Die Künstlerinnen der konkreten Abstraktion waren lange marginalisiert. Im Kunstmuseum Stuttgart wird ihr Beitrag nun endlich gewürdigt
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07.09.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 189
Der Zürcher Schallplattenladen City Discount war in den Sechzigerjahren eine Institution. Seine Besitzerin Verena Loewensberg bediente eine nach dem Avantgardesound hungrige Stammkundschaft mit neusten Jazzproduktionen aus Paris und New York. Doch nur die wenigsten von ihnen wussten damals, dass die Szenekennerin zu Hause an ihrem Schreibtisch mit Farbkontrasten, Streifenkombinationen, Quadraten und dynamisierten geometrischen Formen experimentierte. Ihr wahres Metier war die konkrete Kunst, die seit Theo van Doesburgs Manifest von 1930 die Naturnachahmungen ablehnte und die Konzentration auf mathematisch begründete Formen und reine Farbe zum Konzept erhob. Loewensberg spielte das seit 1936 in unzähligen Varianten durch. Sie arbeitete mit großen Farbblöcken, passte Kreise in Vierecke hinein und irritierte mit bunten, verzerrten Kachelfeldern die Sinne des Betrachters. Zürich war nicht zuletzt durch Max Bill ein Hot Spot dieser angeblich emotionslosen, rationalen Strömung. Verena Loewensberg gehörte bis zu ihrem Lebensende im Jahr 1986 fest dazu. Die Kunstgeschichte meinte es gut mit ihr. Zumindest das Werk dieser Konkreten ist heute relativ bekannt.
Aber sie war nicht die einzige Künstlerin in Europa, die sich von der streng normierten Kunstrichtung intellektuell und geistig herausgefordert fühlte. Das Kunstmuseum Stuttgart lenkt in seiner aktuellen Ausstellung „Zwischen System & Intuition: Konkrete Künstlerinnen“ erstmals einen komplexeren Blick auf den weiblichen Beitrag zur konkreten Kunst, die immer noch als Liga der Männer gilt. Zwischen minimalistischen konstruktiven Papierarbeiten einer Marcelle Cahn und kraftvoll gemalten Farbrhythmen einer Aurelie Nemours, zwischen Op-Art-Anklängen bei Geneviève Claisse und plastischen Innovationen der Brasilianerin Mary Vieira folgt die Ausstellung den Ausdrucksformen von insgesamt zwölf mehr oder weniger vergessenen Akteurinnen und Pionierinnen dieser Richtung. „Es ist Zeit, die bemerkenswerten Leistungen all dieser Frauen ans Licht zu holen“, sagt Ausstellungskuratorin Eva-Marina Froitzheim.
Variationen über ein Thema ist die Basisarbeit der konkreten Kunst. Schon 1938 hatte Max Bill geäußert, dass Kunst keine Lösungen bereithalte, sondern nur an Möglichkeiten arbeite. Vera Molnár hatte noch eine andere Sicht. In jedem perfekten System steckt „1 Prozent Unordnung“, so die heute 97-jährige Wahlpariserin. In ihren Zeichnungen und Gemälden sucht sie den gesteuerten Zufall. Prozesshaft führt sie in Sequenzen die Metamorphosen von Anordnungen vor. Ästhetisch kann das ein Vergnügen sein, wie die Arbeit „Interstices“ zeigt, die 1985 bis 2019 entstand. Jedes der 25 roten Quadrate bringt durch minimal andere, partielle Überlagerungen mit weißen Quadraten ein anderes Bild hervor. Hinter dieser Arbeitsweise steckt ein algorithmisches Denken. Und in der Tat, Vera Molnár träumte schon früh von einer machine imaginaire, die man programmieren kann. Als in den 1960er-Jahren Computer in den großen Rechenzentren zu arbeiten begannen, war sie eine der Ersten, die mit dieser Technik experimentierten.
