Können Möbel politisch sein? Henrike Naumann unternimmt mit ihren unkonventionellen Installationen Tauchgänge in die Geschichte und stellt überraschende Assoziationen her. Das Kunsthaus Dahlem widmet ihr jetzt eine eigene Ausstellung
Von
26.08.2021
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 170
Viele Besucher sind erstmal ratlos. „Sind wir hier in einem Secondhand-Kaufhaus?“, fragt befremdet ein mittelalter Mann seinen Begleiter. Sie stehen in dem riesigen lichtdurchfluteten Ausstellungsraum des Kunsthauses Dahlem, der einst Hitlers Lieblingskünstler Arno Breker als Atelier für seine monumentalen Skulpturen diente. Im Raum verteilt sind mehrere Sitzgruppen und Schränke, biedere schwere Holzmöbel aus den 1930er Jahren, aber auch postmodernes Bad-Taste-Design aus den 1980ern. Dazwischen immer wieder kleine, scheinbar zusammenhanglose Objekte wie etwa eine Milka-Plüschkuh oder eine prominent platzierte Marlboro-Schachtel. In einem wild geschwungenen, silbernen Bilderrahmen läuft ein Video, in dem eine farbige Skizze für einen heroisch-deutschen Festumzug langsam abgefilmt wird. Mit ihrer Möbel- und Objektinstallation „Einstürzende Reichsbauten“ setzt sich die Berliner Künstlerin Henrike Naumann mit der Ästhetik des Dritten Reichs auseinander und spinnt Kontinuitätsfäden bis in die beginnende Helmut-Kohl-Ära. Wer nahm auf solchen Sofas Platz, wer aß von solchen Tellern, wer umgab sich mit diesen Dingen?
Sich auf diese Assoziationsreise einzulassen, erfordert eine gewisse Mitwirkung. Der Blick muss schon einige Male schweifen, um all die Irritationen und Disparitäten im Raum zu erfassen. Naive Freude an skuriller Gestaltung mischt sich hier mit Tauchgängen in die Geschichte, etwa der Auseinandersetzung mit Albert Speers Ruinenwert-Theorie. Es sind seltsam eindringliche Installationen, die die 36-jährige Henrike Naumann aus Möbeln schafft. Aus trashigen Interiorobjekten formt sie hybride Räume, in denen komplizierte Gedanken zur jüngeren deutschen Vergangenheit sich auf neue Weise sortieren und gleichzeitig ästhetisch Spaß machen.
Wer ist diese Künstlerin, die gerade so ein starkes Momentum hat, mit Ausstellungen in Leipzig, Zwickau, Hannover, München, diversen Preisen und freundlichen Besprechungen?
Wir haben uns vor einiger Zeit in ihrem neuen Studio in Berlin-Neukölln getroffen. Die Adresse könnte selbst Ausgangspunkt eines ihrer Projekte sein: Grenzallee, eine dichte Ausfallstraße im Gewerbegebiet an der Nahtstelle zwischen dem früheren Ost- und Westberlin. In der Zentrale des angeschlagenen Schuhherstellers Leiser, einst Marktführer in der Stadt, hat sie mehrere Büroräume angemietet, in denen sie Modelle entwirft und ihre Fundstücke archiviert. Vom Fenster aus sieht man den riesigen Marlboro-Cowboy auf dem Werksdach des benachbarten Zigarettenherstellers, der Ende 2019 den Großteil seiner Mitarbeiter entlassen musste. Es ist eine Gegend der ökonomischen Transformation. Das Alte, das jahrzehntelang von Berlin-Subventionen und tradiertem Konsumverhalten gut lebte, löst sich auf, das Neue ist noch nicht richtig da. Eine Erfahrung disruptiven Wandels, die auch Naumanns frühere Heimat, die DDR, in den 1990er-Jahren machte. Als dort flächendeckend die Betriebe verschwanden, Millionen Menschen arbeitslos wurden und sich teilweise radikalisierten.
