Himmelsscheibe von Nebra

Sternstunde der Menschheit

In Halle zeigt eine Ausstellung rund um die Himmelsscheibe von Nebra, wie die Bronzezeit das Firmament als Kalender nutzte und kultisch verehrte

Von Simon Elson
06.10.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 190

Schaut man zum ersten Mal auf die gut 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra, stellt sich ein gemütlicher Reflex ein. Man glaubt, ein naiv gestaltetes Objekt vor sich zu haben. Sonne und Mond, in Gold auf einer Bronzescheibe angebracht – dazu goldene Sterne, die man leicht zählen kann. „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“, singt innerlich das Kinderlied. Und man fühlt sich richtig schön in diese bislang älteste bekannte Darstellung des Himmels ein – und in eine menschliche Gemeinschaft, die sich damals in der Mitte Europas ans poetische Schmieden machte.

Die zu der Zeit dunkel polierte und nicht wie heute grün angelaufene Bronze – eine menschheitsgeschichtlich revolutionäre Legierung aus Zinn und Kupfer – wurde mit Hammerschlägen kunstvoll von der ursprünglichen Größe von 15 bis 20 Zentimetern auf die heutigen 32 Zentimeter gebracht. Darauf stückte man hauchdünn Goldgestirne in feine Vertiefungen. Wollten die Schöpfer der Scheibe mit diesem Wunderbild in einer harten und gefährlichen Welt, die von Bären, Wölfen und Auerochsen, brutalen Kriegern und mächtigen Göttern beherrscht wurde, ein edles Objekt der Ruhe schaffen?

Diese liebliche Vorstellung geht an allem vorbei, was man bislang über die Scheibe weiß. Denn ihr naiv vereinfachender Charakter sollte Klarheit in der Beobachtung erzeugen. Dank ihr war man in der Lage, die sieben gehäuften Sterne – die berühmten Kalendersterne der Plejaden – mit der Dicke der Mondsichel abzugleichen und so ein mögliches Schaltjahr zu bestimmen. Auch um 2000 vor Christus waren die Plejaden nur vom 17. Oktober bis zum 10. März am Himmel sichtbar, ihr Auf- und Abtauchen markierte Anfang und Ende des bäuerlichen Jahres. Gleichzeitig weist die Anordnung des Siebengestirns zu der etwa viereinhalb Tage alten Mondsichel eben auf eine Konstellation am Himmel, die das Schaltjahr anzeigt.

Als kalendarischer Kompass sicherte die Scheibe Orientierung. Mit ihr konnte man die geheimnisvolle Abfolge von Sonnen- und Mondjahr durchschauen – in diesem Sinne ist die runde Form in der Scheibenmitte gleichzeitig als Sonne und als Vollmond zu lesen. Später wurden die sogenannten Horizontbögen am Rand hinzugefügt, die Sonnenwenden im Frühjahr und im Herbst markieren. Auch das schiffartige Element ganz unten ist dazugekommen, die bronzezeitliche Idee illustrierend, ein Schiff würde die Sonne über den Himmel ziehen. Zudem wurde die Scheibe am Rand durchgehend gelocht, vermutlich um sie auch größeren Gruppen zu zeigen oder wie eine Standarte voranzutragen. Schließlich hat man das kostbare Objekt um 1600 vor Christus zusammen mit Schwertern, Armschmuck, Beilen und einem Meißel im Erdboden versenkt – ein Depot, das eigentlich als Göttergabe gedacht war. Doch für unsere Zeit hat es die Funktion eines Geschichtsarchivs entwickelt.

Die »Himmelsscheibe« ist ein Neologismus der ersten Bearbeiter, unter ihnen Harald Meller, Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle sowie seit 2004 Direktor des dortigen Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie, und benannt nach dem Fundort bei Nebra in Sachsen-Anhalt. Meller hat auch die aktuelle Ausstellung im Landesmuseum verantwortet: „Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte“. Er wirkte bei dem Polizeieinsatz mit, der die 1999 durch Raubgräber entdeckte und durch Hehler weiterverkaufte Scheibe sicherstellte. Samt der zugehörigen zwei Schwerter, Armbänder, Beile und des Meißels wurde die heute mit gut 100 Millionen Euro versicherte Himmelsscheibe zu einem der meisterforschten Objekte jüngerer Geschichte und 2013 in den Rang eines UNESCO-Weltkulturerbes erhoben.

