bis zu ihrem Lebensende treu blieb. 1875 in Düsseldorf geboren, hatte sie als Zeichnerin und Buchillustratorin vor dem Ersten Weltkrieg großen Erfolg. Mit Kurzhaarschnitt und Zigarette widersetzte sie sich glorios den Erwartungen des Spießbürgertums. Dann geriet sie in den Zwanziger- und Dreißigerjahren leider in Vergessenheit. Doch seit einiger Zeit werden ihre fantasievollen Bilder aufs Neue entdeckt.