Aus diesem Stoff hat sie einige ihrer wichtigsten bisherigen Arbeiten entwickelt, „Triangular Stories“, „Aufbau Ost“, „2000“. Es sind Arbeiten, mit denen sie sich Themen nähert, die sie verstören, die sie durch die Linse der Kunst besser oder überhaupt erst in den Blick nehmen kann. Mit freundlich-offener Zugewandtheit erzählt sie das, während sie den frisch aufgebrühten Tee eingießt. Und dass es oft Themen seien, die einen engen Bezug zu ihrer eigenen Biografie haben.
Geboren wurde Henrike Naumann 1984 im sächsischen Zwickau, aufgewachsen ist sie auf einem Dorf in der Nähe. Die unmittelbare Wende habe sie zunächst nur ästhetisch wahrgenommen, sagt sie, bei ihr zu Hause – im Haushalt ihres Stiefvaters, eines Dorfpfarrers – waren kaum große Veränderungen zu spüren, sogar die alten Holzmöbel blieben stehen. Aber draußen wurde plötzlich alles anders, die Farben und Formen, alles bunter, greller, aufdringlicher. Früh kam bei ihr eine künstlerische Ader zum Vorschein, schon als Kind bastelte sie gern kleine Szenen nach und dachte sich Kostüme aus. Auch familiär ist sie vorbelastet, ihr Großvater Karl Heinz Jakob war in der DDR ein anerkannter Maler, ein „echter Künstler, mit Ölfarbe, rauchend im Atelier“. Die Großmutter verzichtete ihm zuliebe auf eigene künstlerische Ambitionen und wurde Schaufensterdekorateurin. Bei Henrike Naumann, die die Erinnerung an den Großvater 2019 in ihrer Installation „DDR Noir“ verarbeitete, fügt sich nun beides zusammen, wie sie amüsiert feststellt: „Jetzt arbeite ich mit ihren Medien – Vorhängen, Einrichtungsgegenständen –, und es ist trotzdem Kunst.“
Mit Anfang zwanzig geht sie nach Dresden, um dort Bühnen- und Kostümbild zu studieren. „Als ich meiner Oma erzählte, dass ich mich an der Kunsthochschule bewerbe, war sie ganz erleichtert, dass ich was Anständiges mache.“ Zwei Jahre später, 2008, wechselt sie an die Filmhochschule Potsdam-Babelsberg, um dort Szenografie zu studieren. Das behütete, monatelange Vor-sich-hin-Basteln an Pappmodellen in Dresden war ihr auf einmal anachronistisch erschienen, ebenso das Theater. An der Filmhochschule war dann weit weniger Zeit zum Nachdenken, „man stand gleich am Set und hat riesige Ziegelwände gebaut“. Im Nachhinein erscheint ihr dieser Übergang geradezu folgerichtig für ihre heutige Tätigkeit: „In Dresden habe ich gelernt, Konzepte zu entwickeln, und in Potsdam, sie schnell umzusetzen.“ Doch auch die Filmausstattung macht Naumann nicht vollkommen glücklich. „Ich fühlte mich immer hingezogen zum Dokumentarfilm.“ Ihre Leidenschaft für dokumentarisches Erkunden und das erlernte Handwerk – u. a. bei Lothar Holler, dem Ausstatter von „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin!“ – vereint Naumann 2012 in einer ziemlich schrägen Diplomarbeit: Sie baut das Jugendzimmer der NSU-Terroristin Beate Zschäpe nach.
