Im neuen Hans Christian Andersens Hus in Odense werden die Geschichten des dänischen Schriftstellers lebendig, wenn Feder und Tintenfass zum Publikum sprechen
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03.09.2021
Der Redeschwall der Erbse ist nicht zu bremsen. Kaum beugt man sich mit seinem Kopfhöher dem roten Samtkissen entgegen, auf dem die kleine Gemüsekugel liegt, da fängt sie schon an, einem das Ohr vollzuquatschen: Dass sie der wahre Star jener Geschichte sei, die man als „Die Prinzessin auf der Erbse“ kenne, die aber besser bloß „Die Erbse“ heißen sollte. Und dass sie wirklich die echte Originalerbse sei. „Die anderen Museen besitzen nur Kopien“, behauptet sie.
Das mit der Echtheit ist schon deshalb zweifelhaft, weil die Erstpublikation von Hans Christians Andersens Märchen fast zwei Jahrhunderte zurück liegt, und die Lebensdauer einer Hülsenfrucht damit weit überschritten ist. Auch wirkt hier die ganze Szenerie auf dubiose Weise überkandidelt, mit der Erbse auf dem roten Samtkissen und dem pompösen Stapel wildgemusterter Matratzen daneben. Doch das ist Absicht, verrät Kreativdirektor Henrik Lübker: „Immer wenn die Präsentation kitschig wird, heißt das, dass man den Erzählungen nicht vollständig trauen sollte.“
Willkommen also im neuen Hans Christian Andersens Hus in Odense, wo einem manche Exponate schamlos die Hucke volllügen. Was soll man in einem Haus der Märchen anderes erwarten? Die fantasievoll-spielerische Inszenierung der Inhalte entspricht einer Museumsarchitektur, die immer wieder neue Perspektiven bietet: Denn die vom Japaner Kengo Kuma in hellem Holz errichteten und unterirdisch miteinander verbundenen Pavillons bieten keine Ecken und geraden Kanten, sondern viele sanfte Kurven, denen Blicke und Schritte folgen. Ebenso mäandern die Pfade des umgebenden Gartens bis auf das Dach des Gebäudes und ins Untergeschoss hinab. Die Grenzen zwischen Draußen und Drinnen, Natur und Kunst, Realität und Fiktion vermischen sich.
Dieses für mehr als 50 Millionen Euro gestaltete Abenteuerreich scheint extrem fern von der Strenge und Enge jenes kleinen gelben Hauses, das 1805 wohl der Geburtsort des berühmtesten dänischen Schriftstellers war. Und doch ist jenes alte Fachwerkhaus am Ende der Straße, das seit 1908 als Museum diente, nun an den Neubau angeschlossen und hat Kuma auch offensichtlich bei seinen Holzkonstruktionen inspiriert.
Henrik Lübkers Wunsch war es, den Geist eines verstaubten Kulturmuseums durch modernste Technik auszutreiben. „Wir wollen nicht über Andersen sprechen, sondern das Haus soll durch ihn sprechen, mit seiner Stimme.“ Das Artefakt hat dabei keineswegs ausgedient: Der Reisekoffer des Dichters wird genauso gezeigt, wie seine Briefe, einige Zeichnungen, die er im Italienurlaub anfertigte oder eine Auswahl seiner kostbaren, künstlerischen Scherenschnitte. Nur wird die besondere Aura dieser Exponate nicht unbedingt durch das abschirmende Sicherheitsglas verstärkt, sondern durch die Tatsache, dass sie – per Sensor animiert – das Wort in die Kopfhörer des Betrachters richten.
Hier streiten sich Feder und Tintenfass wie in der gleichnamigen Andersen-Geschichte, wer den größeren Anteil am genialen Schriftenwerk beisteuert. Dort wird in einer Vitrine der aufmüpfige Rosenkranz des Dichters, der stolz auf seine spanische Herkunft verweist, vom Chor der anderen Exponate gemäß den neuesten Recherchen zurechtgewiesen: „Blödsinn, du wurdest doch in der Schweiz gekauft!“ Je nach Laufweg des Betrachter werden ihnen immer wieder neue Geschichten ins Ohr geflüstert. „Die Alltagsdinge erwachen auf magische Weise zum Leben, wie in den Märchen von Andersen“, erklärt Lübker.
Es muss Spaß gemacht haben, einen Parcours zu entwerfen, der vor verrückten Einfällen überquillt: Im „Dunklen Garten“ beispielsweise hat Lübker nur Nadelbäume anpflanzen lassen, die besonders krumm gewachsen sind. Der verspielte Charakter des Museums offenbart sich nochmal besonders deutlich im Untergeschoss, wo die Besucher in verschiedenen Multimedia-Installationen eingeladen sind, selbst an Andersens Märchenwelt teilzunehmen. Sie können dem kleinen Mädchen helfen, ein wärmendes Schwefelholz anzuzünden oder sich wie der eitle Kaiser ein paar neue, nur virtuelle Kleider über den Leib legen lassen – zum Amüsement der Zuschauer auf der anderen Seite des Spiegels. Ein Film aus der Blickperspektive des standhaften Zinnsoldaten verdeutlicht, wie es sich anfühlt, plötzlich aus seinem gewohnten Leben gerissen zu werden. Auch die kleine Meerjungfrau und das hässliche Entlein haben selbstverständlich ihre Auftritte in interaktiven Filmprojektionen.
Bedingt durch die Corona-Pandemie befindet sich das neue Museum bis zum 30. September in der Phase des „Soft Openings“, was bedeutet, dass bei 50 Prozent reduziertem Ticketpreis nicht alle Bereiche zu sehen sind. Der Garten ist bisher noch mehr Baustelle, als dass er erblüht ist. Und beim Besuch funktionierte an machen Stellen die Technik nicht richtig. Auch ist es bedauerlich, dass die so essentiellen Kopfhörer bisher nur in den Sprachen Dänisch, Englisch und Chinesisch zur Verfügung stehen. Das Budget reichte nur für die drei Varianten aus, eine deutsche Version ist aber laut Lübker in Planung. Es bleibt, für den Moment, ein Ausstellungshaus, das sein Potenzial noch nicht vollständig ausreizt. Doch wenn man am Ende des Rundgangs durch die alte Ruhmeshalle läuft, die die Stadtväter in den Dreißigerjahren für den Dichter neben dessen Geburtshaus errichtet haben – ein Mini-Pantheon mit kitschigen Wandmalereien – dann begreift man auf einen Schlag, wie sich die didaktischen Ansprüche an Museen gewandelt haben. Und wie genau man in Odense die Zukunft im Blick hat.