Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte der Kollektive. Das Lenbachhaus zeigt nun künstlerische Gruppen aus aller Welt, die eine andere Moderne prägten
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18.10.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 191
Schnee liegt über der Verbotenen Stadt. Verlassen stehen die Paläste und Pavillons im eisigen Wind, der über den leeren Tian’anmen-Platz fegt. Ein Mann streift umher, zieht dann zügig eine Pappe heraus und beginnt zu malen. Mit kraftvollem, expressivem Strich skizziert er am oberen Bildrand die Halle der höchsten Harmonie, in der einst, vor dem großen Zeitenwechsel, der chinesische Kaiser sein abgeriegeltes, gottgleiches Leben lebte. Den größten Teil seines Bildes widmet der Maler der freien, schneebedeckten Fläche, in der ein angedeuteter Weg auf einen orange leuchtenden Fleck hinführt, eine offene Tür und ferne Versuchung von Wärme und Licht. In weniger als einer Stunde ist er fertig, packt schnell sein Bild und die Malutensilien zusammen und schleicht in der Dunkelheit des Abends nach Hause. Er ist müde, es war eine harte Woche in der Fabrik, doch er wird sein neues Bild bald seinen Freunden zeigen, mit ihnen diskutieren, was ein gutes Gemälde ausmacht, und sich ihre neuesten Werke ansehen.
So oder ähnlich könnte das Gemälde „Halle der höchsten Harmonie“ von Zhang Wei im Jahr 1976 entstanden sein. Bald ist es im Münchner Lenbachhaus neben der leuchtenden Landschaftsimpression „Blauer Lotus“ zu sehen, das Yang Yushu Mitte der Siebzigerjahre schuf, ebenfalls auf einem kleinen, selbst hergestellten Malgrund, ebenfalls mit diesem fast groben, dynamischen Strich. Beide gehörten zur Wuming Huahui, der Gruppe ohne Namen, einem losen Kreis von Amateurmalerinnen und -malern, die sich im China der Kulturrevolution gegen den von Maos Staatsführung protegierten sozialistischen Realismus stemmten. Die Geschichte der Wuming-Gruppe ist eine „echte Underground-Story“, erzählt Karin Althaus, Sammlungsleiterin am Lenbachhaus. „Sie malten unter Lebensgefahr.“ Tagsüber arbeiteten sie in Fabriken oder in der Landwirtschaft, sie durften nicht studieren und malten fast ausschließlich en plein air, in Pekings vernachlässigten Parks und Brachflächen. Ihr Sujet war bewusst privat, es ging ihnen, berichtet Aihe Wang, damals selbst als Malerin Mitglied der Gruppe und heute Professorin an der Universität Hongkong, in einem Vortrag zum Thema, um die „Rettung des Privaten“ vor der radikalen Modernität des Mao’schen Kommunismus.
In der Ausstellung „Gruppendynamik. Kollektive der Moderne“ treffen die expressiven, kleinformatigen Stillleben und Landschaften der von 1970 bis 1981 aktiven chinesischen Wuming-Gruppe nun auf Werke anderer Kunstkollektive aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in die Ideen von Sozialismus und Kommunismus noch große Hoffnungen setzten. Die Schau im Lenbachhaus widmet sich gemeinschaftlich arbeitenden Kunstschaffenden aus Pakistan und Indien, aus Brasilien und Argentinien, aus Nigeria und Marokko. Das Ausstellungsprojekt entstand im Rahmen der Initiative „Museum Global“, mit der die Kulturstiftung der Länder ausgewählte Museen ermutigte und förderte, ihre Sammlungen unter die Lupe zu nehmen und den ihnen zugrunde liegenden eurozentrischen Blick auf die Geschichte der Moderne zu hinterfragen. Herausgekommen ist dabei etwa die Neubetrachtung der Sammlung im Hamburger Bahnhof in Berlin, die 2018 unter dem Titel „Hello World“ in einer groß angelegten Schau moderne Werke am Rande oder jenseits des westlichen Kanons würdigte.
Für das Lenbachhaus war der erste und naheliegende Schritt in diesem Projekt, sich die Geschichte des Blauen Reiters neu anzusehen, von dem das Haus die weltweit größte Sammlung besitzt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist seit März dieses Jahres sichtbar. Die umfassende Neuhängung unter dem Titel „Gruppendynamik. Der Blaue Reiter“ legt den Fokus auf das gemeinschaftliche Arbeiten der Pioniere der Moderne und hinterfragt somit explizit und implizit die Idee des Künstlers oder der Künstlerin als Einzeltäter. Auch rückten bislang wenig beachtete Künstlerinnen der Gruppe ins Licht der Aufmerksamkeit, wie Elisabeth Epstein oder Maria Franck-Marc, die Ehefrau von Franz Marc, von denen das Haus ebenso neue Werke erwerben konnte wie von Wilhelm Morgner. Sein im Almanach „Der Blaue Reiter“ abgebildetes Gemälde „Ziegelei“ ist jetzt erstmals in München zu sehen und fasziniert in seinem Grenzgang zwischen ornamentaler Linienführung und sozialem Realismus.
Die Ausstellung „Kollektive der Moderne“ baut nun auf dieser Revision der Sammlung auf und erweitert den Blick global. Dabei durchliefen die Ausstellungsmacherinnen und -macher – passend zum Thema selbst ein Kollektiv – wichtige Lernprozesse, wie Karin Althaus berichtet. Etwa als sie die Werke der chinesischen Wuming-Gruppe erstmals auf der Art Basel sah. Sie und der Museumsdirektor Matthias Mühling waren „irritiert davon und konnten sie nicht einordnen“, erzählt die Kuratorin. „Die erste Reaktion war: Das sieht ja aus wie früher Blauer Reiter.“ Erst im Laufe der Recherchen wurde ihr klar, dass die Kunst der Wuming Huahui eine ganz eigene, von der europäischen Moderne unabhängige Antwort auf das kommunistische China war. Zwar kannten die Wuming-Künstlerinnen und -Künstler etwa das Werk Wassily Kandinskys, doch standen ihnen nur Schwarz-Weiß-Abbildungen zur Verfügung, sodass sich die Farbwelt der Wuming Huahui völlig eigenständig von der fernen Inspiration aus Europa fand. Ihre Pleinairmalerei hat ihre Wurzeln in der traditionellen chinesischen Landschaftskunst und ist zudem durch die Repression des Regimes der Kulturrevolutionäre bedingt, die den individuellen Ausdruck brutal zu unterdrücken suchten und die Künstlerinnen zum Ausweichen ins Freie zwangen.