Vieles, was heute Naumanns Kunst auszeichnet, ist in dieser Arbeit, „Triangular Stories“, schon angelegt. Der biografische Ausgangspunkt, das politische Augenmerk, die Verwendung von Alltagsfundstücken, die Integration von Filmmaterial, die akribische Recherche. Sie selbst war, als am 4. November 2011 Beate Zschäpe den NSU-Unterschlupf in Zwickau in die Luft jagte, nur einen Kilometer entfernt im Haus ihrer Großmutter. Die Geschichte elektrisierte und bestürzte sie gleichermaßen. „Wie kann jemand aus einer Ideologie heraus in den Untergrund gehen, Morde planen und ausführen? Das überstieg meine Vorstellungskraft.“ Zumal es eine Ideologie war, die in der DDR eigentlich als überwunden galt. Und die dennoch nach dem Mauerfall zu einer Art Jugendkultur im Osten wurde, als auch viele von Naumanns früheren Mitschülern in die rechte Szene abdrifteten. Ihre Rauminstallation von Beate Zschäpes Jugendzimmer vereint dieses Nebeneinander von Teenagerzeit und rechter Radikalisierung: Niedliche Accessoires wie ein Plüschtiertiger oder eine Micky Maus erscheinen als Überbleibsel unschuldiger Kindheitstage, ein CD-Turm in Wolkenkratzeroptik und ein Schreibtischstuhl aus der Möbelhausabteilung „Junges Wohnen“ verorten als Designkolorit die 1990er-Jahre, während eine große Reichskriegsflagge und ein Baseballschläger auf dem Boden das Ungeheuerliche vorwegnehmen. Dazu läuft auf einem kleinen Röhrenfernseher ein verwackeltes VHS-Homevideo, das so wirkt, als wäre es in den Trümmern des Hauses gefunden worden. Es zeigt das NSU-Trio als Jugendliche im Jahr 1992, dargestellt von Schauspielstudenten.
Damals sah sich Naumann noch eher als Regisseurin, vielleicht als Medienkünstlerin, die sich mehr um Teilnahmen an Kurzfilmfestivals bemühte als um eigene Ausstellungen. Das änderte sich 2016 mit „Aufbau Ost“, ihrer ersten größeren Einzelausstellung in der kommunalen Galerie Wedding in Berlin. Mehrere solcher Jugendzimmer sind hier zu sehen, inspiriert von Bildern auf rechten Facebook-Profilen. Was von außen wie ein sozialer Möbelladen aussieht, in dem man abgewohnte Einrichtungsgegenstände entsorgt, entpuppt sich im Innern als neonazistisch kodierte Wohnwelt, in der zwischen Pressspanmöbeln und buntem Design-Tinnef „Wir sind das Volk“ in Frakturschrift an der Wand prangt. Der Raum schafft so ein einprägsames Bild für den Umschlag von enttäuschten Erwartungen und allgemeiner Entwurzelung in Hass und Gewalt. Bewegt man sich in ihm, ändern sich die Sichtachsen, spaltet sich die Erzählung auf. Auf diese Weise kann man, so Naumann, „über Themen anders sprechen, anders nachdenken, als man das herkömmlich macht“.
„Aufbau Ost“ heimste viel Anerkennung ein, rief aber parallel – als vermeintliche Ästhetisierung der Nazi-Szene – Widerspruch hervor. Solche Irritationen sind Naumann hoch willkommen, eröffnen sie doch einen Raum für Debatten, den sie als essenziellen Bestandteil ihrer Arbeit ansieht. „Es gibt Leute, die gehen in meine Ausstellungen und sagen: Das war jetzt witzig. Andere sagen: Sie haben geweint, weil es so traurig war. Es ist ja auch beides. Ich versuche, alles in einen Raum zu kriegen, die Komplexität von Gefühlen und von Gesellschaft gleichzeitig erfahrbar zu machen.“