Die Himmelsscheibe ist aber nicht nur die bislang älteste bekannte Darstellung des Firmaments. In Bildprogramm und Material wirkt sie heute als das singuläre Wissenszeichen einer mitteleuropäischen Bronzezeit-Kultur, teils auch „Aunjetitzer Kultur“ genannt, die keine schriftlichen Zeugnisse überliefert hat und über die nur wenig bekannt gewesen ist. Die Ergebnisse von mittlerweile rund zwanzig Jahren Forschung, die die Entdeckung der Himmelsscheibe bedingt hat, werden bei der Ausstellung im Landesmuseum in Kooperation mit dem British Museum in London detailliert dargelegt. Mit 400 Exponaten von 50 Leihgebern aus insgesamt 14 Ländern rekonstruiert die Schau eine stark vernetzte bronzezeitliche Welt, präsentiert Funde und Erkenntnisse aus Deutschland, aber eben beispielsweise auch aus Großbritannien, Griechenland oder dem Nahen Osten. Ein Hauptargument ist, dass es damals mächtige Herrscher gegeben haben muss, also Eliten, die Staaten lenken, Armeen befehligen, Handel treiben und reisen konnten – und die auch die Himmelsscheibe hergestellt und verwendet haben müssen: als Symbol von Wissen und Macht.

Himmelsscheibe Ausstellung
Diese Sonnenstandarte aus Jütland wurde vom Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen für die Schau in Halle ausgeliehen. © Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt/Juraj Lipták

So wird eine historische Engführung weiter aufgebrochen, die bis ins 20. Jahrhundert wirkte und die in Europas Mitte um 4000 bis 2000 vor Christus nur wilde Primitivlinge vermutet hatte. Die Schau arbeitet hingegen eine starke und verzweigte Kultur heraus, die vielleicht nicht gleich mit der ägyptischen Pyramiden-Genialität oder der antiken griechischen Hochblüte mithalten kann, aber die doch weitaus mehr ist als nur barbarisch. Es handelt sich um eine frühe Kultur der internationalen Elitenvernetzung durch Materialhandel und den Austausch von Bildsprachen. Das Kupfer für die Himmelsscheiben-Bronze stammt aus den österreichischen Alpen; das Zinn und das Gold aus dem südwestenglischen Cornwall; das astronomische Programm der Schaltjahrbestimmung weist nach Mesopotamien und das später hinzugekommene Schiffssymbol nach Ägypten. Weitere Verweise verlaufen zur südwestspanischen El-Argar-Kultur sowie zur Kultstätte von Stonehenge.

Die Ausstellung präsentiert die meisten der Exponate strahlend beleuchtet vor dunklem Hintergrund, etwa das sogenannte Mold aus Großbritannien, wohl das Kultgewand einer Dame, das normalerweise im British Museum verwahrt und nun erstmals in Deutschland gezeigt wird – dafür bekommen die Briten im Gegenzug die Himmelsscheibe geliehen. Auch ein Goldhut aus Rheinland-Pfalz oder glänzende Schiffchen aus Dänemark wirken dank der gelungenen Präsentation wie Entdeckungen in neuem Licht. Dennoch, der Zauber der Objekte allein bringt einen nicht weit. Man muss viel lesen, sind die Exponate doch nicht nur aufwendig be-, sondern auch durchleuchtet.

Nicht alles wirkt vollständig schlüssig. Denn in der Archäologie sowie der Vor- und Frühgeschichte müssen oft kleine Objekte für große Rückschlüsse herhalten. Prächtige Gräber und Goldgegenstände dürfen gleich auf Eliten verweisen oder bestimmte Waffenarten und -verteilungen auf ganze Armeen. Und so wundert es kaum, dass es in der Vergangenheit auch Debatten gegeben hat, etwa über die Datierung der Himmelsscheibe, die andere Forscher eher in der Eisenzeit verortet wissen wollten. Nur spricht bislang wenig für eine falsche Datierung des Fundes. Der Besucher darf sich also der starken, bisweilen vielleicht etwas zu großen Erzählung einer untergegangenen Kultur hingeben. Und immer wieder wird er vor der Himmelsscheibe landen und sich von ihrem magischen Wissen anfunkeln lassen. 

Service

AUSSTELLUNG

„Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte“,

Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle (Saale),

bis 9. Januar 2022

landesmuseum-vorgeschichte.de

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