Der New Yorker Künstler Tom Sachs zündet ein furioses „Space Program“ in den Hamburger Deichtorhallen
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09.11.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 192
Jeff Bezos und Richard Branson sind bereits ins All geflogen. William „Captain Kirk“ Shatner wurde auch in den Weltraum geschossen. Und Tom Cruise hat ebenfalls seinen Willen bekundet, ein Space-Tourist zu werden. Ganz ehrlich: Muss das alles wirklich sein? Warum können die Stars und Superreichen nicht einfach in die Hamburger Deichtorhallen gehen und an Tom Sachs’ „Space Program“ teilnehmen? Auch da gibt es einen VIP-Status, man muss dafür nur ein paar sensible persönliche Daten auf einem Zettel übergeben und mit einer uniformierten Mitarbeiterin den Prozess der „Indoktrination“ durchlaufen. Das Landemodul für die geplante Raumfahrt ist mitten in der Halle aufgestellt und sieht wirklich klapprig aus. Kein Wunder, besteht es doch zum größten Teil aus Sperrholz, Schrauben und Heißkleber. Wobei schon klar ist, dass diese Mission nur in der Fantasie abhebt.
Dennoch ist Tom Sachs’ Ausstellung „Space Program: Rare Earths“ absolut sehenswert. Der Kosmos, der sich hier den Betrachtern öffnet, ist dem Gehirn eines echten Nerds entsprungen. Mit unbändiger Detailwut hat der New Yorker Künstler die verschiedenen Stationen einer möglichen Weltraumerkundung nachgebaut. So gibt es für die Teilnehmer Spinde mit Uniformen und weißen Turnschuhen mit passenden Logos. Ein Kontrollraum mit alten Flachbildschirmen und Klappstühlen ist ebenso vorhanden wie ein mysteriöses Schaltelement aus Dosen, Platinen, Klebepistole und Überwachungskamera, über dem ein zusammengeschraubtes Schild gut lesbar „Zündung“ verkündet. Ausnahmslos alles ist ganz offensichtlich Lowtech: Der Mars Rover, den Sachs zum Abbau von Bodenproben konzipiert hat, besteht aus einem ausrangierten Fahrradanhänger und einem Kühlschrank. Und die Bonsai-Kiefer vor dem japanischen Teehaus, das den Mitarbeitern des herausfordernden Trainingsprogramms als meditatives Refugium dient, trägt Nadeln aus Wattestäbchen. Mit Verve vermengt hier der Künstler die perfektionistischen Ambitionen eines echten Raumfahrtprogramms mit der Aura des heimatlichen Bastelkellers. Dass er diese Idee bis zur letzten winzigen Ausformung konsequent durchzieht, macht sein Paralleluniversum umso überzeugender.
Eine Stunde lässt sich spielend in der Schau verbringen, ohne auch nur ansatzweise jeden Knopf, jedes handgekritzelte Hinweisschild betrachtet zu haben. Die Überfülle verdeutlicht, wie lange sich Sachs schon mit der Raumfahrt als manifeste Grenzüberschreitung einer menschlichen Kolonialisierungsfantasie beschäftigt. Sein Landemodul beispielsweise stammt aus einer Galerieausstellung im Jahr 2007, damals war der Mond das Ziel. Danach gab es noch Missionen zum Mars und zum Jupitermond Europa. Jetzt in Hamburg lockt der Asteroid Vesta mit Vorräten an seltenen Erden. Diese Erze brauchen wir für Smartphones. Doch sie werden allmählich knapp auf unserem Planeten.
Hinter der schönen Sperrholzkulisse versteckt Sachs also eine gewisse Portion Konsum- und Technologiekritik. Zu spüren ist das besonders im jüngsten Teilbereich der Schau – der „Transsubstantiation“, aktivierbar per VIP-Pass: Man kann sich hier in eine Röhre legen und seine Aura scannen lassen. Zudem darf, wer will, sein Mobiltelefon abgeben. Dieses wird dann samt SIM-Karte zerstört, und das daraus gewonnene Edelmetall fließt später in ein speziell gegossenes kollektives Götzenbild ein. Die dabei vorausgesetzte Aufgabe des virtuellen Selbst ist die letzte Grenze, die vermutlich niemand leichtfertig überschreiten wird.
„Tom Sachs – Space Program: Rare Earths“,
Deichtorhallen Hamburg,
bis 10. April 2022