Die Neunzigerjahre bilden auch den Fixpunkt ihrer ersten Museumsausstellung 2018 in Mönchengladbach. Unter dem Titel „2000“ verknüpft sie dort die ökonomischen Abrissarbeiten im Osten und deren soziale Folgen mit der Selbstfeier des neoliberalen Deutschland auf der Weltausstellung 2000 in Hannover. Die Pointe dabei ist, dass in der Person der ehemaligen Treuhandchefin und späteren Expo-Generalkommissarin Birgit Breuel beide Ereignisse historisch miteinander verschmelzen. Und dass die pompöse, angeblich auf Innovation und Nachhaltigkeit setzende Expo-Architektur heute einen genauso ruinösen, vor sich hin vegetierenden Eindruck macht wie die Industrielandschaft im Osten nach der Wende. Die Expo-Versprechen haben sich als genauso hohl erwiesen, wie Helmut Kohls „blühende Landschaften“. Aus dem deutschen Pavillon wurde statt eines Schwimmbads eine Notunterkunft für Geflüchtete, heute steht er leer. Für diesen Widerspruch von Show und Realität, Schein und Sein hat Naumann eine originelle künstlerische Form gefunden: Ausgehend von der postmodernen Architektur des Museums Abteiberg mit seinen funktionslosen Zacken und spiegelnden Oberflächen suchte sie auf Ebay-Kleinanzeigen mittels Stichworten wie „besonders schön“ oder „super Design“ nach billigen Möbel-Ausprägungen dieser von der Memphis-Bewegung ausgehenden Designmode. Dabei fand sie merkwürdig aus der Zeit gefallene Sideboards, die in sinnlosen architektonischen Spielereien schwelgen (und bei ihr als „Traueraltar Deutsche Einheit“ eine neue humoristische Dimension bekommen), seltsam anthropomorphe Garderobenständer, vor denen sich kleine Kinder gruseln würden, oder mit Flokati befellte Hocker, auf denen kein Mensch sitzen möchte. Zusammen ergibt das eine surreale Atmosphäre, die signalisiert, dass hier nicht nur in der Formensprache etwas gehörig aus dem Ruder gelaufen ist. Was das sein könnte, vermitteln die von ihr in Möbel und Objekte eingebetteten Audio- und Videoaufnahmen, die etwa vom Streik der Kalikumpel im thüringischen Bischofferode berichten oder der islamistischen Selbstaufputschung des Rappers Deso Dogg. In den harmlos skurril aussehenden Settings, die an die Ausstellungsräume riesiger Möbelhäuser denken lassen, verbirgt sich so eine eminent politische Botschaft.
Henrike Naumanns künstlerische Methode kann aber auch anderen Themen als DDR-Erbe und Ost-West-Problematik frische Perspektiven abgewinnen. Das kann man nun im Südwesten Berlins erleben, so wie zuvor in der Ausstellung „Ruinenwert“ im Haus der Kunst in München, aus der vieles im Kunsthaus Dahlem übernommen wurde. Gefühlt hat man über Hitler und die Nazizeit schon alles hundertmal gehört und gesehen. Doch Naumanns Rauminstallation „Ruinenwert“ schafft es, neue Assoziationsketten zu bilden. Die Künstlerin hat die große Halle des Berghofs reinszeniert, Hitlers Rückzugsort in den Berchtesgadener Alpen. Sie hat dafür Originalmöbel des Ateliers Troost, das die Innengestaltung des Berghofs verantwortete, aus dem Keller des Museums geholt, sich mit dem Leben und der Arbeitsweise der Innenarchitektin Gerdy Troost beschäftigt, die damals so alt war wie sie und zu Hitlers Hofstaat gehörte. Sie ist dem Barbarossa-Mythos nachgegangen, der reichsstiftenden Erzählung vom Führer und Erlöser, der in den Bergen schlummert. Sie hat recherchiert, wie Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann den Diktator auf dem Berghof als gutbürgerlichen Staatsmann inszenierte, der so ausländische Besucher über seine wahren Absichten täuschen konnte und der Vogue sogar eine Homestory wert war. All das schwirrt in diesem Raum wie ein blitzschnell geschnittener Gedankenstream und stößt sich immer wieder an der spießig-behaglichen Gemütlichkeit des überdimensionierten Raums, in dem Ebay-Fundstücke das Alpenpanorama simulieren.
Es ist eine Arbeit, mit der Henrike Naumann zu neuen Ufern aufbricht, der als Nächstes eine Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Nachkriegszeit folgen sollte. Wir dürfen gespannt sein.
„Henrike Naumann: Einstürzende Reichsbauten“
Kunsthaus Dahlem, Berlin
bis 28. November 2021