Vera Molnár, Verena Loewensberg und auch die Österreicherin Lily Greenham, die ihre ausgetüftelten Quadratsysteme eine Zeit lang mit zyklisch wechselnden, farbigen Glühbirnen hinterlegte und so über „Wandel und Bewegung“ reflektierte, gehören bereits zur zweiten Generation der konkreten Künstlerinnen. Vor ihnen waren Sophie Taeuber-Arp und Sonia Delaunay Teil der Avantgarde. Jeder Zeit ihre Kunst: Das trifft auch für die Konkreten zu. Die Arbeiten der Pionierinnen sind offensichtlich weniger systemisch. Mit abstrakten Formen suchten sie ähnlich wie Wassily Kandinsky oder Paul Klee in ihrer Arbeit nach dem Unbekannten und Unaussprechlichen. Wie ein Kryptogramm aus Kreisen, Winkeln und fragilen Linien komponierte Taeuber-Arp 1932 ihre Gouache „Quatre espaces à croix bleue brisée“. Und mithilfe von Kreissegmenten und Quadraten in komplementären Farben erzählte ab den 1940er-Jahren Sonia Delaunay vom Zusammenspiel ungeahnter Kräfte in ihren fast majestätischen Gemälden.
Taeuber-Arp und Delaunay haben inzwischen ihren festen Platz im Kanon der Moderne. Umso wichtiger, dass die Ausstellung die anderen, kaum gewürdigten Künstlerinnen aus der Dunkelzone befreit. Fern von theoretischen Konzepten, ganz der Wirkung abstrakter Formen folgend hat die Autodidaktin Clara Friedrich-Jezler ihre Reliefs und geschichteten Bilder bis etwa 1945 gefertigt. Es ging ihr um die Darstellung von Räumlichkeit mit Mitteln der Malerei, ohne auf die Technik der Perspektive zurückzugreifen. 1938 war sie bei der epochalen Baseler Ausstellung „Neue Kunst in der Schweiz“ vertreten. Als nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurde, dass ihr Ehemann für die Annäherung der Schweiz an Hitler-Deutschland plädiert hatte, wurde sie von der Kunstszene ignoriert. Max Bill schwärzte sogar ihr Gesicht auf gemeinsamen Fotos.
Vergessen geht schnell – das trifft auch auf das Werk der Avantgardistin Katarzyna Kobro zu. Beeinflusst vom Suprematismus schuf die Polin in den 1920er-Jahren Plastiken und rhythmisch akzentuierte Raumkompositionen. Kobro und ihr Ehemann, der Maler Władysław Strzemiński, standen in engem Kontakt zu Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp und zur westlichen abstrakten Szene. Ende der 1930er-Jahre lösten sich die Verbindungen. Als die Künstlerin 1951 in Lodz starb, war sie aus dem Blick geraten und ihr Werk zum Teil zerstört. Aber auch Kobro hat konkrete Nachfolgerinnen: Auf der dritten Etage der Ausstellung signalisieren Charlotte Posenenskes Plastiken der Sixties aus knallgelb lackierten Blechen und verzinkten Vierkantrohren, dass in den Modulen unserer industrialisierten Welt die Kraft zu künstlerischer Kommunikation steckt.
Hinter den Geschichten über die weibliche Seite des Quadrats steckt noch eine andere. Es gab bemerkenswert viele Galeristinnen, die sich dem Konkreten widmeten und das Potenzial der Künstlerinnen früh erkannten. Dass Vera Molnár aktuell ihren Bekanntheitsradius erweitert, ist auch der Ladenburger Galeristin Linde Hollinger zu verdanken. Und Denise René aus Paris nahm 1966 Marcelle Cahn und später Geneviève Claisse unter Vertrag. Der Markt hat damals vor allem an die Kunst von Männern geglaubt. Aber wie wir wissen, ist bekanntlich nichts auf ewig festgeschrieben.
„Zwischen System & Intuition: Konkrete Künstlerinnen“
Kunstmuseum Stuttgart,
bis 17. Oktober 2021